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1
Saibatt ffattege llbtaij |
GEORGE MOEEY RICHARDSON,
PROFESSOR IN THE UnivbRSITV OP CALIFO
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VORTRÄGE
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ERSTE SAMMLUNG.
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VORTRÄGE
UND
AEHANDLUNGEN
Von
EDUARD ZELLER.
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ZWEITE AUFLAGE.
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LEIPZIG,
FÜES'S VERLAG (R. REISLAND).
1875.
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Harvard (Joliete Library
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Jutto 29, 18» 7.
J-
Vorwort.
Die kleinen Arbeiten, welche in der vorliegenden Samm-
lung nun zum zweitenmal vereinigt erscheinen, sind zwar zu
1 verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen Veranlassungen
entstanden, aber doch stehen sie mit einander nach Form und
Inhalt in Verwandtschaft. Da sie alle ursprünglich theils Vor-
trägen vor einer gemischten Zuhörerschaft zu Grunde gelegt,
theils solchen Zeitschriften einverleibt wurden, welche auf die
I
Bedürfnisse eines grösseren Leserkreises berechnet sind, so
ergab sich für sie von selbst die Forderung einer gemeinver-
i ständlichen Darstellung und einer übersichtlichen Behandlung
ihrer Stoffe: ihre Hauptaufgabe lag nicht darin, die wissen-
schaftliche Forschung als solche weiterzuführen, sondern die
Ergebnisse derselben in die allgemeine Bildung einzuführen.
Doch gieng ich, soweit es sich ohne Nachtheil für den Haupt-
zweck thun Hess, der Gelegenheit nicht aus dem Wege, auch
für die wissenschaftliche Untersuchung durch eingehendere Be-
leuchtung einzelner Punkte den einen und anderen Beitrag zu
geben. Ihrem Inhalt nach bewegen sich die zwölf Aufsätze,
welche hier zusammengestellt sind , im allgemeinen auf dem
Gebiete der Geschichte, und insbesondere der Religions- und
Kulturgeschichte. Näher jedoch zerfallen sie in zwei Gruppen.
Die erste derselben umfasst diejenigen Darstellungen, welche
sich dem Verfasser aus seiner Beschäftigung mit der Geschichte
*
VI Vorwort.
der Philosophie, die zweite die, welche sich ihm aus seinen
theologischen Studien ergeben haben; den Uebergang von jener
zu dieser bildet die Abhandlung über Schleiermacher, sofern
dieselbe in erster Linie darauf ausgeht, in Schleiermachers
System und in seiner wissenschaftlichen Persönlichkeit jene
eigenthümliche Verbindung des philosophischen Elements mit
dem theologischen zur Anschauung zu bringen, welche für ihn
so bezeichnend und für seine Vorzüge wie für seine Mängel so
entscheidend ist Im übrigen sind alle Abhandlungen der
zweiten Abtheilung der Geschichte des ältesten Christenthums
und seines Stiftei^, und im Zusammenhang damit den Männern,
Richtungen und Schriften gewidmet, welche für die Erforschung
dieser Geschichte in den letzten Jahrzehenden vorzugsweise
Üiätig gewesen sind.
Von den einzelnen Stücken ei-schien Nr, 1, „die Entwick-
lung des Monotheismus bei den Griechen," zuerst unter den
„öffentlichen Vorträgen, gehalten von einem Verein aka-
demischer Lehrer zu Marbiu'g" (Stuttg. 1862). Das freund-
liche Entgegenkommen der Franckh'schen Verlagshandlung
machte es mir mißlich, diesen Vortrag hier mitaufeunehmen,
wiewohl er auch bei ihr, sowohl einzeln, wie als Theil jener
Sammlung, fortwährend zu haben ist. Nr. 2, über Pythagoras,
und Nr. 5, über Mark Aurel, sind Vorträge, welche in Heidel-
bei^ in den Wintern 1862/3 und 1863/4 gehalten wurden.
Nr. 4, über den platonischen Staat, findet sich zuerst in
Sybel's Historischer Zeitschrift (I, 108 ff.); Nr. 6, „WolfTs Ver-
treibung aus Halle," (ein marburger Vortrag aus dem Winter
1861/2) in den Preussischen Jahrbüchern X , 47 ff. ; Nr. 7,
„Fichte als Politiker," im November 1859 zu Marburg vor-
getragen, ist in Sybel's Zeitschrift IV, 1 ff., Nr. 8, „Schleier-
macher", in den Preussischen Jahrbüchern in, 176 ff. (Februar-
heft 1859) abgedruckt; zu der zweiten von diesen Abhand-
lungen gab zunächst die fünfundzwanzi^te Wiederkehr von
Yorwort. vn
Schleiermacher's Todestag Anlass, die erste dagegen gieng der
Jubelfeier vonFichte's Geburtstag um anderthalb Jahre voran,
und steht daher auch, da ich zu erheblichen nachträglichen
Aenderungen keinen Anlass fand, mit den durch dieselbe her-
vorgerufenen Schriften in keiner immittelbaren Beziehung.
Diesen ernsthaften Darstellungen unter Nr. 3 jden Scherz über
Xanthippe (aus dem Morgenblatt f. geb. Les. 1850, Nr. 265 f.)
beizufügen, würde ich wohl Bedenken getragen haben, wenn
demselben nicht immerhin so viel zur Charakteristik des So-
krates beigemischt wäre, dass sich der Wiederabdruck der paar
Blätter immer, noch zu verlohnen schien. Von den vier letz-
ten, nahe zusammengehörigen Stücken, welche ihrem Umfang
nach die grössere Hälfte des Ganzen bilden, ist das erste
(Nr. 9. „das ürchristenthum") zugleich das älteste und das
jüngste dieser Sammlung. So wie es vorliegt, wurde es näm-
lich erst vor zehn Jahren niedergeschrieben, lun den drei fol-
genden zur Einleitung und Ergänzung zu dienen ; es hat aber
zugleich eine ältere Abhandlung aus den Jahrbüchern der
Gegenwart („Aphorismen über Christenthum, ürchristenthum
und Unchiistenthiun" a. a. 0. 1844, Juni, S. 491 ff.) ihrem
ganzen Inhalt nach, soweit ich denselben nach dem heutigen
Stande der neutestamentlichen Kritik noch vertreten zu können
glaube, in sich aufgenommen. Diese Abhandlung war damals
der erste oder fast der erste Versuch, die Ansichten der so-
genannten Tübinger Schule, über welche selbst die theologischen
Kreise noch sehr unvollkommen unterrichtet zu sein pflegten,
über dieselben hinaus bekannt zu machen; und für diesen
Versuch konnten viele von den wichtigsten Werken der Schule
noch nicht benützt werden: Baui-'s Abhandlung über Johannes
war erst theilweise, der Paulus und die Untersuchungen über
die Synoptiker noch nicht erschienen, Schwegler hatte für sein
nachapostolisches Zeitalter noch nicht die Feder angesetzt;
von den späteren Arbeiten Baur's und seiner Schüler und den
r=^
vin Vorwort
Gegenschriften gegen dieselben nicht zu reden. Wenn ich trotz-
dem in der Folge keine stärkeren Abweichungen von den Ansich-
ten nöthig fand, die ich einundzwanzig Jahre früher ausge-
sprochen hatte, und sie auch jetzt nicht nöthig finde, so muss ich
es mir gefallen lassen, dass man diess vielleicht auf der Gegen-
seite als Beweis unsere? wissenschafthchen Stillstands anführe;
ich meinerseits kann dann, wie man gleichfalls natürlich fin-
den wird, nur ein Zeichen für die Haltbarkeit der Grundlagen
erblicken, auf denen unsere Anschauung von der Geschichte
des ältesten Chris tenthums ruht. Das nächstfolgende Stück:
„Die Tübinger Schule", wurde im Jahre 1859 verfasst, er-
schien aber erst 1860 in Sybel's Historischer Zeitschrift IV,
90 flf. An diese Auseinandersetzung über die Tübinger Schule
schliesst sich in Nr. 11 die Schilderung ihres Stifters, seiner
wissenschaftlichen Entwicklung und seiner literarischen Thätig-
keit an, welche ich bald nach dem Tode desselbeUj im Sommer
1861, in die Preussischen Jahrbücher (VE, 495 ff. VHI, 206 ff.
283 ff.) lieferte. Was endlich die letzte Abhandlung, über
Strauss und Renan betrifft, die zuerst in Sybel's historischer
Zeitschrift XH, 70 ff. erschien, so wurde dieselbe zunächst
zwar durch die bekannten Werke dieser beiden Gelehrten her-
vorgerufen ; zugleich war mir aber auch an sich selbst die Ver-
anlassung erwünscht, meine Ansicht über die evangelische Ge-
schichte und den Stifter des Ghristenthums etwas ausführlicher
darzulegen, und durch diese Darstellung^ wie ich hoffte, dazu
beizutragen, dass das geschichtliche Verständniss unserer Re-
ligion auch solchen erleichtert werde, welche nicht in der Lage
sind, den gelehrten und kritischen Untersuchungen über dieselbe
tiefer in's einzelne folgen zu können.
Bei der Durchsicht der Arbeiten, welche in die gegen-
wärtige Sanunlung aufgenommen werden sollten, machte ich
es mir zwar selbstverständlich zur Pflicht, alles das zu ändern,
was mir in ihrem Inhalt oder ihrer Darstellung der Berich-
Vorwort n
tigung, Verbesserung und Ergänzung bedürftig zu sein schien^
und dasjenige zu entfernen , was nur mit Rücksicht auf den
Zeitpunkt und die besonderen Umstände ihres ersten Erschei-
nens gesagt war ; und aus diesem letzteren Gesichtspunkt wurde
namentlich der Eingang mehrerer Stücke umgearbeitet. Aber
allzu eingreifende Abänderungen waren nicht möglich, wenn
jedem dieser Au&ätze seine ursprüngliche Haltung bewahrt, und
störende Unebenheiten vermieden werden sollten. Aus diesem
Grunde konnte ich auch einen Misstand nur theUweise be-
seitigen, dessen ich mir im übrigen wohl bewusst war: die
Wiederholungen, welche sich unvermeidlich ergeben, wenn ver-
wandte Stoffe zu verschiedenen Zeiten und vor verschiedenen
Zuhörern besprochen werden ; und ich kann kaum hoffen, dass
sich der Leser für dieselben durch den VortheQ, die gleichen
Gegenstände von mehr als Einer Seite beleuchtet zu sehen,
durchaus entschädigt finden werde. Ich muss daher in dieser,
wie ohne Zweifel noch in mancher anderen Beziehung, seine
Nachsicht in Anspiiich nehmen.
Die neue Auflage dieser Schrift unterscheidet sich von der
ersten nur durch kleinere Aenderungen und Zusätze, welche
bald den Inhalt bald nur die Darstellung und die Ausdrucks-
weise betreffen. Zu den Zusätzen gehören auch die Worte auf
dem Titelblatt : „Erste Sammlung.^^ Bis wann freUich die hie-
niit versprochene Foitsetzung^ für die es mir an Material nicht
fehlt, erscheinen wird, kann ich im Augenblick noch nicht be-
stimmen. Da ich mich aber in derselben nicht in der gleichen
Weise, wie hier, auf geschichtliche Darstellungen zu beschrän-
ken denke, habe ich auch den Titel des gegenwärtigen Bandes
(„Vortr. und Abh. geschichtlichen Inhalts") mit Rücksicht auf
seinen von mir in Aussicht genonunenen Nachfolger geändert.
Berlin, JuU 1875.
Der Yerfasser.
l>
Inhaltsverzeichniss.
Seite
1. Die Entwicklung des Monotheismus bei den Griechen ..... 1
2. Pythagoras und die Pythagorassage 38
8. Zur Ehrenrettung der Xanthippe 56
4. Der platonische Staat in seiner Bedeutung für die Folgezeit . . 68
5. Marcus Aurellus Antoninus 89
6. Wolff's Vertreibung aus Halle, der Kampf des Pietismus mit der
Philosophie . 117
7. Johann Gottlieb Fichte als Politiker 153
8. Friedrich Schleiermacher. Zum zwölften Februar 195
9. Das Urchristenthum 222
10. Die Tübinger historische Schule 294
11. Ferdinand Christian Baur 890
12. Strauss und Benan 480
1.
Die Entwicklung des Monotheismus bei den Crriechen.
Der Gegenstand, mit welchem sich' dieser Vortrag beschäf-
tigen soll, nimmt unser Interesse von mehr als Einer Seite
her in Anspruch. Ist es an und für sich schon eine dankbare
Aufgabe, die Geschichte des menschlichen Geistes in einer
seiner höchsten Beziehungen und bei einem der gebildetsten
Völker zu verfolgen, so wird der Reiz dieser Aufgabe noch
um vieles erhöht werden, wenn sie mit anderen Fragen von
der allgemeinsten Bedeutung zusammenhängt. Eben dieses ist
aber bei der vorliegenden der Fall. Die Geschichte der Re-
ligion kennt keine wiebtigeren, in das geistige und sittliche
Leben der Menschheit tiefer eingi-eifenden Thatsachen, als
die Entstehung des Monotheismus und die Entstehung des
Christenthums ; aber auch keine, deren erschöpfendes geschicht-
liches Verständniss mit grösseren Schwierigkeiten verknüpft
wäre. Da trifft es sich nun glücklich, dass wir bei einem uns
so bekannten Volk, wie die Griechen, einem Vorgange begeg-
nen, welcher für die eine jener Thatsachen, die erste Ent-
stehung des monotheistischen Glaubens, wenigstens eine Ana-
logie darbietet ; während er zugleich eine von den wesentlichen
Voraussetzungen enthält, durch welche die andere, die Ent-
stehung des Christenthums, geschichtlich bedingt ist. Wenn
wir sehen, wie sich der Glaube an die Einheit des göttlichen
Wesens bei den G^echen aus der Vielgötterei entwickelt hat.
Zeller, Vortifige und A^lui^dl. j
■ -i \ ^ ^
-, • . . : : * J
2 Die Entwicklung d^ Monotheismus
SO werden wir denselben Glauben bei anderen Völkern gleich-
falls begreiflicher finden, mag er auch bei diesen in anderer
Weise und unter anderen Bedingungen aufgetreten sein; und
wenn das Christenthum eine bestimmte Form dieses Glaubens
auch im hellenischen Bildungsgebiete schon vorfand^ so werden
wir uns um so leichter erklären können, wie es nicht blos
diesen Theil ;der alten Welt in verhältnissmässig kurzer Zeit
erobern, sondern wie es selbst auch das, was es ist, werden
konnte.
Die griechische Religion war ursprünglich bekanntUch,
wie alle NatuiTeligionen , Polytheismus. Aber bei der blossen
Vielheit göttlicher Wesen kann sich der menschliche Geist
nicht lange bemhigen. Der erfahrungsmässige Zusammenhang
aller Erscheinungen und das Bedürftiiss einer festen sittlichen
Weltordnung nöthigt schon fi-ühe, jene Vielheit irgendwie zur
Einheit zu verknüpfen. Wir finden daher in allen Religionen,
die sich nur einigermassen aus dem ersten Rohzustand heraus-
gearbeitet haben, den Glauben an eine oberste Gottheit, einen
Götterkönig, der in der Regel nicht blos im Himmel wohnend
gedacht wird, sondern eigentlich der allumfassende Himmel
selbst ist. Auch die giiechische Götterwelt, so weit unsere
Kunde derselben hinaufreicht, fasst sich in Zeus, dem blitze-
schleudeiTiden Himmelsgott, zur einheitlichen Spitze zusammen.
Das Wesen dieses Gottes erscheint aber in dem älteren Volks-
glauben, wie ihn die homerischen und hesiodischen Gedichte
uns darstellen, in dreifacher Beziehung beschrankt. Einmal
hat er die dunkle Macht des Schicksals über sich, welcher er
selbst sich vorkommenden Falls wohl wider Willen und mit
schmerzlichen Klagen unterwerfen muss, wie dort beim Tod
seines Sohnes Sarpedon, wo er ausnift: „Weh' mir, weh', nun
will das Geschick, dass Sarpedon, der Menschen Theuerster
mir , von Patroklos , Menötios Sohne , gefällt wird." Sodann
hat er an den übrigen Olympiern eine mitunter ziemlich un-
botmässige Aristokratie neben sich, welcher er selbst zwar an
Kraft und Herrschergewalt entschieden überlegen ist, welche
ihm aber doch im einzelnen nicht selten widerspricht oder
bei den Griechen. 3
ihn hintergeht, seine Plane stört und ihrer Ausftlhrung Hinder-
nisse in den Weg legt. Dieser doppelten Beschränkung ist
aber Zeus, drittens, nur desshalb unterworfen, weil sein Wesen
auch an sich selbst beschränkt ist, weil er noch nicht mit def
ganzen Fülle jener geistigen und sittlichen Vollkommenheit
ausgestattet ist, welche da, wo sie einmal als unerlässlich in
den Begriff der Gottheit aufgenommen ist, jeden Gedanken
an eine Beschränkung der göttlichen Macht unmittelbar aus-
schliesst. Wohl ist auch der homerische Zeus schon ein sitt-
liches Wesen, der Beschützer des Rechts und der Rächer des
Frevels, der Hort der Staaten, die Quelle von Gesetz und
Sitte auf Erden , der Vater der Götter und Menschen. Aber
auch abgesehen davon, dass die göttliche Weltregierung hier
von despotischer Willkühr nicht frei ist, dass Zeus, wie es
heisst, zwei Fässer in seinem Gemach hat, das eine mit Gütern,
das andere mit Uebeln, und nach Gutdünken daraus austheilt :
wie musste ein denkender Grieche der Folgezeit über den
Götterkönig urtheilen, der bald in Here's Armen, bald bei
sterblichen Frauen seine Regentengeschäfte vergisst, der die
Menschen mit Uebeln jeder Art heimsucht, weil ihn Prometheus
beim Opfer betrogen hat, der aus GefäDigkeit gegen Thetis
über das Achäerheer Niederlagen verhängt, der Agamemnon,
um ihn zum Kampf zu eimuntem, einen trügerischen Traum
schickt u. s. w. Die Schwächen der sinnlichen und endlichen
Natur treten an diesen altgriechischen Göttern, und auch an
dem höchsten Gott, viel zu grell hervor, als dass der Keim einer
höheren Auffassung, der aUerdings auch schon der homerischen
Theologie nicht fehlt, ohpe tiefgreifende Veränderung zur Ent-
wicklung kommen konnte; und wenn sich allerdings gerade
die anstössigsten Erzählungen über dieselben grossentheils aus
der Personification von Naturwesen und Naturkräften, aus der
Verwandlung natüi'licher Vorgänge in eine Göttergeschichte
erklären, so hatte sich doch dieser Ursprung der Mythen dem
eigenen Bewusstsein des griechischen Volkes verborgen: ihm
traten sie mit dem Anspruch einer wahrheitsgetreuen Schilde-
rung der Götterwelt entgegen. Auch in den Mysterien, welche
1*
■
Die Entwicklimg des Monotheismus
4
man in der neueren Zeit nicht selten für die Schule eines
reineren Gottesglaubens gehalten hat, war dieser sicher nicht
zu finden; wie es denn an und für sich schon eine seltsame
Vorstellung ist , dass bei . der Verehrung der Demeter oder
des Dionysos eine monotheistische Dogmatik hätte mitgetheilt
werden können. Eine höhere Bedeutung für das griechische
Volksleben erlangten diese Geheimdienste ohnedem erst seit
dem sechsten Jahrhundert, d. h. seit der Zeit, in welcher die
allmähliche Reinigung des Volksglaubens und seine Annäherung
an den Monotheismus eben begann.
Diese Reinigung vollzog sich nun auf zwei Wegen : eines-
theils dadurch, dass die Vorstellungen über Zeus und seine
Weltregierung gesteigert und geläutert wurden, und dass so
aus dem Polytheismus selbst, ohne Verrückung seiner Grund-
lagen, das monotheistische Element, welches in ihm lag, her-
ausgehoben, das polytheistische jenem untergeordnet wurde;
andererseits durch Bestreitung der Vielgötterei und der Men-
schenähnlichkeit, mit welcher dQr Volksglaube die Götter um-
geben hatte. Auf dem ersten von diesen Wegen haben die
Dichter zugleich mit der Vollendung der Mythologie auch an
ihrer Verbesserung gearbeitet; die Philosophen verbanden
damit den zweiten, und aus dieser Verbindung ist jene geisti-
gere Glaubensweise hervorgegangen, welche seit Sokrates und-
Plato in immer weiteren Kreisen sich ausbreitend noch vor
dem Auftreten des Ghiistenthums überall, wohin der Einfluss
des hellenischen Geistes reichte, zur Religion der gebildeten
Volksklassen geworden ist.
Die dichterische Phantasie hat die griechischen Götter
und die mythische Geschichte dieser Götter geschaffen, und
die Dichter sind es zumeist, von denen diese, allen ihren
Wünschen so bereitwillig entgegenkommende und mit so reizen- {
der Leichtigkeit sich anschmiegende Mythologie fortgebildet
und gepflegt wurde. Aber dieselben Dichter waren es auch,
welche sie umbildeten und veredelten, allzu rohe Züge ent-
fernten, die Ueberlieferungen der Vorzeit mit den sittlichen
Anschauungen gebildeterer Jahrhunderte erfüllten. Waren ja
bei den Griechen. !
doch die grossen Dichter der Griechen zugleich ihre ersten Denker,
die „Weisen," wie sie so oft genannt werden, die ältesten
und volksthüitnlichsten Lehrer der Nation. Von dieser Ideali-
sirung musste vor allem die Gestalt des Zeus berührt werden,
in welcher sich dem Hellenen alles Grosse und Erhabene , alle
seine höchsten Vorstellungen über Herrschennacht und Herr-
scherweisheit, über die Welteinrichtung und die sittliche Ord-
nung zusammendrängten. Je höher aber Zeus gestellt wurde,
je vollständiger die mythischen Anthropomorphismen hinter
der Idee eines vollkommenen Wesens, eines gerechten, gütigen,
allwissenden Weltregenten zurücktraten, um so vollständiger
wurde auch der Monotheismus aus dem Polytheismus heraus-
gearbeitet. Schon die älteren Dichter hatten Zeus, wie be-
merkt, als den Schirmer des Rechts, den Vertreter der sitt-
lichen Gesetze gepriesen. Was Homer und Hesiod in dieser
Beziehung gesagt hatten, wiederholen die Späteren in ver-
stärktem Ausdruck. Zeus schaut, wie wir bei Archilochus
(um 700 V. Chr.) lesen, auf die Thaten der Menschen, die
gerechten und die gottlosen, selbst der Thiere Frevel und
Rechtthun entgeht ihm nicht; ihm müssen wir alles anheim-
stellen. Er ist, wie um weniges später Terpander ihn nennt,
der Anfang und Führer von allem; er hat, wie Simonides von
Amorgos singt, das Ende von allem in der Hand und ordnet
alles, wie er will. Je weiter wir aber in der Zeit herabsteigen,
um so kräftiger sehen wir diese Gedanken sich entwickeln.
Zeus wird allmählich seiner ganzen Bedeutung nach zum
Träger einer sittlichen Weltordnung, deren Idee sich von
dem Unheimlichen des alten Schicksalsglaubens, von der Zu-
fälligkeit willkührUcher Herrschergebote befreit; das Schicksal,
welches nach älterer Vprstellung hinter und über ihm stand,
verschmilzt mit seinem Willen zur Einheit, die übrigen Götter,
welche noch bei Homer seinen Absichten so vielfach wider-
streben, werden zu wilhgen Werkzeugen seiner weltregierenden
Thätigkeit. So belehrt ims schon Selon (um 590), dass Zeus
zwar alles überwache und alle Frevel bestrafe, dass er aber
nicht über einzelnes in Zorn gerathe, wie ein Mensch, sondern
Q Die Entwicklung des Monotheismus
das Unrecht sich häufen lasse, ehe die Strafe hereinbreche.
So ruft uns hundert Jahre später der sicüische Dichter Epicharm
zu: „Nichts entgeht der Gottheit Blicken, dess magst du ver-
sichert sein, Gott ist's, der uns überwacht und dem kein Ding
unmöglich i&V Noch entschiedener tritt jedoch diese reinere
Gottesidee bei den drei grossen Dichtem hervor, deren Leben
die Zeit vom letzten Drittheil des sechsten bis gegen das Ende
des fünften Jahihunderts ausfüllt, Pindar, Aeschylus und
Sophokles. — Auf die Gottheit, sagt Pindar, kommt, alles
allein an; Zeus schafft den Sterblichen alles, was sie trifft,
et verleiht Erfolg und Missgeschick ; er vermag aus schwarzer
Nacht lauteres Licht aufstrahlen zu lassen, und des Tages
reinen Schein in dunkle Finstemiss zu hüllen. Nichts, was
der Mensch thut, ist der Gottheit verborgen, nur wo sie den
Weg zeigt, ist Segen zu hoffen, in ihrer Hand liegt der Erfolg
unserer Arbeit, von ihr allein stammt alle Tugend und Weis-
heit. — In demselben Sinne spricht sich Aeschylus aus. Die
Erhabenheit und Allmacht der Gottheit, das unabwendbai-e
Eintreffen, die zermalmende Gewalt ihrer Strafgerichte wird
von allen seinen Tragödien eingeschärft. Was Zeus spricht,
das geschieht; sein Wille vollbringt sich unfehlbar; kein
Sterblicher vermag etwas wider ihn, keiner entflieht seinem
Rathschluss ; in seinem Dienst handeln alle anderen Götter,
seine Herrschaft wird am Ende auch von den widerstrebendsten
Mächten, auch von dem titanenhaften Trotz eines Prometheus,
in williger Unterwerfung anerkannt. Diese Gedanken haben
für Aeschylus so durchgreifende Bedeutung, dass es nicht
schwer wäre, trotz des polytheistischen Götterglaubens, an
welchem der Mann von altväterlicher Gediegenheit, der Mara-
thon- und Salamiskämpfer, nicht gezweifelt hat, aus seinen
Dichtungen, mit geringer Formverändemng , die Grundzüge
eines reinen und erhabenen Monotheismus zusammenzustellen.
Was in denselben vor allem" hervortritt, ist die Idee der gött-
lichen Gerechtigkeit. Ist auch Aeschylus von der alterthüm-
lichen Vorstellung eines Neides der Gottheit noch nicht ganz
frei, lesen wir auch bei ihm noch, dass der Gott Verschuldung
^ bei den Griechen. 7
über die Sterblichen verhänge , wenn er ein Haus von Grund
aus umstürzen wolle: die herrschende Richtung seiner Dich-
tungen geht doch dahin, uns den Zusammenhang des Unglücks
mit der Schuld, die hohe Gerechtigkeit der göttlichen Gerichte
erkennen zu lassen. Wie der Mensch thut, so muss er leiden ;
wess Herz und Hand lauter ist, der wallt harmlos durch's
Leben ; doch den Frevler erfasst sicher, bald mit jähem Schlag,
bald mit langsamem Druck, die Vergeltung; die Erinnyen
walten in der Menschen Geschick, sie saugen dem Verbrecher
die Lebenskraft aus, sie heften sich ruhelos an seine Sohlen,
sie werfen um ihn die Schlinge des Wahnsinns, sie folgen
seiner Spui- bis über das Grab. Aber die göttliche Gnade
weiss' selbst bei Aeschylus die Strenge des Strafgesetzes zu
überwinden, und auch ein Orestes wird am Ende von dem
Fluche befreit, mit welchem der Muttermord sein Haupt be-
lastet hat. Dabei ist sicfe Aeschylus wohl bewusst, dass er
über den urspiUnglichen Charakter der griechischen Religion
hinausgeht ; aber mit einer höchst merkwürdigen , tief poeti-
schen Wendung verlegt er die Veränderung, welche, theilweise
gerade durch ihn, in der religiösen Denkweise seines Volks
vor sich gieng, in die Götterwelt selbst. Er benützt die alten
dunkeln Sagen von einem Kampf der alten und der neuen
Götter, um uns in tiefsinnigen Darstellungen zu zeigen, wie
das grausenhafte Recht der Eumeniden in der Folge einem
milderen und menschlicheren Gesetz Platz gemacht, wie sich
die anfängliche Gewaltherrschaft de^ Zeus mit der Zeit zu "
einer wohlthätigen sittlichen Weltregförung verklärt habe. —
Die schönste Blüthe dieses milderen Geistes leuchtet uns aus
den Werken des Sophokles entgegen. Wie kein anderer Dichter
die klassische Kunst zu einer so harmonischen Vollendung
gebracht hat, so giebt es auch keinen edleren Vertreter eines
reinen Gottesglaubens, so weit dieser auf dem Boden des
griechischen Polytheismus möglich war. Im Sinn der lauter-
sten Frömmigkeit schildert uns Sophokles die Götter , deren
Macht und Gesetz das menschliche Leben umschliesst. Von
ihnen kommt alles, das Gut und das Uebel ; ihrer nie alternden
g Die Entwicklung des Monotheismas
Macht kann kein Sterblicher widei-stehen , ihrem allsehenden
Auge keine That und kein Gedanke sich entziehen, ihre ewi-
gen Satzungen wage keiner zu übertreten. Von den Göttern
stammt alle Weisheit , sie fiüiren uns immer zum Rechten ;
ihre Schickung möge der Mensch mit Ergebung eitragen, alles
Leid Zeus anheimstellen, über das Mass der menschlichen
Natur nicht hinausstreben. Diese imd ähnliche Sätze sind es,
welche uns bei Sophokles so häufig erfreuen, welche uns aber
auch bei andern Dichtem jenes Zeitalters nicht selten begegnen.
Die Grenze des griechischen Polytheismus ist damit allerdings
nicht überschritten; aber doch werden wir uns von dem Glau-
ben, welcher sich in dieser Art ausspricht, einen anderen Be-
griff machen müssen, als man ihn gewöhnlich mit dem Namen
des Heidenthums verbindet. Die vielen Götter sind hier am
Ende doch nur die Repräsentanten des Einen „GöttUchen"
oder der Gottheit; aus ihrem Wirken in der Welt ist die
Willkühr und der Widerstreit verschwunden, von dem uns
Homer noch so viel zu erzählen weiss : es ist Eine sittliche
Weltordnung, welche sich bald des einen, bald des anderen
Gottes als ihres Werkzeugs bedient. Die Vielheit der Göttei-
bleibt so zwar als Glaubensvorstellung stehen, aber der Zwie-
spalt, den sie in's religiöse Bewusstsein zu bringen drohte,
wird der Sache nach grossentheils aufgehoben.
Für den sittlichen Charakter* der religiösen Ueberzeu-
gungen war auch das von grosser Wichtigkeit, dass mit
der ebenbesprochenen Entwicklung der Gottesidee gleichzeitig
der Glaube an eine jenseitige Vergeltung an Kraft und Ver- I
breitung gewann. Bei Homer und Hesiod finden sich von '
dieser Lehre nur die dürftigsten Anfänge; höhere Bedeutung
erhielt sie erst in den eleusinischen, namentlich aber in den« ,
sogenannten oiphischen Mysterien, einem jüngeren, seiner j
Entstehung nach wahi-scheinlich dem sechsten oder siebenten |
Jahrhundert vor Christus angehörigen. Zweig dieser Kultus- ^
formen, und in dem zunächst gleichfalls aus sittlich-religiösen,
nicht aus wissenschaftlichen Motiven entsprungenen Pythago-
reismus. Die Form wie der Inhalt dieses Glaubens, dessen
V
bei den Griechen. 9
Geschichte wir hier nicht weiter verfolgen können , war vor-
erst allerdings ziemlich trübe; er stand bei Orphikem und
Pythagoreern mit der mythischen Lehre von der Seelenwan-
derung in Verbindung , und was . über die jenseitige Seligkeit
oder XJnseligkeit entscheiden sollte, war mindestens bei den
ersteren weniger der sittliche Werth oder XJnwerth, als das
Verhältniss zu den Geheimdiensten und zu der mit ihnen ver-
bundenen Ascese : wer die Weihen angenommen, wer sich der
Fleischkost und ähnlicher Dinge enthalten, wer gewisse äusser-
liche Lebensvorschriften befolgt hatte, der sollte dereinst mit
den Göttern der Untei'welt zu Tische sitzen, die Ungeweihten
dagegen sollten in einen Schlammpfuhl geworfen werden.
Aber schon bei den Pythagoreern wurde der ünsterblichkeits-
glaube in einem reineren moralischen Sinne benützt ; bei Pindar
liegen in ihm die kräftigsten sittlichen Antriebe; Aeschylus'
Schilderung der göttlichen Strafgerichte kommt in der Dro-
hung, das auch der Tod den Verbrecher von den Rachegeistem
nicht frei mache, zum Abschluss; Sophokles verweist nicht
selten auf die Vergeltung nach dem Tode, und bei Euripides
finden wir das Wort : „Wer weiss, ob nicht der Tod in Wahr-
heit Leben ist, das Leben aber Tod?'' Es liegt am Tage,
wie sehr der Gedanke der göttlichen Gerechtigkeit durch diese
Ausdehnung ihrer Wirkungen an Stärke gewinnen, und um
wie viel lebhafter auch die Einheit des Göttlichen sich dem
Bewusstsein darstellen musste, wenn eine und dieselbe sittliche
Ordnung die Lebenden und die Todten umfasste.
So sehr aber die ältere Gestalt der giiechischen Religion
damit veredelt war, ihre polytheistische Grundlage wurde, wie
gesagt, durch diese Entwicklung des monotheistischen Ele-
ments, das auch in ihr lag, nicht unmittelbar angetastet. Einen
anderen und kühneren Weg schlug die Philosophie ein.
Die griechische Philosophie ist nicht, wie die christliche,
im Dienst der Theologie herangewachsen: ihre ältesten Ver-
treter wollten nicht den. religiösen Glauben vertheidigen oder
erläutern, sondern die Natur der Dinge erforschen. Sie hatten
insofern keine so unmittelbare Veranlassung, sich über den
10 Die Entwicklung des Monotheismus
Inhalt dieses Glaubens auszusprechen, wie ihre christlichen
Nachfolger. Aber indem sie bei ihrer Naturerklärung die Welt
als Ganzes in*s Auge fassten , um sie auf ihre letzten Gründe
zurückzuführen, giengen sie alle ausdrückUch oder stillschwei*
•gend von der Voraussetzung einer einheitlichen weltbildenden
Kraft aus, mochten sie sich nun diese an den körperlichen
Stoflf gebunden oder von ihm getrennt denken, mochten sie
sie als Natur oder als Gottheit oder wie sonst iSezeichnen.
Und mehrere von ihnen sprachen es auch ausdrücklich aus,
dass dieselbe nur in der höchsten Vernunft, nur in dem un-
endlichen Geiste gesucht werden dürfe; unter den vorsokrati-
sehen Philosophen, mit denen wir es hier zunächst zu thun
haben ; am entschiedensten und mit dem deutlichsten wissen-
schaftlichen Bewusstsein Anaxagoras, der Freund des grossen
Perikles, welcher bis gegen den Anfang des peloponnesischen
Krieges in Athen gelebt hat. Zu der Volksreligion aber nehmen
diese Männer, je nach ihrer Eigenthümlichkeit , eine verschie-
dene Stellung ein. Viele von ihnen verfolgten den Weg ihrer
wissenschaftlichen Forschung, ohne sie zum Volksglauben in
ein bestimmtes Verhältniss zu setzen, und in der Regel wohl,
ohne auch nur sich selbst darüber Rechenschaft abzulegen»
Andere lehnten sich in der Art an die Volks Vorstellungen an,
dass sie sich derselben für gewisse philosophische Begriffe
bedienten, und beide sich unmittelbar gleichsetzten; und da
ist es nun natürlich wieder die Gestalt des Zeus, in welcher
der letzte Grund aller Dinge, die Einheit der Weltordnung
und der in der Welt wirkenden Kräfte, zur Anschauung ge-
bracht wird. Ein dritter, Demokritus, macht den Versuch,
mit dem Götterglauben auch die Götter selbst aus den Vor-
aussetzungen seiner materialistischen Naturlehre zu erklären:
durch das gleiche Zusammentreffen von Atomen, dem alles
übrige sein Dasein verdankt, sollten auch Wesen von über-
menschlicher Gestalt und Grösse entstanden sein, deren Er-
scheinung den Glauben an Götter hervorgerufen habe; und
ähnlich lässt Empedokles aus seinen vier Elementen mit den
Thieren und den Menschen und allen anderen Dingen auch
■ I
I
bei den GriecheiL XI
die Götter sich bilden „die langlebenden, vor allem geehrten/^
Für uns, nach unserem reineren Gottesbegriff, sind diess höchst
auffallende Behauptungen, nicht ebenso aber für die Griechen,
in deren Mythologie von Anfang an die Erzeugung der ver-
schiedenen Göttergeschlechter eine wichtige Stelle einnahm,
und bei denen noch Pindar singt: „Eines ist der Menschen,
ein anderes der Götter Geschlecht, aber üßine Mutter hat
beide geboren." Eine Bestreitung des Volksglaubens war da-
mit nicht beabsichtigt.
. Um so entschiedener tritt dagegen diese Absicht in den
Aeusserungen eines Mannes hervor, welcher zu den merk-
würdigsten Erscheinungen in der Geschichte des religiösen
Bewusstseins gehöit, des Xenophanes. Dieser philosophische
Dichter, der Stifter der sog. eleatischen Schule, dessen langes
Leben von den ersten Jahrzehenden des sechsten bis über den
Anfang des fünften Jahrhunderts herabreicht, ist allem nach
rein durch sein eigenes Nachdenken zu den eingreifendsten
Zweifeln an der Rehgion seines Volkes geführt worden. Was
ihm an derselben zum Anstoss gereicht, ist nicht blos die
Menschenähnlichkeit der griechischen Götter mit ihren oft so
weit gehenden Schwächen, sondern auch schon ihre Vielheit
als solche. Die Sterblichen, sagt er, meinen, die Götter seien
entstanden, als ob es nicht gleich gottlos wäre^ sie für gewor-
den, und sie für sterblich auszugeben ; und in demselben Sinn
äusserte er sich nach Aristoteles über die Opfer und die
Todtenklage fOr die Meeresgöttin Leukothea : halte man sie
für eine Sterbliche, so solle man ihr nicht opfern, halte man
sie für eine Gottheit, so solle man sie nicht betrauern. Der
Widei-spruch der Naturreligion, eine Gottheit, ein Unendliches, |
anzunehmen und ihr doch zugleich endliche Zustände und
Eigenschaften beizulegen , beweist dem Philosophen, dass diese
Religion nicht die wahre sein könne. Der gleiche Wider-
sprach wird aber von ihm auch noch in vielen anderen Be-
stimmungen des griechischen Götterglaubens nachgewiesen.
Wie man die Götter für geworden hält, so hält man sie auch
füi- veränderlich; man schreibt ihnen räumliche Bewegung zu.
12 Die Entwicklung des Monotheismus
wenn man sie vom Himmel zur Erde herabkonmien; diese oder
jene Stätte ihrer Verehrung besuchen, da oder dort hülfreich
erscheinen lässt u. s. w. Xenophanes weiss sich diese Vor-
stellung nicht anzueignen. Der Gottheit, erklärt er, gezieme
es nicht, bald da* bald dorthin zu wandern, sie könne nur
unbewegt an Einer Stelle verharren. Noch auffallender wider-
spricht es seinem Gottesbegriff, wenn der Gottheit eine mensch-
liche, oder überhaupt eine äussere Gestalt beigelegt wird.
Die Menschen, sagt er, leihen den Göttern ihre eigene Ge-
stalt, Empfindung und Stimme, und jedes Volk leiht ihnen
die seine : die Keger denken sich die Götter schwarz und
plattnasig, die Xhracier blauäugig und rothhaarig, und wenn
die Pferde und Ochsen malen könnten, — fügt er mit bitterem
Spott bei — würden sie dieselben ohne Zweifel als Pferde
und Ochsen darstellen. Und ^ fast noch schlechter ergeht es
den Göttern bei der Schilderung ihres sittUchen Wesens :
„Alles legen den Göttern Hesiodos bei und Homeros, was zur !
Schande bei Menschen gereicht und Tadel hervomift, Dieb- j
stahl, Ehebmch und dass sie einander betrügen." Aber nicht |
blos diese Schwäche und Menschenähnlichkeit, schon die Viel- [
heit als solche verträgt sich, nach der reineren Einsicht des ]
Xenophanes, nicht mit dem Begriff des göttlichen Wesens.
Die Gottheit, zeigt er, müsse das vollkommenste sein, es könne
aber nur Ein vollkommenstes geben; die Gottheit könne nur
herrschen, nicht beherrscht werden, neben dem höchsten, alles-
beherrschenden Gott lassen sich mithin keine anderen, ihm
untergeordneten Götter annehmen. 'Er selbst weiss sich daher
nur Eine Gottheit zu denken, die über alles Endliche hoch
erhaben ist. „Ein Gott,'' singt er, „ist bei den Göttern und
bei den Menschen der höchste. Sterblichen nicht an Gestalt
und nicht an Gedanken vergleichbar," ein Gott, der, wie es
an einer anderen Stelle heisst , ganz Auge ist , ganz Ohr, ganz
Denken, der „mühlos alles beherrscht mit der Einsicht seines
Verstandes." So tritt hier zuerst der Vielgötterei des griechi-
schen Volksglaubens und der Vermenschlichung des Göttlichen
der Monotheismus mit vollem Bewusstsein grundsätzlich ent-
]
I
H
, I
i:
I»
11
V
bei den Griechen. 13
gegen : aus dem BegriiF des göttlichen Wesens werden durch
einfache Schlüsse die Folgerungen abgeleitet, welche die ganze
bestehende Religion im innersten erschüttern mussten.
Es muss gewiss unsere höchste Bewunderung en-egen, so
reine und erhabene Vorstellungen über die Gottheit, ein so
helles Bewusstsein über das, was die Gottesidee fordert, mitten
unter einem polytheistischen Volke, fünfhundert Jahre vor
Christus, in einem Zeitpunkt zu finden, in welcheöi die wissen-
schaftliche Forschung sich kaum in den ersten unsicheren
Schritten versucht hatte. Auch die geschichtliche Wirkung
dieser Erscheinung werden wir aber nicht zu niedrig schätzen
dürfen. Die Angrifife des Xenophanes haben dem griechischen
Polytheismus eine Wunde geschlagen, von welcher er sich nicht
wieder erholt hat;, und steht auch dieser Philosoph mit seinen
kühnen Zweifeln an dem bestehenden Eeligionswesen eine Zeit
lang ziemlich vereinzelt, so fehlt es ihm doch theils schon in
den nächsten fünfzig Jahren nicht ganz an Nachfolgern, theils
sind jene Zweifel in der Folge zu einer Macht herangewachsen,
welcher die Volksreligion ausser der Gewohnheit der Masse
und einzelnen, für^^das Ganze vollkommen wirkungslosen,
Gewaltmassregeln kein Vertheidigungsmittel entgegenzustellen
hatte.
Einige Jahrzehende nach Xenophanes treffen wir den
ephesischen Philosophen Herakht zwar nicht ganz auf dem-
selben Wege, aber doch auf einem, der dem seinigen nahe
genug liegt. Die Vielheit der Götter wird von ihm zwar
nicht ausdrücklich feekämpft, so weit er auch durch seine Idee
der allgemeinen, alles lenkenden Vernunft über sie hinaus ist ;
aber die mit ihr so nahe zusammenhängenden gottesdienst-
lichen Gebräuche, die Thieropfer und die Bilderverehrung,
erfahren seine entschiedene Missbilligung, und über die Dich-
ter, deren Werke für die Hellenen die Bedeutung der heilig-
sten Religionsurkunden hatten, über Homer und Hesiod, weiss
er sich nicht stark genug auszudrücken. Etwas später, um
die Mitte des fünften Jahrhunderts, hören wir die Gedanken
und selbst die Ausdrücke des alten Eleaten in einem Bruch-
14 Oie^Entwiddtmg des MoDotheisinns
etack des Empedokles durchkliugen, welches über Apollo, oder
auch über den höchsten Grott — denn diess wissen wir nicht —
sagt: ihm könne man nicht nahen, nodh mit den Augen ihn
schauen oder mit den Händen betasten, denn kein mensch-
licher Leib und keine Gliedmassen seien ihm eigen, sondern
er' sei nur ein heiliger unfassbarer Geist, der mit schnellen
Gedanken das ganze Weltall durcheile. Um dieselbe Zeit be-
ginnt jene aufklärerische Bewegung, deren ausgesprochenste
Vertreter man mit dem Namen der Sophisten zu bezeichnen
pflegt; eine Bewegung, welche in kurzer Zeit alle Seiten des
griechischen Volkalebens und alle Schichten der Gesellschaft
durchdrang, die überlieferten Sitten und Ueberzeugungen
gründlich zersetzte, und gegen den religiösen Glaaben von
Anfang an einen lebhaiten Angriff eröffnete. Gleich den ersten
Wortführer der Sophistik, Protagoras, hören wir eine Schrift
mit der Erklärung beginnen : über die Götter habe er nichts
zu sagen, weder dass sie seien, noch dass sie nicht seien, denn
die Sache sei zu dunkel und das menschliche Leben zu kurz,
um sie zu ergründen. Ein anderer von den berühmteren So-
phisten, Prodikus, suchte zu zeigen, wie die Menschen durch
die Verehrung nutzbringender und wohlthfltiger Naturgegen-
stände zum Götterglauben gekommen seien; wahrend der So-
phistenschüler Eritias in einem seiner Schauspiele die Religion
als die Erfindung kluger Gesetzgeber dai-stellte, welche durch
die Furcht vor der göttlichen Stra%erechtjgkeit die Wirkung
ihrer Gesetze haben untei'StUtzen wollen. Und das letztere
war wohl in den Kreisen, auf welche der Einfluss der sophisti-
schen Aufklärung sich erstreckte, die verbreitetste Meinung.
Wie in allen anderen Staatseinrichtungen und Sitten, so s^
diese Schule auch in der Beligion nur das Erzeugniss will-
kührlicher Uebereinkunft , und schon die Verschiedenheit der
Religionen schien ihr diess zu beweisen: wenn der Götter-
glaube aus der menschlichen Natur stammte, meinte sie,
mUssten auch alle Menschen die gleichen Götter verehren ;
dass gerade aus der Natur des menschlichen Geistes und aus
den natürlichen Bedingungen seiner Entwicklui^ die Verschie-
1/
'I
bei den Griechen. 15
denheit der Religionen, wie aller anderen geschichtlichen
Lebensformen, hervorgeht, dafür hatten diese griechischen Auf-
klärer so wenig, als ihre neueren Nachfolger, ein Verständniss.
Wie oberflächlich sie aber auch in dieser Beziehung ver-
fahren mochten : der Geist der Zeit kam ihnen in den geistig
bedeutendsten griechischen Städten so hülfreich entgegen, und
ihre Denkweise war so wenig auf die Schule beschränkt, dass
sie vielmehr lun die Zeit des peloponnesischen Kriegs, und
nicht blos in Athen, für die herrschende Ansicht der Gebil-
deten gelten konnte. Was die Sophisten in Lehrschriften und
Prunkreden vortrugen, das predigten die Dichter in anderer
Form, mit der bedeutendsten und allgemeinsten Wirkung,
vom Theater. Während ein Sophokles in seinen Tragödien
seiner frommen Gesinnung nicht minder, als seiner Kunst, ein
Denkmal setzte, sehen wir seinen jüngeren Zeitgenossen Euri-
pides, den Schüler des Anaxagoras, mit manchen schönen
Glaubens- und Sittensprüchen zugleich eine Masse dogmatischer
und moralischer Zweifel vermischen, wir begegnen bei ihm
einer so naturalistischen Behandlung der Mythen, dass sich
sofort unverkennbar herausstellt, wie weit er sich von dem
Standpunkt des alten Götterglaubens entfernt hatte. Der
Komiker Aristophanes poltert mit leidenschaftlicher Heftigkeit
gegen ihn und gegen alle die Neuerer, unter die er sogar
Sokrates rechnet; und wir können nicht bezweifeln, dass es
ihm mit seinem Eifer fOr alte Sitte und alten Glauben in
seiner Art Ernst war; aber hiess es die Ehrfurcht vor den
Göttern wiederherstellen, wenn man diese mit so übermttthiger
Ausgelassenheit, wie Aristophanes dem Gelächter der Zuschauer
preisgab, wenn man die Blossen ihrer Menschenähnlichkeit so
grell und so derb , wie er, aufdeckte, wenn man sie so tief in
allen Schmutz des Niedrigen und Gemeinen herabzog? Und
dass dieser Bestandtheil seiner Stücke bei seinen Zuhörern
weit mehr Anklang fand, als die Ermahnungen zur Rückkehr
in die gute alte Zeit und ihren Glauben, dass es schon im
ersten Jahrzehend des peloponnesischen Kriegs bei sehr vielen
in Athen geradezu für ungebildet und altvaterisch galt, noch
16 Die Entwicklung des Monotheismus
an Götter zu glauben, sagt er selbst uns.. Hält doch sogar
sein frommer und oft so abergläubischer älterer Zeitgenosse
Herodot sich von den Einflüssen der rationalistischen Aufklä-
rung keineswegs frei; sehen wir doch an einem Thucydides,
vie gegen das Ende des fünften Jahrhunderts der tiefste Enist
der Gesinnung, die grossartigste sittliche Weltbetrachtung mit
gänzlicher Abwesenheit jenes mythischen Elements verknüpft
sein konnte, das der altgriechischen Religion so unentbehrlich
ist ; stellt uns doch eben dieser Geschichtschreiber in ergrei-
fenden Schilderungen die VerwiiTung aller sittlichen Begriffe,
das Verschwinden der Frömmigkeit und des Glaubens, das
üeberhandnehmen einer nackten Selbstsucht während der
inneren Kämpfe der griechischen Staaten vor Augen. Die
Sophisten sind mit ihren Angriffen auf den Volksglauben nur
die Vorkämpfer einer Denkweise, welche in jener Zeit von
den verschiedensten Seiten her vorbereitet sich nicht als das
Werk dieser Einzelnen, sondern nur als das Ergebniss der
ganzen geschichtlichen Entwicklung betrachten lässt. Um
so wem'ger liess sich erwarten, dass ein vereinzeltes Einschreiten
der Staatsgewalt, Anklagen, wie sie noch zu Lebzeiten des
Perikles von den politischen Gegnern dieses Staatsmanns gegen
Anaxagoras, später gegen Protagoras und Sokrates erhoben
wurden , der Neuerung einen haltbaren Damm entgegensetzen
werden. Einzelne sind diesen Angriffen zum Opfer gefallen:
Anaxagoras und Protagoras mussten Athen verlassen, Sokrates
trank den Giftbecher ; aber die Ansichten dieser Männer wur-
den durch die Verfolgung in ihrer Verbreitung nicht gehemmt,
sondern gefördert. Als Protagoras um's Jahr 410 v. Chr. aus
Athen floh, hatte der Unglaube, den man in ihm verfolgte,
in dieser Stadt längst die tiefsten" und ausgebreitetsten Wur-
zeln getrieben. Eine Wiederherstellung der Volksreligion in
ihrer fitüheren Geltung war bereits zur Unmöglichkeit gewor-
den; aber über den Standpunkt der Sophisten konnte man
allerdings hinauskommen, wenn tiefere Geister und gründlichere
Denker sich der Aufgabe bemächtigten, welche sie einseitig
und ungenügend behandelt hatten.
bei den Griechen. 17
Ein solcher gründlicherer Denker war Sokrates. Dieser
grosse Philosoph wollte sich zwar grundsätzlich aller theologi-
schen Untersuchungen enthalten; die menschliche Vernunft,
glaubte er , sei doch nicht im Stande , das Wesen und die
Werke der Gottheit zu ergründen, und diese Forschung habe
auch keinen Nutzen; und er tadelte desshalb die Naturphilo-
sophen, dass sie meinen, sie können den Kunstwerken der
Götter auf die Spur kommen. Er seinerseits wollte sich auf
die Dinge beschränken, welche das menschliche Leben und
die menschlichen Pflichten betreffen. Aber indem er zu diesen
Pflichten vor aUem auch die der Frömmigkeit und der Gottes-
verehrung rechnete, war er doch genöthigt, sich eine bestimmte
Ansicht über die Gottheit und ihr Verhältniss zum Menschen
zu bilden, und da er nun hiebei natürlich nur nach Massgabe
seiner allgemeinen Grundsätze verfahren konnte, so wurde er
fast wider Willen der Schöpfer einer Gotteslehre, welche trotz
ihrer wissenschaftlichen Mängel von grosser Bedeutung für die
Folgezeit geworden ist. Wie er nämlich den Werth der mensch-
lichen Handlungen nach der Vernunftmässigkeit ihrer Zwecke
zu beurtheilen gewohnt war, so suchte er auch im Weltganzen
zunächst den Zweck auf, dem alles zu dienen habe; diesen
glaubte er aber in dem Wohle des Menschen zu erkennen.
So kam er denn zu der Ueberzeugung, dass die Welt nur das
Werk eines allmächtigen, allgütigen, allweisen und allwissenden
Wesens sein könne ; eines Wesens, dessen Vernunft die unsrige
um ebenso viel übertreffe, als die Grösse der Welt, dem sie
inwohnt, die unseres Leibes; dessen Auge alles durchschaue,
dessen Füi-sorge alles, das grösste wie das kleinste, umfasse.
Dabei hatte Sokrates nicht das Bedürfniss, das Verhältniss
dieses seines Veiiiunftglaubens zu der Volksreligion, der er
aufrichtig zugethan war, eingehender zu untersuchen ; er redet
nach der Weise der Griechen unterschiedslos bald in der
Mehrzahl von den Göttern, bald in der Einzahl von Gott oder
der Gottheit; er ist überzeugt, dass die Götter alles zu un-
serem Besten lenken, dass wir uns in ihre Schickungen unbe-
dingt zu ergeben, ihren Geboten unbedingt zu gehorchen
Zeller, Vorträg;e and Abhandl. 2
18 Die Entwicklung des Monotheismus
1
haben; und was die Gottesverehrung betrifft, so beruhigt er
sich bei dem Satze, dass eine fromme Gesinnung der beste
Gottesdienst sei, dass im übrigen jeder die Gottheit nach
dem Herkommen seines Volkes verehren möge. Aber doch
lässt sich nicht verkennen, dass sein Religionsglaube in der
Hauptsache von der Einheit des Göttlichen ausgeht. Er läugnet
die vielen Götter der Volksreligion nicht, er hat vielmehr (
ohne Zweifel alles Ernstes an sie geglaubt; aber über diese
vielen Götter hebt sich die Eine weltbildende Vernunft so
entschieden als das wesentliche, für die Einrichtung der Welt
und die sittliche Aufgabe des Menschen allein massgebende
heraus, dass jene neben ihr fast als müssige Zuthaten er-
scheinen. So unterscheidet auch Sokrates selbst in einer
Aeusserung, welche uns Xenophon überliefert hat, zwischen
beiden, wenn er sagt, sowohl die anderen Götter, wie auch
der Bildner und Erhalter des Weltganzen, erweisen uns ihre
Wohlthaten, ohne sich selbst unseren Blicken zu zeigen. Die
Hauptsache liegt für ihn in der Ueberzeugung, dass alles in
der Welt und im menschlichen Leben nach den besten Zwecken,
mit vollkommener Vemirnft, nach einem einheitlichen Plane
geordnet sei; ob es nur Ein Wesen ist, von dem diese Ord-
nung herrührt, oder ob die höchste Gottheit noch andere
Götterwesen als ihre Gehülfen unter sich hat, diess ist eine
Frage, deren Untersuchung ihn wenig bekümmert, weil sie
ihm für sein praktisches Glaubensbedürfniss von keiner Er-
heblichkeit zu sein scheint. Er für seine Pei-son aber müsste
der zweiten Annahme schon desshalb den Vorzug zu geben
geneigt sein, weil sie mit dem Glauben seines Volkes, von
dem er sich zu trennen nicht fllr nothwendig und nicht für
erlaubt hielt, am besten übereinstimmte. Die Einheit Gottes
wird so mit der Vielheit der Volksgötter in der Weise ver-
knüpft, welche den Griechen schon durch ihre Mythologie nahe
gelegt war, und in welcher bereits die Dichter den Philosophen
vorangegangen waren: die vielen Götter werden zu dem
Einen in ein durchaus untergeordnetes Verhältniss gesetzt,
sie haben nur dieselbe Vernunft in den einzelnen Theilen der i
\
bei den Griechen. 19
Welt und den einzelnen Beziehungen des menschlichen Xiebens
zu vertreten, welche als allgemeine, das Weltganze umfassende
Macht in dem höchsten Gott angeschaut wird.
Diesem Wege ist die griechische Philosophie auch in der
Folge in der überwiegenden Mehrzahl ihrer Vertreter treu
geblieben. Auch an solchen fehlt es unter denselben aller-
dings nicht, welche zur Volksreligion eine schroffere Stellung
einnahmen. Hatte Sokrates den höchsten Gott von den übri-
gen imterschieden , so erklärte sein Schüler Antisthenes mit
den Eleaten : in Wahrheit gebe es nur Einen Gott , welchen
wir uns nicht nach menschlichem Bilde vorstellen dürfen, nur
die Meinung der Völker habe die vielen Götter geschaffen;
und er selbst sowohl, als seine Nachfolger, die Cyniker,
machten sich durch eine Freigeisterei bemerklich, die wir
auch später bei den Cynikem der römischen Kaiserzeit
wiederfinden, während sie zugleich die mythischen Ueber-
liefei-ungen durch eine freie allegorische Auslegung für mora-
lische Zwecke zu benützen suchten. Ein anderer Sokratiker,
der sich aber auch sonst von der ächten sokratischen Lehre
weit entfernte, Aristippus, folgte mit seiner Schule den skep-
tischen Ansichten des Protagoras. Von den jüngeren Schulen,
aus der alexandrinischen und der römischen Zeit, sind es die
Skeptiker und die Epikureer, welche sich als Aufklärer dem
religiösen Glauben entgegenstellen. Die ersteren konnten
zwar folgerichtig das Dasein der Götter nicht positiv be-
streiten; aber sie erklärten es für ebenso unbeweisbar, als
jeden anderen wissenschaftlichen Satz; und im Kampf mit
der gleichzeitigen Theologie der stoischen Schule erhob na-
mentlich Kameades, der scharfsinnigste von den alten Skep-
tikern, schon im zweiten Jahrhundert vor Christus gegen den
gewöhnlichen Gottesbegriflf Einwendungen, welche ihre Be-
deutung heute noch nicht ganz verloren haben. Nach einer
anderen Seite hin entfernte sich die zahlreiche, namentlich
unter den Römern verbreitete Schule der Epikureer von dem
Volksglauben. Das Dasein der Götter wollten diese Philosophen
nicht bezweifeln, sie erklärten dasselbe vielmehr für ganz
2*
H
20 ^^ Entwicklung des Monotheismus
unbestreitbar ; aber um dem Grundsatz einer rein physikali-
schen Naturerklärung nichts zu vergeben, und um der aber-
gläubischen Furcht vor der Gottheit ihre Wurzeln abzu-
schneiden, hielten sie es für nöthig, jede Einwirkung der
Götter auf die irdischen Dinge zu beseitigen : die Göttei'
sollten in seliger Ruhe, von unseren Angelegenheiten nicht
berührt und nicht in sie eingreifend, als Gegenstand einer
uneigennützigen Verehrung, in den leeren Zwischenräumen
zwischen den Welten sich aufhalten; innerhalb der letzteren
dagegen sollte alles theils vom Zufall, theils von blinder Natur-
nothwendigkeit regiert werden. Der Monotheismus hatte von
diesem Götterglauben, der sich in seinem praktischen Erfolge
vom Atheismus kaum unterscheidet, nichts zu hoffen; ihm
traten die Epikureer mit demselben Spott entgegen, wie den
Mythen der Volksreligion ; und ebensowenig konnten die Zweifel
.der Skeptiker gegen die Volks Vorstellungen einer reineren
Glaubensweise zugutekommen, da sie das Dasein Eines Gottes
und das Dasein vieler Götter für gleich unerweislich hielten.
Diese Schulen haben daher die Sache des Monotheismus nur
mittelbar gefördert, sofern sie durch die Zersetzung der be-
stehenden Religionen dazu beitrugen, dass einer neuen der
Weg gebahnt wurde.
Indessen hatte diese Denkweise, wie bemerkt, in der
griechischen Philosophie nicht die HeiTSchaft. Die bedeutend-
sten unter den nachsokratischen Philosophen folgten vielmehr
der Richtung, welche schon Sokrates gewählt hatte, um den
Polytheismus mit dem Monotheismus zu versöhnen. Zugleich
giengen sie jedoch darin über Sokrates hinaus, dass sie sich
dem Volksglauben weit freier, als er, gegenüberstellten, und
weit bestimmter auf seine Reinigung durch die Philosophie
drangen. Kein anderer hat aber in dieser Beziehung einen
so eingreifenden, über viele Jahrhunderte sich erstreckenden
Einfluss auf die Entwicklung des religiösen Bewusstseins geübt,
als der grosse Schüler des Sokrates, Plato. Die religiöse
Weltanschauung dieses Philosophen ist in ihren Grundbestim-
mungen ein sehr reiner und geistiger Monotheismus. Ueber
f
bei den Griechen. 21
und hinter der Ei-scheinungswelt liegt nach ihm die Welt der
ewigen, körperlosen, unveränderlichen Wesenheiten, der Ideen;
und an der Spitze der gesammten Ideenwelt steht das Gute,
das unendliche Wesen, welches der Grund alles Denkens und
alles Seins ist, welches den Dingen ihre Wirklichkeit und unsem
Vorstellungen ihre Wahrheit verleiht, nach dem alle unsere
Gedanken und Thätigkeiten ihrer innersten Natur nach hin-
streben, wenn wir es selbst auch nur schwer in seiner reinen
Gestalt, und meist nur in seinen Abbildern und Wirkimgen
zu schauen vermögen. Von dem Guten ist Plato's weltbildende
Gottheit der Sache nach nicht verschieden, und die Idee
des Guten ist es, von welcher sein Gottesbegriflf nach allen
Seiten hin durchdrungen und bestimmt ist. Die Güte ist die
wesentlichste Eigenschaft der Gottheit, aus Güte hat sie die
Welt gebildet, mit Güte und Weisheit lenkt sie die mensch-
lichen Schicksale, im kleinen wie im grossen; wer durch
Reinheit des Lebens ihre Güte und Vollkommenheit nachahmt,
dem müssen alle Dinge am Ende zum besten dienen. An der
Idee des Guten sind imsere Vorstellungen über die Gottheit
zu messen, nach ihr unsere Pflichten gegen sie zu beurtheilen.
Die Gottheit ist nicht eifersüchtig auf das menschliche Glück,
wie der Schicksalsglaube des griechischen Volks wähnte, denn
der Gute ist neidlos. Sie kann sich nicht verändern und sich
nicht anders zeigen, als sie ist, weil das vollkommene unver-
änderlich und weil alle Lüge ihm fi-emd ist. Sie muss durch-
aus geistiger Natur, über Lust und Unlust erhaben, von allen
Uebeln unberührt sein; von ihrer Macht, ihrer Güte, ihrer
Weisheit, ihrer Heiligkeit, ihrer Gerechtigkeit werden wir
uns nur die höchsten und reinsten Vorstellungen machen
dürfen; die Mythen, welche menschliche Schwächen, Leiden-
schaften und Verfehlungen von den Göttern berichten, werden
wir als unwürdige Fabeln bekämpfen müssen. Auch die wahre
Gottesverehrung wird nur in reiner Gesinnung und tugend-
haftem Leben bestehen können, nicht in den Gebeten und
Gaben, mit denen der Unverstand die Götter zu ehren, die
Schlechtigkeit sie zu bestechen hofft. Man wird zugeben
22 ^^6 Entwicklung des Monotheismus
müssen , dass diess Grundsätze sind , wie sie reiner auch auf
christlichem Boden kaum gefunden werden; und so haben
auch wirklich diese platonischen Aussprüche den Lehrern der
christlichen Kirche für ihre Vorstellungen über-^die Gottheit
und für ihre Auffassung biblischer Erzählungen Jahrhunderte
lang zur Richtschnur gedient. Ein Philosoph, der solche An-
sichten aufstellte, war dem griechischen Polytheismus im
wesentlichen entwachsen. Nichtsdestoweniger will auch Plata
denselben nicht unbedingt aufgeben. Und einige Anknüpfungs-
punkte bot ihm allerdings auch sein System. Einestheil&
nämlich stehen unter und neben der Gottheit oder dem Guten
die andern Ideen, welche er auch wohl als die ewigen Götter
bezeichnet; andemtheils konnte sich Plato von der volks-
thümlichen Anschauungsweise nicht trennen, nach welcher die
Gestirne, in der unwandelbaren Gesetzmässigkeit ihres Laufes,
für lebendige Wesen gehalten wurden, denen eine weit höhere
Vernunft inwohne, als dem Menschen, und ebenso hält er auch
das Weltganze für ein lebendes Wesen, von dessen Seele die
aller Einzelwesen herstammen. Die Gestirne sind daher, wie
er sagt, die sichtbaren Götter, und die Welt nennt er den
gewordenen Gott, dessen Schönheit und Vollkommenheit er
nicht hoch genug zu preisen weiss. Die übrigen Gottheiten
des griechischen Volksglaubens dagegen, einen Apollo, eine
Here, eine Athene u. s. w. betrachtet er, wie er unzweideutig
zu verstehen giebt, als mythische Gebilde. Auch sie will er
desshalb allerdings aus dem öffentlichen Kultus nicht entfernt,
und den Glauben an dieselben der öffentlichen Erziehung zu
Grunde gelegt wissen; denn zuerst, sagt er, müssen die Men-
schen durch Lügen erzogen werden, dann erst durch die
Wahrheit, zuerst durch Mythen, dann durch wissenschaftliche
Erkenntniss; wer daher zu der «letzteren nicht gelangt, wie
diess bei der Masse der Menschen der Fall ist, der bleibt
sein Leben lang auf die Mythen und die ihnen entsprechende
Form der Gottesverehning verwiesen. Nur um so ernstlicher
dringt aber der Philosoph darauf, dass die Mythen selbst aus
sittlichen und philosophischen Gesichtspunkten gereinigt, dass
» <
. i
I
bei den Griechen. 23
alles sittlich nachtheilige und der Gottheit unwürdige aus
der religiösen Ueberlieferung und dem Kultus entfernt werde;
und eben hierin liegt der Hauptgrund der Strenge, mit der
er über die grossen Dichter seines Volks urtheilt, und einem
Homer und Hesiod in seinem Staate den Eintritt verwehrt.
Als Dichter würde er sie vielleicht dulden, als Religionslehrer
muss er sie verwerfen. Alles zusammengenommen ist mithin
diess seine Stellung zu unserer Frage. Er selbst ist Mono-
theist und dieser Monotheismus erleidet durch die Lehre von
der höheren Natur der Gestirne kaum eine Beschränkung;
denn diese „sichtbaren Götter" stehen zu dem Einen unsicht-
baren Gott wesentlich in dem gleichen Verhältniss, wie der
Mensch oder sonst eines von den endlichen Wesen. Als Volks-
religion hält er dagegen den hellenischen Polytheismus für
unentbehrlich; aber er knüpft seine Zulässigkeit an die Be-
dingung, dass er einer durchgreifenden Reform unterworfen
und dadurch in seinen Wirkungen mit jenem Monotheismus
so viel wie möglich in Einklang gebracht werde.
Mit Plato ist Aristoteles in allen Hauptpunkten ein-
verstanden. Die Lehre von der Einheit Gottes ist bei ihm
noch schärfer ausgeprägt, als bei jenem. Wie die Welt nur
Eine ist, zeigt er, so müsse sie auch von Einer höchsten Ur-
sache bewegt werden; und diese Ursache kann, wie er weiter
ausführt, nur der ausserweltliche, reine, in nie schlummernder
Denkthätigkeit ununterbrochen wirkende Geist sein. Zugleich
tritt bei ihm die Bestimmung, dass die Gottheit ein persön-
liches Wesen sein müsse, ausdrücklicher, als bei Plato, hervor,
und ist tiefer in seinem ganzen System begründet. Dagegen
wird der sokratisch- platonische Vorsehungsglaube wesentlich
beschränkt: die Gottheit ist nach Aristoteles wohl die erste
bewegende Ursache, welche der Drehung des Himmels ihren
Anstoss giebt, und das höchste Gut, dem alles zustrebt; es
herrscht wohl in der Natur eine durchgängige, unbewusst von
innen heraus in ihr wirkende Zweckthätigkeit, und im mensch-
lichen Leben ein natürlicher Zusammenhang des sittlichen
Werthes mit dem inneren Glücke : aber für ein immittelbares,
2^ Die Entwicklung des Monotheismus
auf's einzelne sich erstreckendes Eingreifen der Gottheit in
den Weltlauf ist im aristotelischen System kein Raum. Neben
dem höchsten Gott nimmt femer auch Aristoteles in den j
Geistern der Stemsphären eine Anzahl anderer ewiger Wesen
an , wie er denn auch das Weltganze für ungeworden und un-
vergängUch erklärt, weil die göttliche Wirksamkeit auf die
Welt ebenso ewig, wie die Gottheit selbst, sein müsse. Auf
jene Sterngeister deutet auch er den polytheistischen Götter-
glauben, so weit er ihm eine Wahrheit zugesteht ; „alles übrige
aber," sagt er, „sind mythische Zuthaten, zur Gewinnung der
Masse, welche um der Gesetzgebung und des gemeinen Nutzens
willen beigefügt sind." Wir haben daher hier gleichfaUs einen
Monotheismus, welcher durch die Annahme von Stemgeistem
nur wenig modificirt ist, und welcher sich von dem platoni-
schen hauptsächlich nur durch seine strengere, phantasielosere
Haltung unterscheidet; einen Monotheismus, welcher für sich
der Volksreligion nicht bedarf, welcher sie aber doch als poli-
tische Nothwendigkeit duldet, und in seinem eigenen System
gewisse Anknüpfungspunkte für sie offen lässt.
Bei der nächsten von den grossen griechischen Philosophen-
schulen, bei der Stoa, wird dieser Monotheismus zum Pan-
theismus. Ein Wesen ist es nach stoischer Lehre, welches
den Stoff und die Form aller Dinge aus sich hervorgehen Hess,
und sie am Ende dieser Weltzeit wieder in sich zurücknehmen
wird, um nach Ablauf einer bestimmten Periode dieselbe Welt
auf's neue zu schaffen und den Kreislauf der Dinge, wie er
von Ewigkeit her dauert, so auch in alle Ewigkeit fortzufüh-
ren. Dieses Wesen ist zugleich der Urstoff und die Urkraft;
es ist das schöpferische Feuer, welches in seiner Umwandlung
die übrigen Elemente hervorbringt; es ist aber auch der
höchste Geist, die Vernunft und das Gesetz der Welt, die
Gottheit. Alles, was ist, ist aus diesem göttlichen Wesen
geworden und von ihm getragen; alle Naturkräfte und alle
Geister sind nur Theile der Einen Kraft , welche sich durch
*
alles ergiesst. Sofern nun in allem eine göttliche Kraft wii'kt,
kann alles zum Gegenstand der religiösen Verehrung gemacht,
bei den Griechen, 25
zu einer Gottheit personificirt werden ; da es aber in Wahrheit
nur Eine Urkraft ist, welche sich in allen Dingen unter ver-
schiedener Form zur Ei-scheinung bringt, so dürfen jene Götter-
gestalten nicht jfilr selbständige persönliche Wesen, sondern
nur fiir mythische Darstellungen der Naturkräfte gehalten
werden, die aus der Einen Quelle des göttlichen Wesens ent-
sprungen, in tausend Armen das Weltall durchströmen. Nach
diesem doppelten Gesichtspunkt bestimmt sich die Auffassung
der Religion in der stoischen Schule. Einestheils führen die
Stoiker gegen die Skepsis und den Epikureismus die Sache
des Volksglaubens; sie suchen zu zeigen, dass die Götter-
vorstellungen und die Mythen, selbst die scheinbar unwürdig-
sten und vernunftwidrigsten, ihren guten Sinn haben, sie wollen
auch den Weissagungsglauben und ähnliche Dinge in Schutz
nehmen. Andererseits aber können sie diess alles nicht in
demselben Sinn gutheissen, den es im Glauben des Volksr
hatte : an die Stelle der Götter treten ihnen Naturdinge , die
Gestirne, die Elemente, die Früchte der Erde, die grossen
Männer und Wohlthäter der Menschheit; an die Stelle der
unmittelbaren göttlichen Offenbarungen die natüi'Hchen Vor-
ziehen künftiger Ereignisse, welche der Kundige vermöge
des Zusanmienhangs aller Dinge erkennen und entziffern kann.
Ihre Behandlung der Volksreligion ist daher eine fortwährende
Umdeutung derselben; sie sind die Haupturheber jener alle-
gorischen Erklärungsweise, welche von den Griechen zu den
Juden und weiterhin zu den Christen gekommen ist und bei
beiden so viele Verwirrung gestiftet hat. Ein pantheistischer
Monotheismus sucht sich hier mit dem Polytheismus durch
künstliche Mittel abzufinden. Dass aber beide nichtsdesto-
weniger verschiedenen Wesens sind, diess verbirgt sich auch
bei den Stoikern nicht ganz. Auch von ihnen sind uns nicht
allein viele schöne Aussprüche über die Gottheit, über die
Werthlosigkeit eines blos äusserlichen Gottesdienstes und die
Nothwendigkeit einer geistigen Gottesverehrung, sondern auch
sehr scharfe imd freie Urtheile über die Mythen und den
Kultus des Volksglaubens überliefert; aber die Schule im
Die Entwicklung des Monotheismos
itte ZU wenig kritischen Sinn, um sich über ihr Ver-
n demselben vollkommen klar zu werden,
lato, Aristoteles und den Stoikern haben wir nun die
itqueUen der Religionsansichten kennen gelernt, an
^ viele Jahrhunderte lang in der griechisch - römi-
1 der griechisch-orientalischen Welt alle die hielten,
; Volksreligion zu trttbe, die Religionslosigkeit zu
[nd zu leer war. In dem Eklekticismus der römi-
iode verschmolzen sidi die Lehren jener Männer in
icbiedensten Mischungsverhältnissen; zugleich ver-
ich aber auch bei den Philosophen mehr und mehr
ing, sich an die positive Religion anzulehnen und
icher OfFenbanmg die Mittheilung der W^rheit zu
. an deren selbstthätiger ÄuMndung das ermattende
chon seit dem Auftreten der Skepsis zu verzweifein
hatte. Und je weitei- nun durch die reinere Gottes-
platonischen und aristotelischen Schule die Gottheit
ä Endliche und Irdische hinausgerUckt war, um so
regte sich das Bedtirfiiiss, eine Vermittlung zwischen
i solchen Wesen zu finden, die höher sein sollten,
(ensch, aber zugleich der Welt und dem Menseben
hen, als die Gottheit. Daher die Bedeutung, welche
Dämonenglaube gewinnt. Früher war dieser Glaube
untergeordneter Bestandtbeil der Volksreligion ge-
n Philosophen, wie Flato, wohl gelegenheitlich bentltz-
abei' ihrer eigenen Ueberzeugung fremd blieb. Jetzt
eine Sache dfö emstlichsten religiösen Interesses.
Einen Gott der Philosophen hatte man zu hohe
als dass man ihn mit seiner Thätigkeit und seinem
den Naturlauf und die menschlichen Angelegenheiten
chten gewagt hätte. Die Volksgötter, welche in
■flochten sein sollten , wusste man ebendesswegen
Götter im strengen und vollen Sinn zu halten.
Bedürfniss, welches den Polytheismus erzeugt hatte,
nicht beseitigt; man konnte sich von der Gewobn-
; losmachen, das Göttliche in sinnlicher Gegenwart
1
■
bei den Griechen. 27
und begrenzter Erscheinung sich zur Anschauung zu bringen.
Was blieb übrig, als der Gottheit eine Anzahl von unter-
geordneten Wesen zur Seite zu stellen, welche das Band
zwischen ihr und der Welt sein sollten, indem sie die gött-
lichen Kräfte in's Endliche überführten, die einzelnen Theile
der Welt und die einzelnen Menschen in ihre besondere Ob-
hut nahmen? Diese Wesen sind nun die Dämonen. Sie sind
die alten Götter des Polytheismus, aber ihrer Selbstherrlich-
keit entkleidet, dem Einen monotheistischen Gott als seine
Diener und Werkzeuge untergeordnet. Indem die Dämonen
für das religiöse Bewusstsein in die Stelle der Götter ein-
rücken, erklärt sich der Polytheismus bereit, sich dem Mono-
theismus zu imterwerfen, falls dieser ihm innerhalb seiner
wenigstens eine untergeordnete Stellung zu gewähren ge-
neigt sei.
Diese Neigung war nun eben damals in der einzigen streng
monotheistischen Religion des Alterthums, im Judenthum, weit
verbreitet. In den nächsten Jahrhunderten nach dem baby-
lonischen Exil war in dem Glauben an Engel und Teufel ein
neues Element in den jüdischen Vorstellungskreis eingedrungen,
welches der polytheistischen Denkweise innerhalb des Mono-
theismus eine gewisse Befiiedigung darbot. Zwischen den
alten Göttern, welche sich als Dämonen und üntergötter.
einem höchsten Gott unterworfen hatten, und zwischen den
dienstbaren Geistern, welche den Einen Gott des Judenthums
jetzt umgaben, war der Unterschied so gering, dass einer
Verschmelzung beider nichts wesentliches im Wege zu stehen
schien. Und bereits begannen auch die jüdischen Alexan-
driner eine Theorie über die göttlichen Kräfte und über den
Träger aller dieser Kräfte, den „Logos" oder das Wort Gottes,
aufizustellen , in welcher der jüdische Engelglaube mit dem
griechischen Dämonenglauben und mit den Lehren der Philo-
sophen von den Ideen und von der allgemeinen, alles durch-
dringenden göttlichen Vernunft (dem göttlichen „Logos") die
engste Verbindung eingieng. Diese Verschmelzung der Reli-
gionen war aber auch noch von einer anderen Seite her vor-
28 IMs Entwicklung des Monotheismus
bereitet. Theils , durch die Völkermischung der aleuindrini-
BcheB und römischen Zeit, theils durch die griechische Philo-
sophie waren die Schranken durchbrochen worden, welche bis
dahin die Nationen in selbstgenilgsanier Abgeschlossenheit
von einander getrennt hielten. Der Hellene musste sich ge-
wöhnen , auch bei den „Barbaren" die sittlichen und geistigen
Eigenscbaften anzuerkennen , auf deren venneintlichen Allein-
besitz sich seine stolze Verachtung alles ungriechischen bisher
gestützt hatte; der Jude musste an der ausschließlichen Er-
wählung seines Volkes iiTe werden, nachdem er bei den Giiechen
einer überlegenen GeistesbEdung , die denn doch auch eine
Gottesgabe war, und auch in religiösen Dingen einer Einsicht
begegnet war, mit deren Anerkennung sich seine National-
eitelkeit kümmerlich genug durch das bodenlose Vorgeben
abfand, dass die alten griechischen Weisen ihie Schätze von
den jüdischen Propheten und den alttestamentlichen Schriften
geborgt haben. So kam allmählich die Erkenntniss zum
Durchbrueh, deren nachhaltige Verbreitung der stoischen
Schule vor allem zum unsterblichen Verdienst anzurechnen
ist: dass alle Menschen vermöge ihrer vernünftigen Natur
gleiches Wesens seien und unter dem gleichen Gesetz stehen;
dass sie dieselben natürlichen Rechte und dieselben sittlichen
Pflichten haben; dass sie alle gleiehsehr als Kinder Gottes,
als Bürger Eines und desselben, die ganze Menschheit um-
fassenden Gemeinwesens zu betrachten seien. Man lernte das
Verhältniss des Menschen zur Gottheit als ein unmittelbare
und innerliches, an keine Nationalität, keinen Stand, kein
Geschlecht gebundenes auffassen, den Gottesdienst der from-
men Gesinnung und des tugendhaften Lebens für wesentlicher
ansehen, als die nationalen Kultusformen, die priesteiliche
Vermittlung für den Verkehr des Menschen mit der Gottheit
entbehren. Diese Läuterung des sittlich religiösen Bewusst-
seins hatte sieh in umfassenderer Weise zuerst hei den Grie-
chen und durch die griechische Philosophie vollzogen; auch
das Judenthum hatte sich ihr aber nicht verschlossen, und
seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert war hier im
i.^
bei den Griechen. 29
Essäismus eine Parthei aufgetreten, welche in unverkennbarem
Zusammenhang mit dem griechischen Neupythagoreismus und
durch diesen mit der gesammten Philosophie jener Zeit, einer
innerlichen, weltscheuen, auf Armuth und Entsagung, auf all-
gemeine Menschenliebe und Aufhebung aller Ungleichheit unter
den Menschen gerichteten Frömmigkeit sich ergab, gegen die
nationalen Messiashoffnungen dagegen sich gleichgültig verhielt,
das ganze Opferwesen, den Mittelpunkt der jüdischen Gottes-
verehrung, verwarf, und den hierarchischen Einrichtungen des
Judenthums einen klösterlich organisirten Verein von Asceten
gegenüberstellte. Diese Veränderung des sittlichen Bewusst-
seins hängt aber selbst wieder mit der Entwicklung der Vor-
stellungen von der Gottheit auf's engste zusammen. Wenn
an die Stelle der vielen Volksgötter der Eine Gott trat, dessen
Reich die ganze Welt ist, so musste auch Ein göttliches Recht
und Gesetz alle Menschen umfassen, es musste ebendamit
nicht allein der nationale Partikularismus fallen, sondern auch
der allgemeine Gottesdienst des frommen Lebens den beson-
deren und äusserlichen Kultusformen gegenüber als das we-
sentliche erscheinen. Ebenso aber umgekehrt : wenn man sich
der Zusammengehörigkeit und Gleichheit aller Menschen be-
wusst wurde, konnte man nicht an der Verschiedenheit ihrer
Götter festhalten; wenn die Menschheit nur Eine ist, wenn
sie Eine Bestimmung hat und unter Einem Gesetz steht, wird
es nur Eine und dieselbe Macht sein können, von der alle
Menschen geschaffen und beherrscht sind. Der Glaube an die
Einheit Gottes und der Glaube an die Gleichheit aller Men-
schen und ihrer sittlichen Aufgaben bedingen sich gegenseitig ;
beide haben sich daher zusammen in der alten Welt ent-
wickelt und so dem Christenthum den Boden bereitet, in
welchen es den Keim einer neuen Religion und eines neuen
sittlichen Lebens nicht etwa nur von aussen her einpflanzen,
sondern aus dem es selbst erst nach den Gesetzen geschicht-
licher Entwicklung herauswachsen und seinen NahrungsstofF
ziehen konnte.
' ' 1
w
30 ^^6 Entwicklung des Monotheismus
Aber so bedeutend auch die Stelle ist, welche die grie- i.
chische Philosophie unter den Vorbereitungen des Christen- \
thums einnimmt: als nun dieses selbst in seiner Eigenthüm- j
lichkeit hervortrat und den polytheistischen Volksreligionen I
der Vorzeit den Krieg erklärte, da wurde eben diese Philo- |
Sophie der letzte Vorkämpfer des Heidenthums. Ohne alle
Einschränkung kann man diess allerdings nicht sagen. Nicht
ganz wenige philosophisch gebildete Männer traten zu der
neuen Jleligion über; noch weit mehrere erwarben sich als
Christen in den Schulen der Philosophen die wissenschaftliche
Bildung, deren sie zur Vertheidigung und zum theologischen
Ausbau ihres Glaubens bedurften. Die hellenische Philosophie
hat so nicht blos ausser der Kirche und gegen die Kirche,
sondeiTi auch in ihr und für sie gewirkt; und eine genauere
Untersuchung würde zeigen, dass ihr Einfluss auf die christ-
liche Theologie und die christliche Sitte von Anfang an un-
gleich umfassender und nachhaltiger gewesen ist, als man
sich diess gewöhnlich vorstellt. Aber die Mehrzahl der grie-
chischen Philosophen stand einem Glauben, der ihnen in dem
positiven seiner Dogmatik als Aberglaube , in seiner Bekäm-
pfung der bestehenden Religionen als Frevel erschien, mit
tiefer Geringschätzung, und seit dieser Glaube zu einer gefahr-
drohenden, am Ende zu einer siegreichen Macht herange-
wachsen war, mit bitterem Hasse gegenüber. Um die Mitte
des dritten Jahrhimderts fasste die griechische Philosophie
alle Kräfte, die ihr noch gebUeben waren, in der neuplatoni-
schen Schule zum letztenmale zusammen. Das Lehrsystem
dieser Schule erscheint seinem theologischen Inhalt nach als
ein scharfsinnig durchgeführter Versuch, den philosophischen
Monotheismus mit jenem Polytheismus, von dem sich der Sinn
des Hellenen so schwer losriss, zu verknüpfen. Die Art der
Verknüpfung ist derjenigen nahe verwandt, welche uns schon
in der stoischen Lehre begegnet ist, wenn auch die näheren
Bestimmungen anders lauten. Ein höchstes Wesen wird an-
genommen, bestimmungslos, unfassbar, unbegreiflich, aber zu-
gleich die Quelle alles Seins und der Sitz aller Vollkommenheit.
\
il
J
bei den Griechen. 31
Von ihm geht durch ein üebei'fliessen seiner Fülle, durch
eine naturnothwendige Wirkung seiner Kraft, die Stufenreihe
des Endlichen aus; aber je weiter sich die Dinge von ihrem
Urquell entfernen, je mehr Vermittlungen zwischen beiden
liegen, um so unvollkommener werden sie, bis am Ende das
lautere ^Licht der göttlichen Kräfte in dem Dunkel der Ma-
terie erlischt. Alle Dinge bilden somit eine Stufenleiter ab-
nehmender Vollkommenheit; alle sind von göttlichen Kräften
getragen , diese sind jedoch in verschiedenem Mass und ver-
schiedener Eeinheit an sie vertheilt. Eben desshalb aber,
sagen die Neuplatoniker, ist es nothwendig, dass wir von den
tieferen Stufen duich die natürlichen Zwischenglieder zu den
höheren vordringen, dass wir uns von den unteren Göttern in
geordnetem Aufsteigen zu dem höchsten Gott hinführen lassen,
dass wir die sinnlichen Vermittlungen der geistigen Güter
nicht verschmähen; und indem sie nun griechische und orien-
talische Gottheiten mit aller Willkühi* der herkömmlichen
allegorischen Erklärung auf die abstrakten Kategorieen ihrer
Metaphysik umdeuten, indem sie die naturgemässe Vermitt-
lung eines höheren Lebens nicht in der Erkenntniss und Be-
arbeitung des Wirklichen, sondern in den gottesdienstlichen
Handlungen aller Volksreligionen und Geheimdienste, in Opfern
und Gebeten, Wahrsagung und Weihen, Bilderverehrung und
Theurgie suchen, findet alles rohe und phantastische der My-
thologie , alle Aeusserlichkeiten des Kultus , all der vielgestal-
tige Aberglaube von Jahrtausenden in ihrem System eine er-
künstelte Rechtfertigung. Der reineren Lehre und der sitt-
lichen Kraft des Christenthums konnte dieses System auf die
Dauer nicht Stand halten ; aber so gross war selbst im Unter-
liegen die Macht des ermatteten und sich selbst in so vielen
Beziehungen untreu gewordenen griechischen Geistes, dass die
siegreiche Kirche die gleiche Philosophie, welche ihr den helle-
nischen Boden bis auf's äusserste streitig gemacht hatte, noch
während des Kampfes in sich aufnahm. Der Neuplatonismus
ist besiegt worden, so weit er sich mit dem Heidenthum iden-
tifidrt hatte; als eine Foim der christlichen Spekulation hat
I
32 ^ie Entwicklung des Monotheismus bei den Griechen.
ihn die Kirche sich angeeignet, sie hat den Schriften, welche
ein christhcher Neuplatoniker, um 500 n. Chr, dem Areopa-
giten Dionysius unterschoben hatte, die höchste Verehrung
gezollt, ihre Dogmen, ihre Sacramente, ihre hierarchischen
Einrichtungen mit denselben Gründen vertheidigt, welche sie
fi'üher bei ihren heidnischen Gegnern zu bekämpfen, gehabt
hatte. Auch nach dieser Seite lässt sich der Einfluss des
griechischen Wesens bis in die Gegenwart herab verfolgen.
Ungleich wichtiger ist aber freilich der Dienst, welchen die
griechische Wissenschaft in der entgegengesetzten Richtung,
durch die Läuterung der religiösen VoMellungen und die
Reinigung der sittlichen Begriffe, der ganzen Folgezeit ge-
leistet hat; und von dieser Leistung wünsche ich, so weit die
engen Grenzen meiner Aufjgabe es verstatteten, eine nicht allzu
ungenügende Vorstellung gegeben zu haben.
1
1
2.
Pythagoras und die Fythagorassage.
Es ist ein eigenthümlicher Zug in der menschlichen Natur,
dass ihr das grosse, was uns im Leben entgegentritt, so wie
es in der Wirklichkeit ist, nur selten genügt; je bedeutender
vielmehr der Eindruck ist, den eine Person oder ein Ereig-
niss zurticklässt, um so stärker ist auch bei den meisten die
Neigung, ihr geschichtliches Bild mit freien Zuthaten zu be-
reichem, es zu idealisiren, es nach dogmatischen Voraussetz-
ungen oder praktischen Interessen umzugestalten, es mit dem
Glänze des Wunderbaren zu umgeben. Der Freund der Dichtung
wird sich dieses Hanges erfreuen, der Psycholog wird ihn ohne
Mühe aus dem Wesen der Phantasie erklären ; aber er ist die
Verzweiflung des Geschichtsforschers, dem er es so oft un-
möglich macht, den historischen Kern aus dem Gewirre von
Sage und Dichtung herauszufinden, welches viele von den
grössten Erscheinungen und den wichtigsten Vorgängen um-
rankt hat. Auf keinem anderen Gebiete haben wir aber mit
dieser Neigung in höherem Grade zu kämpfen, als auf dem
der Religionsgeschichte. Denn einestheils fallen die meisten
Religionen mit ihrer Entstehung und ihren wichtigsten Ver-
änderungen in Zeiten, in denen es zu einer geschichtlichen
Erinnening überhaupt noch nicht gekommen ist, oder sie ge-
hören wenigstens Bildungskreisen an, denen es an historischem
Sinn und Bewusstsein viel zu sehr fehlt, als dass sie dem
Zeller, Vorträge und AbhandL 3
34 Pythagoras
Beize zur sagenhaften Ausschmückung der Thatsachen zu
widerstehen, das geschichtliehe in den Erzählungen vom un-
geschichtlichen kritisch zu sondern wüssten; anderntheils bringt es
der eigenthtimliche Inhalt und Standpunkt der religiösen üeber-
üeferung mit sich, dass man hier mehr, als bei jeder andern
Geschichte, ausserordentliches zu ei-warten, von den natür-
lichen Ursachen der Erfolge auf übernatürliche zurückzugehen,
die handelnden Personen, als Organe der Gottheit, über die
Schranken ihrer Individualität, ja über die der menschlichen
Natur, hinauszurücken geneigt ist. Der Geschichtsforscher
kommt daher hier gerade besonders oft in den Fall, von müh-
samen Untersuchungen nur eine kleine Ausbeute an geschicht-
lich gewissen oder auch nur wahrscheinlichen Thatsachen
heimzubringen; und je umsichtiger er den Werth und die
Glaubwürdigkeit der Erzählungen prüft, um so häufiger wird
es ihm begegnen, dBSS er nicht über das negative Ergebniss
hinausgelangt, es könne sich in der Wirklichkeit nicht so
verhalten haben, wie unsere Berichte behaupten, was aber
eigentlich geschehen ist, lasse sich nicht mehr mit Sicherheit
ausmitteln. Ohne Frucht wird freilich seine Arbeit auch in
diesem Fall nicht sein. Kann sie uns auch das Wissen, wel-
ches wir suchen, nur theilweise verschaffen, so wird sie uns
doch um so sicherer von dem Wahne eines vermeintlichen
Wissens befreien; und müssen wir auch auf die geschichtliche
Kenntaiss mancher Vorgänge verzichten, so ist doch die Sagen-
bildung auch eine That des menschlichen Geistes, der es sich
verlohnt auf ihren oft so verschlungenen Pfaden nachzugehen.
Auch die Geschichte des Pythagoras verdankt einen we-
sentlichen Theil ihres Interesses dem Sagenkreis, der sich an
sie angesetzt hat. Die ehrwürdige Gestalt dieses Weisen
strahlt im Licht eines Buhmes von bald dritthalb Jahrtau-
senden; an seiner grossen geschichtlichen Bedeutung, an
seinem vielseitig eingreifenden Einfluss können wir nicht
zweifeln; aber wenn wir angeben sollen, was er denn nun
eigentlich gewesen ist und wie er gewirkt hat, so kommen
wir sofort in Verlegenheit. Wir wissen wohl, wie spätere
.^_.
und die Pythagorassage. 35
Zeiten sich seine Persönlichkeit und sein Leben vorgestellt
haben; aber in diesen Vorstellungen ist des abenteuerlichen
und offenbar ungeschichtlichen so viel, dass es schwer ist,
durch das dichte Gestrüppe von Sagen, das ihn umgiebt, den
Weg zur geschichtlichen Betrachtung zu finden; und auch
wer am weitesten darin vorgedrungen ist, der wird sich inimer
noch^gestehen müssen, dass seine Ergebnisse von der Sicher-
heit und Vollständigkeit einer genauen .geschichtlichen Kennt-
niss weit entfernt sind. Ich stelle im folgenden zunächst das
in der Kürze zusammen, was sich über Pythagoras und seine
Geschichte mit annähernder Gewissheit behaupten lässt, um
dann hieran anknüpfend zu zeigen, was die Sage aus diesem
historischen Grundstock gemacht hat.
Das Leben des Pythagoras gehör.t dem sechsten Jahr-
hundert vor Christi Geburt an; er kam, wie es scheint, noch
im ersten Viei-theil desselben zur Welt und hat sein Ende
nicht mehr erlebt. Es war diess für das griechische Volk
eine Zeit der mannigfaltigsten und fruchtbarsten Thätigkeit,
der eingreifendsten und wohlthätigsten Fortschritte. Nach
der unruhigen Bewegung, in welche die dorische Wanderung
im zwölften und eilften Jahrhundert fast alle griechischen
Stämme versetzt hatte, und nach der endlichen Feststellung
der Grenzen, die sie von da an einnahmen, war seit. dem
9ten Jahrhundert eine Periode des staunenswerthesten äusseren
Wachsthums eingetreten. Die Hellenen waren zwar keine
welterobernde Nation, wie die Römer; aber als rüstige See-
fahrer und rührige Kaufleute zogen sie ein weites Gebiet durch
Anlegung von Kolonieen in den Bereich ihres Handels und ihrer
Bildung. Gerade im sechsten Jahrhundert hatte diese Kolo-
nisation ihren Höhepunkt erreicht. Von der Krim bis nach
*Nordafrika, von den Kaukasusländem bis nach ünteritalien
und Sicilien, ja bis in's ferne Gallien und bis zu den Säulen
des 'Herkules , waren die Inseln und Küsten mit hellenischen
Pflanzstädten bedeckt, von denen die meisten eine hohe Stufe
der Macht und des Wohlstandes erreichten. Das schwarze
^ie das mittelländische Meer war den Griechen zinsbar; mit
3*
Pythagoras
idel gieng die Thätigkeit der Gewerbe Hand io Haod;
Schätzen der Fremde strömte ein Beichthum neuer
mgea und erweiterter Weltbenntniss in die Städte,
Wohlstand wuchs das Selbstgefühl und die Bildung
rger, und auch die kriegerische Tüchtigkeit derselben
irch Erfolge genährt, welche sich in der Regel nur
Waffen in der Hand erringen und behaupten Uessen.
i Verfassungsformen wurden fast allenthalben für den
en Gesichtskreis, die gesteigerten Ansprüche und die
ten Verhältnisse zu eng; die Herrschaft des Grund-
rde durch freiere Einrichtungen verdrängt; in vielen
;tQrzte zunächst ein ehrgeiziger VolksfUhrer die Ari-
um eine Gewaltherrschaft für sich und seine Familie
nden, die nach einem oder zwei Menschenaltem der
tie weichen musste. Nachdem schon im neunten
ert Lykurg das spartanische Staatswesen durch Ge-
rdnet hatte, gaben im siebenten Zaleukus und Gha-
lald nach dem Anfange des sechsten der grosse Solon
bewunderten Gesetze. Der Wettkampf der Kräfte
Reibung der Fartheien gab reichliche Ani'egung zum
[en über die sittlichen Angaben des Menschen und
[ des menschhehen Lebens; aus der Schule der Er-
gieng jene Spruchweisheit hervor, deren SlUthe die
le Sage durch die Erzählung von den sieben Weisen
Anfang des sechsten Jahrhunderts verlegt hat. An
chtiteg des Menschenlebens schloss sich die der Natur
'oUes Menschenalter vor Pythagoras hatte der Milesier
der al^oni^chen Schule die ei-sten Keime der grie-
Fbilosophie niedergelegt, und so dürftig auch seine
mui^en nodi waren, so ist doch aus diföen unschein-
fängen in raschem Wachsthum die glänzendste wissen-
e Entwicklung hervorgegangen. Noch älter ist der
ng der griechischen Kunst; und es ist nicht blos die
?t, welche nach den unsterblichen Werken des home-
eitalters in der äolischen Lyrik, in der Elegie und
dichtung neue Sahnen betrat, sondern bereits hatte
und die Pythagorassage. 37
auch die bildende Kunst und die Baukunst, durch eingreifende
lechnische Erfindungen unterstützt, sich von der früheren
Gebundenheit zu befreien, einen eigenthümlich hellenischen
Styl aus2ubilden begonnen. Auch in dem religiösen Glauben
und dem Kultus kommen tiefgehende Neuerungen zum Vor-
schein. Einerseits hatte sich schon seit Jahrhunderten still
und aHmählich eine Reinigung und Vertiefung des religiösen
Bewusstseins vollzogen, für welche der Dienst des Apollo imd
der Einfluss seiner Orakel den Mittelpunkt bildet; anderer-
seits sehen wir sdt dem siebenten Jahrhundert in den diony-
sischen Mysterien, unter der Auktorität altehrwürdiger Namen,
wie Orpheus und Melampus, Anschauungen und Kulte auf-
treten , welche der älteren Zeit theils ganz fremd , theils auf
kleinere Kreise und örtliche Ueberlieferungen beschränkt
waren. Das Absterben der Natur im Winter und ihr Wieder-
aufleben im Frühling, wie es in den alten Symbolen und My-
then des Demeter- und Dionysosdienstes dargestellt war, wird
jetzt auf die menschliche Seele und ihre Geschichte über-
tragen; der Glaube an eine jenseitige Vergeltung gewinnt an
Inhalt und Verbreitung, und seit dem Anfang des sechsten
Jahrhunderts begegnet uns die Lehre, welche diesem Glauben
bei den Griechen zum hauptsächlichsten Stützpunkt gedient
hat, die Lehre von der Seelenwanderung: sei es dass sie um
diese Zeit aus Aegypten eingeführt wurde, oder dass sie schon
früher vorhanden, aber bis dahin unbeachtet, jetzt erst aus
der Verborgenheit hervortrat. Jene Zeit war so auf allen
Gebieten, und namentlich auf dem des geistigen und sittlichen
Lebens, in einer Umgestaltung, im üebergang zu einem Neuen
begriffen, das seine Vollendung und bestimmtere Ausbildung
erst von der Zukunft zu erwarten hatte. — Wie es aber in
solchen bewegten und vorwärtsstrebenden Zeiten immer der
Fall ist, so mochte auch ein Grieche des sechsten Jahrhunderts
in der seinigen gar manches finden, was sein Missfallen und
seine Besorgniss hervorrief. Durch den Verfall der älteren
Ordnungen und den Streit der Partheien war das öffentliche
Lebßn vieler Städte in tiefe Zen-üttung gerathen. Die demo-
38 Pythagoras
kratiscfae Freibeit, welche sich Bahn brach, war ohne Zw^el
nicht selten in Ungebundenheit ausgeartet, and noch mehr,
als diess wirklich der Fall war, mochte es strengdeDkenden
Männern der alten Zeit so erscheinen. Die Gewfdthfirrschaft
der Tyrannen, wenn sie auch für die meisten Städte eine
wohlthäüge Uebei'gangsform war, brachte doch fttr die Gegen-
wart alle die Uebel mit sich, welche vom Despotismus, selbst
dem au^eklärten, nie zu trennen sind, und gerade die Vater-
stadt des Pythagoraß, Samos, machte darüber eben damals,
seit dem zweiten Drittheil des sech8t«ii Jahrhunderts, unter
der glänzenden Regierung des Polykrates, ihre Erfahrungen.
Von aussen her drohten , erst durch das Anwachsen der lydi-
schen Macht, dann durch die Gründung des peraischen Reiches,
Gefahren, die sich bald nach der Mitte des sechsten Jahr-
hunderts über die kleinasiatischen Griechen in verheerenden
Stürmen entladen sollten. Eine derartige Zeit war in der
That ganz geeignet, einem ernsten und tiefsinnigen Manne zu
reformatorischem Auftreten die vielfachste Anregung zu geben.
In welcher Weise nun und durch welche Vermittlungen
Pythagoras die Bildungsstoffe zugeführt wurden, die in jeuer
Zeit lagen, darüber ist uns zwar mancherlei überliefert; aber
keine von diesen Ueberhefeiimgen ist so beschaffen, dass wir
mit einiger Sicherheit darauf bauen können. Nur das wissen
wir, was schon der alte Heraklit, wenige Jahrzehende nach
Pythagoras' Tode, bezeugt, dass er der wissbegierigste und
kenntnissreichste Mann seiner Zeit war. Bei dieser Foi-schung
war es ihm aber nicht blos um wissenschaftliche Erkenntniss
zu thun: hat sich auch in der Folge eine Schule von Philo-
sophen und Naturforschern an ihn angeschlossen, so ist doch
das wissenschaftliehe Gebiet weder das einzige noch das ur-
sprünglichste Feld seiner Thätigkeit. Pythagoras ist einer von
jenen umfassenden Geistern, in denen die mannigfaltigsten
Bestrebungen und BUdungselemente sich verknüpfen, und von
denen befruchtende Wirkungen nach den verschiedensten Seiten
hin ausgehen. Zunächst aber war es das sittlich-reli^öse
Leben, für das er wirken wollte; und er schliesst sich insofern
und die Pythagorassage. 39
an eijie Reihe verwandter Erscheinungen an, welche um dieselbe
Zeit und schon fi-tiher hervortreten, wie die orphisch - dionysi-
sehen Mysterien, wie Epimenides, der kretische Prophet, der
Solon's Reform in Athto unterstützte, wie Pherecydes, der
angebliche Lehrer des Pjthagoras, und andere religiös und
politisch bedeutende Männer. In diesem Sinne scheint Pytha-
goras schon in seiner Vaterstadt Samos thätig gewesen zu
sein. Seinen eigentlichen Wirkungskieis fand er aber in den
unteritalischen Griechenstädten, welche damals mit ihren klein-
asiatischen Stammverwandten in lebhaftem Verkehr standen.
Um die Mitte oder nach der Mitte des sechsten Jahrhunderts
begab er sieh dorthin, und nahm seinen Wohnsitz in Kroton,
einer Pflanzstadt der Acbäer, im jetzigen Galabrien, am süd-
westlichen Ende des tarentinischen Meerbusens, im Alterthume
berühmt durch die Gesundheit ihrer Lage, wie durch dte
kräftigen Männer und die gewaltigen Athleten, die sie grosszog.
Wir sind nicht näher darüber unterrichtet, was den Pytha-
goras zu diesem Schritte veranlasste : ob vielleicht die Gewalt-
herrschaft des Polykrates, oder die Gefahr persischer Unter-
jochung, welcher nicht wenige von den kleinasiatischen Griechen
sich durch Auswanderung entzogen, oder was es sonst war;
hätte er aber auch nur im aJlgen^einen die Absicht gehabt,
$ich den günstigsten Boden für seine Zwecke zu suchen, so
hätte er schweriich einen dankbareren wählen können. In
Kroton gelang es dem Philosophen, einen Verein zu begründen,
der sich seiner Leitung ganz hingab, und der nicht blos in
dieser Stadt zahlreiche Theilnahme fand, sondem von hier aus
auch noch in mehrere andere von den griechischen Städten
Unteritaliens und Siciliens sich verbreitete. Die Mitglieder
desselben wui-den nach seinem Stifter Pythagoreer genannt;
doch scheint diese Bezeichnung zunächst ein von den Gegnern
oder dem Volk aufgebrachter Partheiname gewesen zu sein.
Seinen innersten Mittelpunkt hatte der Verein an religiösen
Lehren und Gebräuchen, welche denen der Orphiker nahe
verwandt sind. Sein eigenthümlichstes Dogma liegt in dem
Glauben an die Seelenwanderung und die Vergeltung nach
40 ryÖMBt"*«
dem Tode, der einzigen Lehr'iestimmui^, die wir mit voller
Sicherheit auf Pythagoras selfist zurückführen können. Mit
diesem Glauben standen froitesdiensüiche Feierlichkeiten in
Verbindui^, welche schon Herodot mit den orphischen und
hakchischen Geheimdiensten zusammensteUt, und welche, wie
diese, nur den Göttern der Unterwelt gegolten haben können,
vor denen die Seelen nach ihrem Tode erscheinen, mit denen
die geweihten und von den Göttern begnadigten, der Mysterien-
lehre zufolge, im Hades zu Tische sitzen sollten. Wie endlich
mit der Theilnahme an den orphischen Weihen die Verpflich-
tung zu einer gewissen äusseren Reinheit des Lebens ver-
bunden war, so findet sich ähnHches auch bei den Pythago-
reem: sie durften einige Fische und gewisse Eingeweide der
Thiere (wie namentlich das Herz, als Sitz des Lebens) nicht
geniessen, sie nahmen zu Todtenkleidem nicht wollene, son-
dern leinene Stoffe, weil jene (wegen ihres thierisdien Ur-
spnmgs) für weniger rein galten, und was sonst noch der-
artiges bei ihnen in üebung gewesen sein mag.
Während aber diess alles in den gewöhnlidien Mysterien
einen ziemlich äusserlichen und abei^läubischen Charakter
gehabt zu haben sdieint, liegt das auszeichnende des Pytha-
goras in dem reinen sittlichen Geiste, in dem er jene Ueber-
lieferungen und Gebräuche behandelt und benützt hat. Er ist
nicht blos ein Stifter orphischer Geheimdienste, sondern er
ist auch ein Priester Apollo's, mit dem ihn die Sage, wie wii'
finden werden, in die vielfachste Beziehung setzt, ein Priester
des Gottes, in welchem der griechische Geist mehr, als in
irgend einem andern, sein Ideal der sittlichen Schönheit, des
masshaltenden Willens, niedergelegt hat. Ein Prophet der
hellenischen Götter, hat er die Macht und das Dasein dieser
Götter gewiss nicht bezweifelt; aber zugleich hören wir von
schai-fem Tadel, den er über ihre Schilderung bei Homer und
Hesiod ausgesprochen habe, und in seiner Schule begegnen
uns Äeusserungen über die Einheit und Geistigkeit Gottes,
die uns bei Anhängern einer polytheistischen Religion in Er-
staunen setzen müssten, wenn nicht ähnliches gleichzeitig auch
und die Pythagorassage. 41
bei andern, und nicht blos bei Philosophen, welche den Volks-
glauben bestlitten, sondern auch bei Dichtem, welche ihn
theilten undWerheiTlichten, vorkäme. Er verkündigt in der
Lehre von der Seelenwanderung einen Glauben, der uns höchst
seltsam erscheinen muss, und der auch wirklich zu vielen
Abenteuerlichkeiten und abergläubischen Meinungen Anlass
gegeben hat; aber ihm dient diese Lehre dazu, seinen An-
hängern einzuschärfen, dass sittliche Reinigung die höchste
Lebensaufgabe, dass unser ganzes Dasein von der Hut der
Oötter umschlossen sei. Er eignet sich die orphische Forde-
rung einer äusserlichen Ascese bis zu einem gewissen Grad
an; aber er giebt ihr zugleich die moralische Wendung, dass
Gottseligkeit und Rechtschaflfenheit die wesentliche Bedingung
eines seligeren Looses nach dem Tode , dass die Frommen und
Tugendhaften die Geweihten seien, die im Hades mit den Göt-
tern zusammenwohnen, die Unreinen und Schlechten die ün-
geweihten, die in den Schlammpfuhl Verstössen werden sollen.
Die sittliche Hebung seines Volkes erscheint nach allem, was
wir von Pythagoras wissen, als der leitende Gedanke seines
vielseitigen Wirkens. Der pythagoreische Bund ist nicht blos
ein gottesdienstlicher, ebensowenig aber blos ein politischer
oder ein wissenschaftlicher Verein ; sondem er ist eine Gesell-
schaft, welche von gewissen religiösen Anschauungen und
üebungen aus das gesammte Leben ihrer Mitglieder bilden
und veredeln, welche sie in jeder Hinsicht zu dem erziehen
will, was der vielumfassende Begriff der Tugend bei den Grie-
chen in sich schliesst.
Dazu gehört nun zunächst schon Kraft und Gesundheit
des Körpers; denn nur in einem gesunden Körper, glaubt der
Grieche, könne eine gesunde Seele wohnen ; und so wurde denn
von den Pythagoreem sowohl die Heilkunde als die Gymnastik
eifrig gepflegt, und der berühmteste aller griechischen Athleten,
der Krotoniate Milo, war ein Pythagoreer. Der Gymnastik
tritt sodann in der griechischen Erziehung als zweites Haupt-
bildungsmittel die Musik j d. h. die Kunst der Musen, zur
Seite, welche ebensowohl die Kenntniss der Dichterwerke als
42 Pythagoras
die musikalische Uebung im engeren Sinne umfasst; und wir
ivissen, dass auch diese von den Pythagoreem sehr fleissig
geübt wurde. Das Ziel aber, zu dem sie den Menschen hin-
fiihren wollen, ist vor allem jene strenge Zucht gegen sich
selbst, wie sie der altgiiechischen Sitte, und besonders dem
dorischen Wesen entsprach. Massigkeit und Selbstbeherrschung,
Treue und Gewissenhaftigkeit, Ehrfurcht gegen die Götter,
Gehorsam gegen die Obrigkeit, Dankbarkeit gegen Eltern und
Wohlthäter, aufopfernde Hingebung an die Freunde, diess sind
die Tugenden, welche an den Pythagoreem am meisten ge-
rühmt, in ihrem „goldenen Gedicht^' und ihren sonstigen Sitten-
sprüchen am stärksten betont werden; und wir können nicht
bezweifeln, dass diese ihre sittliche itichtung der pythago-
reischen Genossenschaft schon von ihrem Stifter mitgetheilt
wurde. Pythagoras hatte hier nur aufzunehmen und weiter
zu verfolgen, was bei den tüchtigsten und geordnetsten unter
den griechischen Stämmen als sittliche Aufgabe anerkannt war.
Dagegen gieng die wissenschaftliche Thätigkeit, welche
sich in der Schule des Pythagoras mit der sittlichen Arbeit
yerband, weit über das hinaus, was bis dahin üblich gewesen
war. Die Pythagoreer sind es, durch deren erfolgreiche Be-
schäftigung mit den mathematischen Wissenschaften diese
Studien sich bei den Griechen zuerst einbürgerten ; sie haben
nicht allein die Elemente der Arithmetik und der Geometrie
festgestellt, sondeni sie haben auch zuerst die Verhältnisse
der Töne gemessen und nach Zahlen bestimmt, und in der
Geschichte der Sternkunde machen sie dadurch Epoche, dass
von ihnen die erste astronomische Theorie ausgieng, und dass
diese Theorie noch innerhalb ihrer Schule von der gewöhnlichen
Vorstellungsweise, für welche die Erde der ruhende Mittel-
punkt der Welt ist, in stufenweiser Entwicklung bis zu der
Annahme einer täghchen Drehung der Erde um ihre eigene
Achse fortschritt. Von diesen mathematischen und* natur-
wissenschaftlichen Studien giengen sie sodann weiter zu dem
Versuche fort, über das allgemeine Wesen und die allgemein-
sten Gründe aller Dinge, die Entstehung und Einrichtung des
;/ • / •
f
und die Fytha^orassage. 4S
Wdtganzen, eine Ansicht zu gewinnen; und da sie alles nach
festen Zahlenverhältnissen geordnet und bestimmt fanden, sa
zogen sie hieraus den Schluss, welcher der alterthümlichen
Ansdiauungsweise und dem ungeübten Denken jener Zeit
ebenso nahe lag, wie er uns übereilt und befremdend er^
scheinen muss, dass die Zahl das Wesen aller Dinge, das
höchste Gesetz und die herrschende Macht in der Welt sei.
Wie tief die Pythagoreer durch diese Theorie in die Geschichte
der griechischen; Philosophie, und selbst noch der neueren,
eingegriffen, welchen bedeutenden Beitrag sie namentlich fUr
das platonische System geliefert haben, ist bekannt; und so
manche unklare Vorstellung, so manche spekulative Yerirrung
audi von ihnen ausgieng, so werden wir doch bei unbefangener
Beurtheilung nicht verkennen, welche Wahrheit sie — zunächst
allerdings, wie so häufig, mit wesentlichen Irrthümem ver-
setzt — zuerst zur Anerkennung gebracht haben. Was von
diesen Annahmen und Entdeckungen Pythagoras selbst ange-
hört, können wir freilich nicht genauer angeben; und schon
Aristoteles hat es offenbar nicht gewusst, denn so viel er sich
auch mit der pythagoreischen Lehre beschäftigt, so führt er
doch keinen einzigen wissenschaftlichen Satz unmittelbar auf
Pythagoras zurück, sondern er redet immer nur von den Py-
thagoreern, den „sogenannten Pythagoreem ," den „italischen
Philosophen, welche Pythagoreer genannt werden." Aber den
Grundgedanken des pythagoreischeuv Systems, den Satz, dass
alles nach Zahl und Mass geordnet, dass alles seinem Wesen
nach Zahl sei, werden wir doch wohl von Pythagoras selbst
herleiten dürfen; jedenfalls aber gebührt diesem seltenen
Manne das Verdienst, dass er zu der wissenschaftlichen For-
schung, welche in den pythagoreischen Vereinen so eifrig be-
trieben wurde und so bedeutende Erfolge gehabt hat, den
ersten Anstoss gegeben, dass er zuerst das neuerwachte Inter-
esse für wissenschaftliche Untersuchung von den Küsten Klein-
asiens nach Unteritalien vei-pflanzt, und demselben in der von
ihm gestifteten Gesellschaft den ergiebigsten Boden berei-
tet hat.
44 Pythagoras
Aber Pythagoraa hätte kein Grieche sein müsaen, wenn
ihm die sittliche und geistige Bildung der Kinzelnen genügt
hätte, wenn es ihm nicht daiiim zu thun gewesen wäre, seinen
Standpunkt auch im grossen durchzuführen, ihn ^r's Staats-
leben fruchtbar zu machen. Auf die Stiftung eines Cremein-
lebens gieng er ja von Anfeng an aus ; der pythagoreische
Bund war eine Verbrüderung für das ganze Leben, und seine
Mitglieder betrachteten es als ihre heiligste Pflicht, sich in
keiner Noth und Gefahr im Stich zu lassen: „was Freunde
haben," lautet der pythagoreische Wahlspruch, „ist Gemeingut,"
und von der hingebenden Freunde streue der Pythagoreer
werden schlagende Beispiele eczählt, von denen eines auch bei
uns, durch Schiller's „Bürgschaft," allgemein bekannt ist. Alle
Lebensbeziehungen fassen sich aber ^ den Griechen in dem
Staate zusammen; und wenn später allerdings, heim Yerfkll
des hellenischen Staatswesens, der Einzelne in der Philosophie
sich auf sich selbst zurückzog, so lag doch dieser Gedanke
dem Zeitalter des Pythagoras noch ferne, und gerade bei den
Stämmen, unter welchen der Pythagoreismus die meiste Ver-
breitung fand , und an " deren Einrichtungen er zunächst an-
knüpfte, galt noch mehr, als bei andern, der Grundsatz, dass
dei- Einzelne nur für den Staat da sei, dass er in der Förde-
rung des Staatswohla imd im Gehorsam gegen die Gesetze
des Staates seine höchste Ehre und Befriedigung zu suchen
habe. Die sittliche Reform, welche Pythagoras beabsichtigte,
musste daher nothwendig sofort einen politischen Charakter
annehmen, der Verein, den er gründete, zur politischen Parthei
werden. Die Richtung, welcher diese Parthei im Staatsleben
huldigte, war ihr durch den ganzen Geist der pythagoreischen
Lehre klar vorgezeichnet. Die mathematische Gesetzmässigkeit
des Weltganzen ist der Grundgedanke der pythagoreischen
Physik, die Einhaltung von Mass und Ordnung die Grund-
forderung der pjlJiagoreischen Ethik: die strengste Gesetz-
lichkeit und Ordnung wird auch der leitende Gesichtspunkt
der pythagoreischen Politik sein müssen. Diese Ordnung schien
aber Pythagoras und seinen Freunden nur da möglich und
/
and die Pythagorassage. 4S
nur da sichergestellt zu sein, wo die besten und einsichtigsten
die ganze Staatsgewalt ungetheilt zur Verfügung haben. Sie
waren daher entschiedene Gegner der Demokratie und An-
hänger jener aristokratischen Einrichtungen, welche in den
dorischen Staaten, wie vor allem in Kreta und in Sparta, am
vollkommensten durchgeführt waren; nur dass sie natürlich
bei den Mitgliedern ihrer Verbindung mehr, als bei allen
andern, die Tugend und Einsicht des Staatsmanns voraus-
setzten, und demnach die Leitung der Staaten selbst in die
Hand zu bekommen trachteten. Diess gelang ihnen auch
wirklich nicht allein in Kroton, sondern .auch in anderen itali-
schen Städten. Die pythagoreischen Synedrien waren die that-
sächliche Regierung dieser Städte. Auf Betrieb der Pytha-
goreer sollen die Krotoniaten die Auslieferung der flüchtigen
sybaritischen Aristokraten verweigert haben; und in dem
Kriege, welcher darüber entstand, war es der Pythagoreer
Milo, unter dessen Fühlung der übermächtige Feind von den
tapferen Bürgern Kroton's in einer blutigen Feldschlacht über-
wunden und Sybaris selbst zerstört wurde.
Indessen gab gerade dieser Erfolg, wie erzählt vrird, den
nächsten Anlass zu Kämpfen, die freilich wohl keinenfalls auf
die Dauer ausgeblieben wären. Ueber die Vertheilung der
eroberten Ländereien entstand Streit ; die Bürgerschaft, welche
durch ihren Heldenmuth das Gemeinwesen gerettet hatte,
fühlte sich der Vormundschaft ihrer Staatslenker entwachsen;
die Gefahr, welche der Staat mit Aufbietung der ganzen
Volkskraft glücklich bestanden hatte, gab hier, wie so oft^
den Anstoss zu einer freiheitlichen Bewegung im Innern, und
es kam noch zu Lebzeiten des Pythagoras in Kroton zu Un-
ruhen, welche den greisen Philosophen bestimmten, in dem
benachbarten Metapontum eine Zufluchtsstätte zu suchen. Hier
scheint er bald darauf gestorben zu sein. Seine Parthei muss
sich aber nicht blos in Kroton, sondern auch in anderen Städten,
vorerst noch behauptet haben, wenn auch ohne Zweifel unter
fortwährenden Reibungen. Ei*st etwa siebzig Jahre später,
um den Anfang des peloponnesischen Krieges, als die Ver-
46 Pythagom
hältnisse und die Anschauungen der Zeit sich völlig verändert
hatten, gelang es den Gegnern der Fytfaagoreer, einen allge-
meinen Ausbruch gegen sie hervorzurufen : die pythagoreischen
Vereine wurden zersprengt, ihre Versammlungshäuser nieder-
gebrannt, die Mitglieder der Parthei getödtet oder verjagt.
Der Pytbagoreismus gelangte dann zwar noch einmal, bald
nach dem Anfeng des vierten vorchristlichen Jahrhunderte,
auf's neue zu politischer Bedeutung: Archytas, der Pytbagoreer,
der ein Menschenalter hindurch das mächtige tarentinische
Gemeinwesen leitet«, ist mit Ausnahme seines Stifters die
glänzendste Erscheinung in seiner Geschichte. Aber diese
Nachblüthe war doch nur von kurzer Dauer. Was der Pytha-
goreismus an wissenschaMichem und sittlichem Gehalt e^en-
thOmliches gehabt hatte , das war in diesem Zeitpunkt bereits
in klarerer und reiferer Form zum Gemeingut des griechischen
Volkes geworden. Der Verein, den Pythagoras gestiftet hatte,
gieng im Laufe des vierten Jahrhunderte als wissenschafthche
Schule, wie als politische Parthei, zu Ende ; nur in der Gestalt
einer Religionslehre, in den orphisch-pythagoreischen Mysterien,
erhielt sich der Pythagoreismus, und nur mit einem wesentlich
veränderten Charakter, mit anderen Elementen versetzt und
von ihnen beherrscht, lebte er nach ein paar hundert Jahren
in der sogenannten neupythi^oreischen Schule wieder aui
Diess ungefähr ist es, was sich über Pythagoras und sein
Werk mit geschichtlicher Wahrscheinhchkeit sagen lässt. Sehen
wir nun, was die Sage und die Dichtung noch im Alterthum
selbst aus diesem historischen Stoffe gemacht hat.
Ein Mann, wie Pythagoras, war'eineviel zu ausserordent-
liche Erscheinung, als dass nicht die dichtende Phantasie sieb
schon frühe seiner hätte bemächtigen sollen, um das, was man
von ihm wusste, in ihrer Weise auszumalen und umzubilden.
Noch bei seinen Lebzeiten scheinen manche ungeschichtliche
Erzählungen über ihn im Umlauf gewesen zu sein; gewiss ist,
dass diess später der Fall war. Schon Aristoteles und dessen
Schüler Aristoxenus , beide etwa 300 Jahre jünger als Pytha-
goras, hatten mancherlei derartige Sagen erwähnt. Noch weit
und die Pythagorassage.
47
reichlicher floss aber die Quelle derselben in der Folge, bei
den Schriftsteilem der alexandrinischen Literaturperiode ^ die
ohnedem so geneigt sind, auffallende und ungewöhnliche Er-
zählungen kritiklos zusammenzutragen, am reichlichsten jedoch
in der neupythagoreischen Schule; denn diese Schule verehrte
in Pythagoras so zu sagen ihren Schutzheiligen, den sie nicht
hoch genug stellen zu können meinte, dem sie auch das wunder-
barste und abenteuerlichste, wenn es nur zu seiner Verherr-
lichung diente, gläubig zutraute, auf den sie alles, was für
sie selbst Bedeutung gewonnen hatte, unbedenklich übertrug.
Diese Sagenbildung heftete sich natürlich vor allem an die
Seite in der Erscheinung des samischen Weisen, welche am
unmittelbai-sten dazu einlud, an seinen relfgiösen Charakter.
Wer mit Erfolg als Prophet auftritt, der wird unfehlbar bald
auch mit dem Nimbus des Wunderthäters umgeben sein, be-
sonders wenn er wirklich eine so bedeutende Persönlichkeit
ist, wie diess Pythagoras gewesen sein .muss, und über das
gewöhnliche Mass des Wissens und Könnens so entschieden
hinausreicht. Es kann uns daher nicht übeiTaschen, wenn die
Sage von Pythagoras eine Menge der wunderbarsten Dinge
m erzählen weiss. Hören wir die späteren Berichte, so war
er ein Seher, dessen Blick nichts verborgen war, ein Wunder-
thäter, dessen Macht keine Grenzen hatte; er prophezeite
Erdbeben, er sagte Fischern vorher, wie viele Fische sie im
Netz finden würden, er besprach Gewitter und Seestürroe, er
steuerte Seuchen durch sühnende Handlungen, er heilte Geistes-
krankheiten durch Musik und Magie, er rief einen kreisenden
Adler aus der Luft herab , um sich von den Göttern Kunde
bringen zu lassen, er gebot einem Stier, sich der Bohnen, die
er abweiden wollte, zu enthalten, er verbot einem Bären,
welcher die* Gegend verheerte, fernerhin Fleisch zu fressen,
und beide gehorchten; er wurde an demselben Tage in Meta-
pontum und in Tauromejiium auf Sicilien gesehen, das mehrere
Tagereisen von Metapont entfernt ist ; als er über einen Fluss
fuhr, wurde er von dem Flussgott mit seinem Namen begrüsst,
und was sich derartiges sonst findet. Zu weiteren mythischen
48 Pythagoras
Zügen gab die eigenthümüche Beziehung Veranlassung, in die
sieh Pythagoras zu Apollo und seinem Kultus gesetzt hatte.
Wenn er selbst ein Pi-iester dieses Gottes sein wollte, so
machten ihn seine späteren Verehrer zum Sohn desselben;
und zum Beweis dieses höheren Ursprungs erzählten sie, dass
der Apollopriester Abaris auf einem goldenen Pfeile, d. h.
einem Sonnenstrahl, von den Hyperboreern zu ihm geflogen
sei, und dass er selbst eine goldene Hüfte gehabt habe, die
er einmal der Festversammlung in Olympia gezeigt haben
soll. Auch seine Lehre sollte ihm Apollo durch den Mund
der delpl^ischen Priesterin Themistoklea mitgetheilt haben;
was aber doch viel zu apokryph lautet, als dass wir desshalb
den Pythagoreismus zur „delphischen Philosophie" machen
dürften. Bei anderen Bestandtheilen der Pythagorassage
liegt am Tage, dass in ihnen die pythagoreische Lehre in
Geschichte verwandelt und auf die Person ihres Stifters
übertragen ist. So hat vielleicht schon Pythagoras die viel-
besprochene Lehre von der Sphärenhaimonie vorgetragen,
welche ursprünglich nichts anderes ist, als ein symbolischer
Ausdruck für die Kegelmässigkeit in der Bewegung der
Himmelskörper: wie die alte Lyra sieben Saiten hatte, sa
werden die sieben Planeten als die zusammenklingenden gol-
denen Saiten des himmlischen Heptachords dargestellt. Die
Späteren sagen nicht blos, Pythagoras habe die Sphären-
harmonie gelehrt, sondern: er allein unter den Sterblichen
habe sie gehört. Ebenso verhält es sich mit der Lehre
von der Seelenwanderung. So unbestreitbar diese Lehre
Pythagoras angehört, so ist es doch kaum glaublich, dass er
selbst sich an seine früheren Lebenszustände zu erinnem
gemeint haben sollte. Unsere Berichterstatter jedoch theilen
genau mit, in welchen Personen der Vorzeit der samische
Philosoph präexistirt hatte; und sie bezeichnen es als einen
eigenthümlichen Vorzug des gottbegnadigten Mannes, dass
ihm Hermes, der Führer der Seelen, dessen Sohn er in einem
früheren Dasein gewesen sei, diese Erinnemng an seine Ver-
gangenheit geschenkt habe. Auf die gleiche Lehre bezieht
i
I
\
und die Pythagorassage. 49
sich , was die pythagoreische Legende , vielleicht auf Grund
einer unterschobenen pythagoreischen Schrift, über den Auf-
enthalt des Philosophen im Hades und seine dortigen Erleb-
nisse zu erzählen wusste. Doch wäre es immerhin möglich,
dass auch schon Pythagoras selbst seine Lehrsätze über die
Seelenwanderung und die jenseitige Vergeltung dichterisch in
die Erzählung eines selbsterlebten einkleidete *) , und dass
eine solche Lehrdiohtung in der Folge für eine wirkliche
Geschichtserzählung genommen wui-de. Wie es sich aber da-
mit verhalten möge : die Sage ist hier jedenfalls erst aus der
Lehre entsprungen, sie ist die mythische Verkörperung eines
Dogma.
Viel geschichtlicher nehmen sich andere Angaben über
Pythagoras aus, die aber doch, wenn wir genauer zusehen,
die Probe der Kritik um nichts besser aushalten; nur dass
sie weniger aus der dichtenden Phantasie, als aus der prag-
matischen Reflexion stammen. Dem Wunderglauben der frü-
heren, und dann auch wieder dem der spätesten Jahrhunderte
lag es zunächst, das ausserordentliche in der Erscheinung des
samischen Philosophen auf übernatürüche Ursachen zurück-
zuführen: ein nüchterneres Zeitalter sah sich nach den natür-
lichen Vermittelungen, den menschlichen Lehrern um, denen
Pythagoras seine Weisheit zu verdanken habe. Aber die
ganze Beschaffenheit der Angaben, die uns hierüber vorliegen,
zeigt deutlich, dass sie nicht aus einer zuverlässigen lieber-
lieferung, sondern aus blosser Vermuthung geflossen sind.
Man suchte zunächst unter den griechischen Zeitgenossen des
Pythagoras einen, der sein Lehrer gewesen sein möge, wie
man überhaupt das spätere Verhältniss einer stetigen Keihen-
folge von Lehrern und Schülern unbedenklich auf die älte-
sten Philosophen übertrug; und da rieth denn der eine auf
*) In dieser Weise schildert wenigstens der Geistesverwandte und
Nacheiferer des Pythagoras, Empedokles, in einem noch erhaltenen Bruch-
stück, den FaU der Geister und ihren Eintritt in's irdische Leben an-
geblich aus eigener Erinnerung.
Zeller, Vorträge und Abhandl. "»^
Pfthagoras
derer auf Anaximander, ein dritter auf Epime-
Bten jedoch auf Pherecydes aus Syros, welcher
thagoras die Seelenwaudenmg gelehrt hatte.
verweisen andere auf die Orphiker, auf die
nd spartanischen Gesetze; aber auch diess ist
or eine, allerdings naheliegende und nicht un-
t, Yermuthui^. Indeseen konnten die einhei-
n der pythagoreischen Weisheit lun so weniger
öher die Vorstellungen über die letztere ach
l je bereitwilliger die Griechen überhaupt seit
ahrhundert, in noch viel höherem Grad aber
rungszügen Alexandere, die Orientalen als ihre
terkannten. Auch fQr die Ableitung der pytha-
re richtete man seinen Btick nach Süden und
ist war es das alte, den Griechen seit Jahr-
:annte Wunderland am Nu, das hiefilr in's
wurde: in Aegypten sollte Pyth^oras in die
'rirater eingeweiht worden sein, hier sollte er
isches, astronomisches, philosophisches Wissen,
gen seiner Schule, die Kenntniss der Grötter-
hen and der Opfer, und insbesondere die Lehre
iwandening geholt haben. In demselben Masse
den erstaunten Blicken der Hellenen weitere
urländei' sidi au&cblcesen , sehen wir auch die
Lehrer des Pythagoras sich vermehren: die
persischen Mi^er, die indischen Brahmanen,
:h die ebrftisehen Propheten, die Phönicier und
lollen ihm ihre Weisheit mit^etheüt haben,
angesehen sind nicht allein die übrigen von
m unbedingt zu verwerfen, sondern auch die-
) noch die älteste Ueberlieferung fUr sich hat,
bis auf die neueste Zeit herab nicht selten
»igen Werth beigelegt hat, die Erzählung von
ifenthalt in Aegypten, erscheint mehr als zweifel-
erodot scheint von derselben nichts gewusst zu
er leitet zwar die orpbischen Mysterien und die
und die Pythagörassage. 51
Lehi-e von der Seelenwanderung aus Aegypten her (II, 81.
123), aber er nennt (ü, 49) nicht Pythagoras als den, welcher
äe dorther gebracht habe, sondern Männer der grauen Vor-
zeit, den Phönider Eadmus ui^d den Seher Melampus. Erst
120 Jahre nach Pythagoras' Tod , oder noch später, begegnet
uns bei Isokrates die Behauptung, dass dieser Philosoph seine
Lehre von den Aegyptem erhalten habe; aber Isokitttes sagt
diess in der gleichen Prunkrede, in der er auch behauptet,
die lacedämonischen Staatseinrichtungen stammen aus Aegyp-
ten, und in der er den Busiris, diesen fabelhaften Unhold
der alten Heraklessage, zum Urheber der ganzen ägyptischen
Kultur macht. An eine geschichtliche Ueberlieferung ist bei
dieser Angabe nicht zu denken; es ist nur die Behauptung
des Khetors, der unbekümmert um die geschichtliche Wahr-
heit herbeizieht, was in seinen Kram taugt; und Isokrates
selbst erklärt ganz unbefangen: wenn auch das, was er sage,
nicht wahr sein sollte, so sei es doch für den vorliegenden
Zweck recht brauchbar. Es liegt am Tage, dass eine solche
Aussage durchaus nicht den Werth eines glaubwürdigen Zeug-
nisses haben kann. Isokiates steht aber überdiess mit der-
selben in der gleichzeitigen Literatur ganz vereinzelt. Ai-i-
stoteles denkt nicht an Aegypten, wo er vom Ursprung der
pythagoreischen Philosophie redet (Metaph. I, 5), sein Schüler
Aristoxenus, früher selbst Pythagoreer, scheint von der ägyp-
tischen Heise nichts gewusst zu haben, und Plato, welcher
dem Pythagoreismus so nahe stand, spricht den Aegyptem,
wie den Phöniciem , die Anlage zur Philosophie ab ; erst ein
halbes Jahrhundert nach Isokrates, nachdem die Griechen
durch Alexander mit den Völkern des Ostens in engere Ver-
bindung gekommen waren, beginnt allmählich die Tradition von
den Reisen des Pythagoras in die orientalischen Länder sich
zu verbreiten. Je weiter wir uns der Zeit nach von den
wirkhchen Vorgängen entfernen, um so reichlicher fliesst
diese Tradition, je naher wir ihnen kommen, um so vollstän-
diger versiegt sie: es ist offenbar nicht die Erinnenmg an
jene Voi^gänge, sondern es sind nur die Verhältnisse und
4*
Pjthagoras
tzuDgen einer späteren Zeit, denen sie ihre Ent-
!u verdanken hat.
über die Lehrmeister, so weiss die jüi^ere Ueber-
auch aber die Lehre am Pythagoras weit mehr mit-
, als wir bei den älteren finden. Aber auch hier
; das allmähliche Anwachsen und der imgeschichtliche
r der Ueberlieferung nicht verkennen. Ziehen wir
rlässigsten Quellen fUr unsere Kenntniss der pytha-
n Philosophie, Aristoteles und die ächten Fragmente
laus, zu Ratbe, so erhalten wir von dieser Philosophie
welches den Vorstellungen durchaus entspricht, die
ron einem so alten und durch so wenige Vorarbeiten
zten Versuche wissenschaftlicher Forschung machen
Vieles darin ist unklar und phantastisch, vieles un-
ikweise so fremd , dass wir uns nur mit Mühe darein
innen; aber das ganze geht aus gewissen einfachen
jener Zeit vollkommen begreiflichen GrundgedankeD
naturgemäss und folgerichtig hei-vor. Hören wir
die späteren Berichterstatter, so finden sich die
tigsten und vei'schiedenarti^ten Elemente in der
dschen Lehre zusammen; was immer von Wahrheit
iechKchen Philosophie vorhanden zu sein schien, das
den Männern der neupythagoreischen und neuplato-
Schule unbedenklich für pythagoreisch ausgegeben;
i Lehrbestimmung ist so spät, keine so unbestreitbar
ithum eines Aristoteles oder Plato, einra Zeno oder
IS, dass man Anstand nähme, sie nicht etwa nur
Pythi^oreem, sondern Pythagoras selbst beizulegen,
en wissenschaftlichen Ansichten schon Aristoteles so
ichts gewusst hat. Mit dieser Erweitemng dei- ächten
lischen Lehre geht dann femer eine massenhafte
ebung pythagoreischer Schriftwerke Hand in Hand. In
lichkeit war die schriftstellerische Thätigkeit der py-
;hen Schule eine äusserst bescliränkte. Pythagoras
; nach unverdächtigen Zeugnissen keine Schrift hinter-
Luch in seiner Schule scheint sich seine Lehre weit
und die Pythagorassage. 53
mehr durch mündliche Ueberlieferung , als durch Schriften,
fortgepflanzt zu haben. Der erste unter den Pythagoreem,
von wdchem zur Zeit des Aristoteles eine philosophische Schrift
bekannt war, ist Philolaus, ein Zeitgenosse des Sokrates ; ausser
ihm und Archytas kann die altpythagoreische Schule nur sehr
wenige Schriftsteller hervorgebracht haben. Erst sdt dem
ersten vorchristlichen Jahrhundert taucht mit einemmal eine
mnfangreiche pythagoreische Literatur auf, und so unvoll-
ständig wir auch über dieselbe unterrichtet sind, so sind wir
doch noch im Stande, wohl fünfzig Schriftsteller und achtzig
Werke namhaft zu machen, die seit diesem Zeitpunkt der py-
thagoreischen Schule unterschoben wurden. Aber während
heutzutage eine wissenschaftliche Parthei, welche den litera-
rischen Betrug so rücksichtslos und gewerbsmässig betriebe,
sich selbst in den Augen aller ehrlichen Leute das Urtheil
gesprochen hätte, nahm jene Zeit daran kaum einen Anstoss,
und der Neuplatoniker Jamblich rühmt es ausdrücklich (vita
Pyth. 198) an den späteren Pythagoreem, dass sie ohne An-
spruch auf eigenen Bubm ihre Entdeckungen und Schriften
dem Stifter der Schule beigelegt haben. Schon diese Eine
Aeusserung lässt uns in den historischen Standpunkt der
Parthei und der Zeit, der sie angehört, einen tiefen Blick
werfen. Den Sinn und das Interesse für geschichtliche Wahr-
heit dürfen wir hier nicht suchen, sondern die Geschichts-
erzählung ist eine Form, deren man sich mit der vollkommen-
sten Willkühr bfedient, um jeden beliebigen Inhalt hineinzu-
legen und durch die Auktoritäten der Vorzeit zu empfehlen.
Kicht anders ist endlich über die späteren Schilderungen
des pythagoreischen Vereins und seiner Einrichtungen zu ur-
theilen. Wie die Neupythagoreer und Neuplatoniker in der
angeblichen Lehre des Pythagoras ihr eigenes wissenschaft-
liches Ideal darsteUen, so stellen sie in dem pythagoreischen
Bunde ihr sittliches und gesellschaftlidies Ideal dar. Zu
diesem neupythagoreischen Ideal gehörte aber sehr vieles,
was einem Pythagoras noch fremd war. Nach der spä-
teren Darstellung lebte Pythagoras mit seinen Schülern
'i-
54
Pythagoras
in ein^r yollständigen Gtttergemeinschaft ; ihre ganze Lebens-
weise und selbst ihre Tagesordnung war ihnen bis in's
einzelne genau vorgeschrieben; sie trugen keine andern, als
leinene Kleider, sie tödteten kein lebendes Wesen und ent-
hielten sich aller Fleischspeisen; auch einige Gemüse waren
ihnen verboten, und vor den Bohnen besonders hatten sie —
der Grund wird verschieden angegeben — einen solchen Ab-
scheu, dass auf der Flucht aus Kroton eine Schaar Pythagoreer
sich lieber niedermachen Hess, als dass sie sich durch ein
Bohnenfeld gerettet hätte. Der Aufiiahme in den Bund giengen
strenge Prüfungen, unter anderen auch eine physiognomische
Untersuchung des Bewerbers, voran; die Novizen mussten
Jahre lang ein gänzliches Stillschweigen beobachten. Die Mit-
glieder des Ordens waren in mehrere scharf geschiedene
Klassen abgestuft. Unter einander erkannten sie sich an ge-
heimen Zeichen. Die Lehren und Gebräuche des Ordens
wurden mit unverbrüchlicher Strenge geheimgehalten; eine
Verletzung dieses Ordensgeheimnisses, und wenn sie auch nur
in der Mittheilung eines mathematischen Satzes bestand,
wurde nicht blos von den Ordensbrüdern mit Abscheu und
Verachtung, sondern auch von den Göttern mit augenschein-
lichen Strafgerichten geahndet. Wir erhalten hier mit Einem
Wort durchaus das Bild eines geheimen Bundes mit strengen,
klösterlichen Ordenseinrichtungen. Wie wenig auch an dieser
Darstellung geschichtlich ist, wird eine Vergleichung mit un-
serer obigen Erörterung zeigen. Wo wir diese jüngeren Be-
richte über Pythagoras und den Pythagoreismus anfassen,
überall tritt uns das sagenhafte und willkührlich erdichtete
in einem solchen Umfang entgegen, dass wii' aus ihnen eine
geschichtlich treue Kenntniss der Personen und Ereignisse zu
gewinnen verzweifeln müssten, wenn uns nicht ältere und
bessere Zeugen den Faden an die Hand gäben, um uns in
diesem Labyrinthe von Fabeln wenigstens in der Hauptsache
zurechtzufinden.
So gering aber die unmittelbare geschichtliche Ausbeute
dieser späteren Darstellungen auch sein mag, so sind sie doch
und die Pythagorassage. 55
immer ein sprechendes Denkmal des tiefen Eindincks, welchen
die Erscheinung des Weisen aus Samos im griechischen Volke
zurückgelassen hatte. Die Züge seines Bildes sind in der
Erinnerung der Nachwelt theilweise verblichen und durch
fremdartiges ersetzt worden ; indem man es verschönem wollte,
hat man es verdorben; aber die ehrfurchtsvolle Bewunderung
seiner Grösse hat sich auch bei denen, welche ihn nur unvoll-
kommen kannten, erhalten, und einer besonnenen Geschichts-
forschung ist es immer noch möglich, die urspiünglichen Um-
risse seiner Gestalt wenigstens in den Grundlinien zu erkennen.
3.
Zur Ehrenrettong der Xanthippe.
Plutarch hat ein eigenes Buch darüber geschrieben, ob
Alexander der Grosse sich selbst oder seinem Glück mehr zu
danken gehabt habe. Wenn Berühmtheit entscheiden sollte,
so müsste schon längst ein ähnliches Buch über Xanthippe
existiren; denn an Gelebrität kann sich ihr Name mit dem
des macedonischen Königs wohl messen. Wer von Alexander
weiss, der weiss auch von Sokrates, und wer von Sokrates
weiss, der weiss auch von Xanthippe; dagegen haben viele
Tausende den Namen der attischen Schönen in der Fibel
geradebrecht, welche niemals in ihrem Leben weder von So-
krates noch von Alexander gehört haben. Aber während man
sehr geneigt ist, den Buhm des Helden zwischen ihm und der
Gunst der Umstände zu theilen, so ist niemand so billig, den
zweideutigen Verdiensten der Heldin dasselbe zu gute kommen
zu lassen und zu fragen, ob sie als ein Muster aller bösen
Frauen in's Geschrei zu kommen verdient hat. Zwar hat der
alte Heumann schon im Jahr 1715 in den ersten Band der
Acta philosophorum eine Ehrenrettung der Xanthippe einge-
rückt, in welcher gezeigt wird, dass „gleichwie Luthers Frau
eine rechtschaffene Frau und gute Christin gewesen, ob sie
gleich denen Qualitäten ihres Mannes nicht beigekommen,
eben also auch Xanthippe zwar unvollkommener als Sokrates,
jedoch aber eine gute Ehegattin gewesen sei." Allein es scheint
Zur Ehrenrettung der Xanthippe. 57
nicht, dass er viele von dem Glück eines solchen Besitzes
überzeugt hat, und wenn auch neuere Gelehrte zum Theil
milder über die Gattin des Sokrates urtheilen, so heften sich
doch im ganzen nocif immer die gleichen Vorstellungen an
ihren Namen, wie damals , als Aelian und Diogenes die Anek-
doten niederschrieben, welche seitdem über ihren Ruf ent-
schieden haben. Will man billig sein, so wird man zugeben,
dass dieser Ruf zu einem guten Theil als das Werk der Um-
stände zu betrachten ist. Hätte Xanthippe keinen Sokrates
zum Manne gehabt, so wäre uns ihr Name wohl kaum über-
liefert, und fienge dieser Name nicht mit dem leidigen X an,
so läsen wir schwerlich in den Fibeln: „Xanthippe war ein
böses Weib, der Zank war ihr ein Zeitvertreib" — um die
ältere und weniger anständige Form dieses Reims hier zu
übergehen. Aber weil man sich gewöhnt hatte, in Sokrates
das Ideal aller Tugenden zu verehren, so musste man in seiner
Frau, nach dem Gesetz des Gontrastes, einen Ausbund aller
weibKchen Fehler verabscheuen, imd weil die deutsche Sprache
keine Wörter mit X hat, so gelangte Xanthippe mit König
Xerxes zu der Ehre, unter den Barbaren des Nordens einer
Popularität zu gemessen, wovon sie sich gewiss nie hatte
träumen lassen. Was sie auch immer gewesen sein mag:
unter anderen Verhältnissen hätte sie das gleiche sein können,
ohne dass irgend jemand, ausser ihren nächsten Nachbarn,
von den Eigenschaften etwas erfahren hätte, als deren Muster-
büd sie jetzt sprichwörtlich geworden ist.
Wer nun gründlich zu Werke gehen wollte, der müsste
zunächst nach dem früheren Leben der Xanthippe, nach der
Geschichte ihrer Verbindung mit Sokrates und nach allen
den weiteren Umständen fragen, die beider Verhältniss zu
erklären geeignet sein könnten. Aber leider geben uns die
alten Schriftsteller auf keine einzige von diesen Fragen eine
Antwort, und selbst Vermuthungen sind uns nur über zwei
Punkte, über die Zeit ihrer Verheirathung , und über ihr
Altersverhältniss zu Sokrates, möglich. Was nämlich die
erstere betrifft, so scheint es, dass Sokrates damals, als der
58 Zur Ehrenrettnng
Komiker Aristophanes in seinen „Wolken^' den • bekannten
Angriff auf ihn machte (424 v. Chr.), mit Xanthippe noch nicht
verheirathet war; denn nach der Art, wie dieser Dichter
sonst alle möglichen Persönlichkeiten hereinzieht, ist es kaum
glaublich, dass er einen so danl^baren Stoff für die Satyre
unbenutzt gelassen hätte; man müsste denn annehmen, Xan-
thippe habe in der ersten Zeit' ihrer Ehe zu der Übeln Mei-
nung, in der sie später doch schon bei ihren Lebzeiten stand,
noch keinen Anlass gegeben. Bestätigt wird diese Vermu-
thung durch eine Aeusserung des Sokrates bei Plato in seiner
gerichtlichen Vertheidigungsrede vom Jahr 399 v. Chr. Er
sagt hier nämlich, auch er habe Söhne, von denen zwei noch
klein seien, der dritte bereits herangewachsen, und für dieses
letztere Prädikat wählt er einen Ausdruck, der von einem
fünfundzwanzigjährigen oder noch älteren jungen Manne nicht
mehr gut gebraucht werden konnte. Eben diese Stelle macht
es aber auch, in Verbindung mit einer zweiten aus dem Phädo,
die uns unten noch vorkommen wird, wahrscheinlich, dass der
Altersunterschied zwischen den beiden Ehegatten ein sehr
bedeutender gewesen ist. Denn Sokrates nennt sich in seiner
Vertheidigungsrede einen Mann, welcher das siebzigste Lebens-
jahr bereits hinter sich habe, während Xanthippe kurz darauf^
an seinem Todestage, mit einem kleinen Kind auf dem Arme
bei ihm im Gefängniss ist. Er scheint sich demnach erst in
vorgerückteren Jahren mit der weit jüngeren Frau verbunden
zu haben. Möglich immerhin, dass auch dieser Umstand zu
der unerfreulichen Gestaltung ihres häuslichen Lebens beitrug.
War aber das Unglück des Sokrates wirklich so gross,
wie man sich vorstellt? Ist es wahr, was Dominicus Baudius
schreibt, dass es ein wahres Werk der Barmherzigkeit von
den Athenern war, den Philosophen durch den Schierlings-
trank von seiner Ehehälfte zu scheiden? Hört man die spä-
teren griechischen Schiiftsteller , so möchte man es fast glau-
ben. Es giebt kaum einen Zug in dem Bild einer bösen
Frau, der nicht von Xanthippe erzählt würde. Nicht genug,
dass sie als ein äusserst zänkisches und unverträgliches Weib
^V^'^.
der Xanthippe. 59
geschildert wird : selbst thätlich soll sie sich an ihrem Gatten
vergriffen haben. Diogenes von Laerte behauptet, sie habe
ihm auf offenem Markte das Kleid vom Leibe gerissen; der-
selbe erzählt mit andern, sie habe ihn einmal nach einem
Wortwechsel mit schmutzigem Wasser übergössen, der ge-
duldige Gemahl habe jedoch diese Liebkosung mit der philo-
sophischen Bemerkung hingenommen : nachdem sie gedonnert,
müsse sie wohl auch regnen. Auch das wird berichtet, und
zwar selbst von Plutarch, und noch viel früher von dem
Stoiker Teles, dass Xanthippe einmal ihren Mann, der einen
Gast mit nach Hause gebracht hatte, darüber in Gegenwart
des Freundes mit Vorwürfen überschüttet und zuletzt sogar
in ihrer Leidenschaft den Tisch imigestürzt habe. Ein dritter
hat von der Eifersucht gehört, zu der unserer Heldin das
Verhältniss zwischen Sokrates und Alcibiades Anlass gegeben
habe: als dieser seinem Lehrer einen kostbaren Kuchen zum
Geschenk schickte, soll sie ihn, nach Aelian imd Athenäus,
auf den Böden geworfen und zertreten haben; Sokrates aber
habe sich begnügt, sie auszulachen, dass sie jetzt auch nichts
davon bekomme. Zu dieser Eifersucht hätte sie aber um so
weniger ein Recht gehabt , wenn es wahr wäre , was ihr die
neueren Gelehrten längere Zeit schuld gaben, und was auch
der Reim in der alten Fibel voraussetzt, dass sie selbst weder
vor ihrer Verheirathung ihre Ehre, noch nach derselben ihre
Treue sehr sorgsam bewahrt habe. Indessen können wir sie
von diesem Vorwurf getrost freisprechen. Nicht blos von den
Schülern und Zeitgenossen des Sokrates, sondern auch von
den Schriftstellern des späteren Alterthums erhebt ihn kein
einziger; er ist entweder ganz aus der Luft gegriffen, oder
er ist aus Missdeutung einiger Stellen entstanden, deren
klaren Wortsinn man auf's unbegreiflichste missverstand, weil
man von dem Vorurtheil ausgieng, einer Xanthippe sei alles
schlechte unbedingt zuzutrauen. Aber auch die übrigen Ge-
schichtchen haben an Klatschweibern wie Aelian und Diogenes
schlechte Büi-gen, und selbst der treffliche Plutarch ist in
der Aufiiahme fremder Erzählungen gar nicht immer so vor-
f^'^iZ^
60 Zur Ehrenrettung
sichtig , ' dass man ihm unbedingt vertrauen könnte. Erzählt
er doch selbst das gleiche, wie von der Xanthippe, an einem
andern Ort von der Frau des Pittakus, welchem gleichfalls
nachgesagt wird, dass er, mit Heumann zu reden, „ein sol-
ches Murmelthier zur Ehe gehabt habe/^ Ueberhaupt aber
waren die Griechen ein höchst unterhaltungssüchtiges Volk,
das über seine berühmten Männer zahllose Geschichtchen
aller Art herumbot; was insbesondere die Gelehrten der ale-
xandrinischen Periode betrifft, denen wir die obigen Nach-
richten verdanken, so konnten sie es in det Anekdotenjagd
mit jedem neuesten Feuilletonisten aufhehmeiP. Und gerade
die Philosophen — wir müssen es leider gestehen — und
ihre Geschichtschreiber scheinen sich darin nicht zu ihrem
Vortheil hervorgethan zu haben. Wir sehen aus einem Dio-
genes, Aelian, Athenäus und anderen, welche Masse von klei-
nen Geschichten über die Philosophen der Vorzeit damals
im Umlauf war, fast durchaus müssige, oft recht ungesalzene
Erfindungen, mit denen die Eifersucht einer Philosophenschule
den Auktoritäten der andern etwas anhängte, oder die Neu-
gierde die Lücken der geschichtlichen Eenntniss ausfüllte.
Dazu kam dann noch im vorliegenden Falle der Umstand,
dass der philosophische Gleichmuth des Sokrates in seinem
Yerhältniss zu Xanthippe bei den späteren Moralisten und
ßhetoren ein äusserst beliebtes Thema war. Diese Tugend
des Philosophen erschien natürlich in einem um so glänzen-
deren Lichte, je stärker die Versuchungen waren, gegen die
sie sich zu behaupten, je empörender die Behandlung, durch
deren Erduldung sie sich zu bewähren hatte. Manche von
den Geschichtchen über Xanthippe haben ohne Zweifel nur
diesem Interässe des rednerischen Effekts ihre Entstehung zu
verdanken, und alle ohne Ausnahme sind sehr unsicher, so
weit sie uns nur von Schriftstellern aus der Zeit nach Ale-
xander überliefert sind.
Was uns wirklich geschichtliches von den ehelichen Ver-
hältnissen des grossen Atheners bekannt ist, beschi*änkt sich
auf die gelegentlichen Mittheilungen Xenophon's und Plato's.
der Xanthippe. 61
Aus diesen sehen wir nun allerdings, dass Xanthippe keine sehr
wünschenswerthe Haus&au gewesen sein muss. In Xenophon's
Sokratischen Denkwürdigkeiten n, 2 beschwert sich der Sohn
des Philosophen, dass niemand die üble Laune seiner Mutter
ertragen könne, und im Gastmahl desselben Schriftstellers
fragt Antisthenes seinen Meister, wie er es bei einer Frau
aushalte, mit der gewiss schwerer zu leben sei, als mit irgend
einer von allen , die es sonst gebe und jemals gegeben habe,
ja wohl auch vpn allen , die es in Zukunft geben werde.
Dieses ist freilich ein bedenkliches Zeugniss, und selbst das
wird unserer Schutzbefohlenen nicht allzuviel helfen, dass wir
sie nach der Schilderung Plato's im Phädo an dem Mor-
gen vor der Hinrichtung des Philosophen mit ihrem kleinen
Kinde bei ihm laut jammernd und wehklagend im Kerker
treffen; denn selbst dieser Schmerz hat etwas wildes und
lässt die heftige Gemüthsart der Frau, wie diess auch Plato
andeutet, wohl erkennen. Indessen sehen wir aus diesem Zug
doch, dass sie wenigstens trotz ihres leidenschaftlichen Wesens
im Grunde gutherzig, und dass die Anhänglichkeit an ihren
siebzigjährigen Gatten unter den vieljährigen Uebungen seiner
Geduld nicht erloschen war. Dasselbe bezeugt ihr auch So-
krates selbst in dem Gespräche mit seinem Sohne Lamprokles.
Hat sie dich je gebissen oder mit Füssen getreten? fragt er
ihn, und da Lamprokles dieses verneint, dafür aber geltend
macht, sie führe Reden, die kein Mensch anhören könne,
so giebt er ihm zu bedenken, dass es nicht so schlimm ge-
meint sei, und dass Xanthippe trotzdem treulich für ihren Sohn
sorge und ihm aufrichtig wohlwolle. Das Prädikat eines bösen
Weibes wird damit allerdings nicht völlig von ihr genommen,
aber es wird doch dahin beschränkt, dass wir unter der bösen
keine bösartige Frau verstehen dürfen.
Um aber gerecht zu sein, dürfen wir nicht verbergen,
dass vielleicht auch noch andere Frauen, ausser Xanthippe, mit
emem Gatten wie Sokrates nicht ganz zufrieden gewesen
wären. Es ist wahr, Sokrates war ein Mann von seltener
Grösse, ein Refonnator der Philosophie, ein tiefer, mit aller
62 Zur Ehrenrettang
Anstrengung an sich arbeitender Denker, ein Tugendheld, wie
das ganze klassische Alterthum keinen ähnlichen aufweist,
ein Geist, dessen inneren Reichthum, ein Charakter, dessen
Reinheit, Redlichkeit und Uneigennützigkeit , dessen strenge,
unerschütterliche Rechtlichkeit, dessen unbedingte Hingebung
an die Sache der Wahrheit und der Tugend seine Schüler
nicht genug zu rühmen wissen. Aber ob er darum auch der
angenehmste Ehemann war, fragt sich. Wenn Xanthippe auf's
Aeussere sah, hatte sie alles Recht, sich zu beklagen. Denn
darüber sind alle unsere Berichterstatter einverstanden, dass
zwar keiner seiner Zeitgenossen weiser und besser, dass aber
kaum ein zweiter so hässlich gewesen sei, wie Sokrates. Er
selbst hält im xenophontischen Gastmahl in heiterer Laune
eine Lobrede auf seine Schönheit, die uns von seiner vielbe-
sprochenen Silenengestalt einen anschaulichen Begriff giebt.
Indem er nach griechischem Sprachgebrauche die Schönheit
der Zweckmässigkeit gleichsetzt, beweist er, seine voi-stehenden
Augen seien die schönsten, denn er könne damit nicht blos
geradeaus sehen, sondern auch seitwärts; seine Nase sei die
schönste, denn mit*den aufgestülpten Nasenflügeln lassen sich
die Gerüche von allen Seiten auffangen, und die einwärts
gebogene Nasenwurzel hindere ihn nicht, mit einem Auge in
das andere zu sehen; mit seinem grossen Mund könne er
mehr abbeissen als ein anderer, und von seinen wulstigen
Lippen seien die weichsten Küsse zu erwarten. Es mag da-
hingestellt bleiben, ob sich Xanthippe durch diese Erwägung
für die sonstigen äusseren Eigenschaften ihres Mannes ent-
schädigt finden konnte; aber wenn auch sie selbst schwerlich
den drei Grazien zum Modell gedient hat, welche später als
Werk des Sokrates auf der Burg von Athen gezeigt wurden,
so wäre es ihr doch kaum zu verübeln gewesen, wenn sie
mit dem Schicksal haderte, das aus dem schönen Volke der
Griechen ihr gerade den hässlichsten Gatten erwählt hatte.
Geistreiche Männer freilich und Frauen wie Aspasia wussten
in Sokrates, wie Plato sagt, unter der Hülle des Silen ein
Götterbild von imschätzbarer Schönheit zu entdecken; aber
I »
f
der Xanthippe. 63
mQ selten mag unter den geistig verwahrlosten Griechinnen
der Sinn fttr eine Grösse gewesen sein, die auch von ihren
männlichen Zeitgenossen nur zum kleinsten Theil verstanden
wurde, und wie manche Frau giebt es wohl auch heute noch,
die in einem Sokrates wenigstens dann, wenn er ihr Mann
wäre, nur einen trockenen Pedanten oder einen überspannten
Sonderling zu sehen wüsste!
Denn darüber dai*f man sich nicht täuschen: wenn So-
krates heute wieder unter uns aufträte, so würde man noch
viel mitleidiger über ihn die Achseln zucken und noch viel
ungereimtere Dinge von ihm erzählen, als diess seiner Zeit in
Athen geschehen ist Man denke sich einen Menschen, der
sein Hauswesen vernachlässigt, der kein Amt sucht und kein
Gewerbe treibt, weil er überzeugt ist, dass er im Dienste der
Gottheit an anderen zu. arbeiten habe; einen Mann, welcher
sich den ganzen Tag auf den Strassen und öffentlichen Plätzen
herumtreibt, um jeden Begegnenden über sein Thun und
Lassen und über den Zustand seines Innern auszufragen ; einen
Philosophen, bei dem die Dialektik so zur Leidenschaft ge-
worden ist, dass er jedermann ohne Ausnahme in die Schule
nimmt, und nicht blos aus Schustern und Schneidern, sondern
bei Gelegenheit selbst aus Hetären den Begriff ihres Gewerbes
herauskatechisirt. Man lilste diesen Mann femer mit den
mancherlei auffallenden Aeusserlichkeiten aus, die uns von
Sokrates erzählt werden: dem Hängebauch und dem Silenen-
gesicht, den unbeschuhten Füssen und dem groben Mantel,
der bei keiner Feierlichkeit und in keiner Jahreszeit wechselte ;
man vergesse auch die Gleichgültigkeit gegen die bestehende
Sitte nicht, die ihm erlaubte, noch als alter Mann Musikstunde
zu nehmen und zu seiner Bewegung jezuweilen allein in sei-
nem Haus einen Tanz aufzuführen, und man wird zu dem
Bild eines Sonderlings in der That schon Züge genug haben.
Ist nun aber dieser Sonderling vollends auch noch ein Inspi-
rirter ; hören wir ihn im nihigsten Tone der üeberzeugung von
der göttlichen Stimme reden, die ihm zukünftige Erfolge vor-
hersage; sehen wir ihn das einemal, wenn er in einem Hause
*>
64 Zur Ehrenrettung
ZU Gaste geladen ist, vor der Thüre des Nachbarhauses in
tiefem Sinnen, wie festgewurzelt, dastehen, das anderemal aus
derselben Ursache mitten im Feldlager vierundzwanzig Stunden
lang auf Einem Fleck aushalten, ohne dass er wahrnimmt
oder beachtet, was um ihn her vorgeht — wie wenige würden
einem so seltsamen Manne Gerechtigkeit widerfahren lassen,
und wie viele Frauen könnten wahrheitsgemäss versichern,
dass ein solcher Gemahl immer gleich fi-eundlich von ihnen
empfangen würde?
Wer unter diesen Eigenthümlichkeiten des Philosophen
am meisten zu leiden hatte, das waren ohne Zweifel seine
Frau und seine Kinder. Denn da er kein Vermögen besass
und seine geistige Begabung zum Gelderwerb zu benützen
verschmähte, so lebte er, wie er bei Plato selbst sagt, in
tausendfältiger Armuth, und litt oft an dem nothwendigsten
Mangel. Ein Sokrates empfand das kaum als eine Entbeh-
rung ; aber Xanthippe brai^hte in der That noch gar keine
besonders schlimme Frau zu sein, sie brauchte nm* nicht über
das gewöhnliche Mass der Menschen hinauszureichen, um sich
in einer so dürftigen Lage höchst unglücklich zu fahlen und
dem Gatten böse zu sein, der sich durch seine Gillbeleien
abhalten liess, fllr sie lind seine Kinder zu arbeiten. Wenn
es auch nicht wahr sein sollte, was von Späteren erzählt wii-d,
dass Sokrates und Xanthippe nur Ein gemeinsames Oberkleid
besessen haben, dass daher diese zu Hause bleiben musste,
wenn jener ausgieng — er war ja aber fast immer auf der
Strasse, — wenn auch dieses, wie gesagt, schwerlich wahr
ist, so mögen doch ähnliche Dinge in dem Haushalt eines
Mannes nicht selten gewesen sein , der bei Plato seine ökono-
mische Leistungsfähigkeit höchstens auf eine attische Silber-
mine (siebzig Mark), bei Xenophon sein ganzes Vermögen,
mit Einschluss des kleinen Hauses , auf fünf Minen anschlägt,
und der dabei allen Erwerb versäumte, um im Dienste des
delphischen Gottes, aber eben nicht in dem des Plutos, seinem
Beruf als Menschenbildner nachzugehen. Es ist uns nichts
davon überliefert, inwieweit gerade dieser Umstand den Haus-
4er Xanthippe. 65
frieden des Philosophen gestört hat; aber wir werden dem
schönen Geschlecht dui*ch die Annahme nicht zu nahe treten,
dass auch noch heute der Friede manches Hauses empfindlich
gestört Würde, wenn der Haushen- den lieben langen Tag
statt der Kanzlei oder der Werkstatt auf den Strassen und
öffentlichen Plätzen zubrächte , um sich als freiwilliger Seel-
sorger seiner Bekannten anzunehmen, während Weib und
Kinder zu Hause mit Entbehrungen jeder Art zu kämpfen;
hätten. Wenn vollends ein solcher, wie der Spkrates des
platonischen Gastmahls, nach einer mit Dichtem und vor-
nehmen HeiTcn beim Becher durchwachten Nacht erst am
folgenden Abend heimkäme, so würde vielleicht noch manche
Frau gelinder oder kräftiger „donnern," selbst wenn ihr Mann
ein Sokrates wäre und sie keine Xanthippe.
Noch einen Punkt müssen wir hier berühren, der auf die
ehehchen Verhältnisse des Philosophen von Einfluss gewesen
sein könnte. Zwar wird nur von sehr unzuverlässigen Zeugen
berichtet, dass Xanthippe den Sokrates auch durch Eifersucht
gequält habe, aber wenn sie es gethan hätte, so wäre das
nicht zu verwundern ; dann vollends nicht, wenn es wahr wäre,
was manche behaupten, dass Sokrates neben ihr gleichzeitig
noch eine zweite Frau, Namens Myrto, gehabt habe. Indessen
ist diess eine böswillige und alberne Erfindung, und mit ihr
fällt auch die weitere Angabe, dass die Thätlichkeiten , in
welche die Eifersucht dieser beiden Weiber bisweilen ausbrach,
sich in der Regel am Ende auf das Haupt des Mannes ent-
laden haben, der ihnen mit Lachen zusah. Aber auch ohne
das hatte Xanthippe, nach unseni Begriffen, manchen Anlass
zum Misstrauen, falls die Neigung zur Eifersucht überhaupt
in ihrer Natur lag. Sokrates war allerdings auch im Umgang
mit Frauen und Jünglingen ein Muster von Enthaltsamkeit,
und seine Zeitgenossen, die eine leichtfertigere Sitte gewöhnt
waren, können sich darüber nicht genug wundem. Nichts-
destoweniger könnte eine Frau doch vielleicht glauben, dass
sie einigen Grund habe zu schmollen, wenn ihr Mann heute
einer Aspasia zu Füssen sässe und morgen einer Diotima,
Zeller, Vorträge und Abhandl. 5
de der xeinq)hontische Sokrates, eine He-
ite und äch mit ihr freundschaftlich unter-
linem Maler Model] steht. Die gnechische
ä-eilich vieles, nas von der uosrigen ver-
en wir auch das nicht verschwelen, dass
ehr zärtlicher Ehemann gewesen zu sein
OQ erwähnten Stelle in Xenophon's Gast-
luf die Frage des Antisthenes, warum er
Ainen nicht abgewöhne : „Desshalb , nicht,
auch die, welche sich zu guten Bereitern
h nicht mit frommen, sondern mit feurigen
lenn sie denken, wenn sie diese zu bändi-
, so werden sie aller andern leicht Herr
Etuch ich mir, da ich lernen wollte mit
II, diese Frau genommen, denn ich wnsste,
), so würde ich mit jedermann sonst aus-
Iweck ist allerdings bei Sokrates, so viel
worden, aber seine Frau konnte sich durch
i GeduldsQbung zu benutzen, wenig ge-
ind ein innigeres Verhältniss kann zwischen
licht stattgefunden haben, wenn der an-
den Philosophen nicht wirkbch das Motiv
m nur eine spätere Ausrede gewesen ist.
1 ernsthafteren Falle sehen wir Sokrates
Tiit einer Härte verfahren, die etwas ver-
Gefflhl hat. „Am Morgen seines Todes-
itonische Pbädo, „trafen wir die Xanthippe
eben seinem Bett sitzend im GeßLngniss.
■ß, erhob sie ein Wehklagen und redete
r "Weiber, wie etwa : „0 Sokrates, das ist
dich deine Freunde sprechen und dass du
ber sagte Sokrates mit einem Blick auf
sie einer nach Hause." Auf dieses führten
euten die Xanthippe unter Geschrei und
lg" — Sokrates aber beginnt ganz ruhig
der Xanthippe.
67
eine philosophische Unterredung. Man sieht, grosse Zärtlich-
keit wai* nicht seine Sache, und wir wtti'den diess von dem
Griechen und von dem Manne, der seinem höheren Berufe
jede andere Rücksicht unbedenklich zu opfern gewohnt war,
zum voraus nicht anders erwarten. Solche Charaktere pflegen
gegen andere so wenig, als gegen sich selbst, weich und schwach
zu sein, und auch wenn es ihnen nicht an Gefühl fehlt, werden
sie doch gerade in wichtigen und ernsten Momenten die ruhige
und trockene Sprache des Verstandes lieber reden, als die
erregte des Herzens. Aber von einer leidenschaftlichen und
wenig gebildeten Frau, wie Xanthippe, ist nicht zu verlangen,
dass sie diess begi*eife; um so weniger wird eine solche sich
geneigt fühlen, dem kalten und scheinbar gefühllosen Manne
gegenüber die Heftigkeit ihres Temperaments durch zartere
Bücksichten zu massigen.
Ich muss es dahingestellt sein lassen, inwieweit es mir
gelungen ist, von dem Namen der- Xanthippe einen Theil der
Schande abzuwischen, die ihm bisher anklebte. Zu einem
Ehrennamen habe ich ihn schwerlich zu erheben vermocht.
Mag er aber auch nach wie vor uns andern verpönt bleiben,
so lässt ihn sich doch vielleicht die eine oder die andere
Leserin, falls diese Blätter überhaupt Leserinnen finden sollten,
wenigstens aus dem Mund» des liebenswürdigen Dichtei*s ge-
fallen, mit dessen Worten ich schliesse:
Mädchen, wer ergründet euch?
Räthsel ohne Ende!
Arg und falsch und engelgleich,
Wer das reimen könnte!
nicht süssen Honig nur
Führen eure Lippen;
Und so seid ihr von Natur
Liebliche Xanthippen.
5*
1 seiner Bedeutung für
lea kennt, der kennt mehr als
s gilt diess nicht blos von den
nzen Zeiten und Völkern ; und
iche Interesse jener Schriften,
Zustände gewidmet sind, jener
in der Geschichte der ßeligion,
isens eine so bedeutende und
Solche Schriften pflegen Vor-
gen auszumalen, die weit über
den* gegebeneD VerhaltnisseD,
IS überhaupt unter Menschen
äch sie in der Regel ausseheu:
n ihrer Zeit und bedeutender
werden wir doch nicht wenig
erseits offenbaren sie uns die
: das höchste und wünschens-
t die Triebfedern, von welchen
enen sie hervorgiengen. Ande-
1 den gegebenen Zuständen in
. verfehlt erkannt, unter wd-
ierung gehofft wurde; und sie
ingenheit, indem sie dieselbe
lus prüfen und oft unerbittlich
/ .•
Der platonische Staat. 69
venirtheilen, theils werfen sie prophetische Bilder der späteren
geschichtliehen Gestaltungen in die Zukunft. Denn jedes wahr-
hafte und geschichtlich berechtigte Ideal ist nothwendig eine
Weissagung, und eben das ist es, was den Idealisten vom
Phantasten unterscheidet, dass dieser willkührlich selbstge-
machte Zwecke mit unmöglichen Mitteln verfolgt, jener da-
gegen von dem Gefühl vorhandener üebelstände ausgeht und
geschichtlich berechtigten Zielen zustrebt, welche nur desshalb
in ihrer weiteren Ausführung phantastisch werden, weil die
Bedingungen füi* ihre reinere Fassung und ihre natm-geriftlsse
Verwirklichung poch nicht vorhanden sind.
Unter allen Schriften, auf welche die vorstehenden Be-
merkungen anwendbar sind, ist wohl kaum eine zweite an
geschichtlicher Bedeutung, wie an innerem Gehalt, mit der
platonischen Republik zu vergleichen. Uns freilich spricht
auch diese Schrift auf den ersten Blick seltsam genug an.
Ein Staat, in welchem die Philosophen regieren, und mit un-
bedingter Machtvollkommenheit, ohne eine Verfassung oder
sonst eine gesetzliche Schranke, regieren sollen; in welchem
die Trennung der Stände so streng durchgeführt ist, dass den
Kriegern und Beamten jede Beschäftigung mit Landwirthschaft
und Gewerben untersagt wird, die Landbauer und Gewerbe-
treibenden ohne Ausnahme von aller politischen Thätigkeit
femgehalten, zu steuerzahlenden ünterthanen herabgedi-ückt
werden; in welchem andererseits die Staatsbürger ganz nur
dem Staate, nie und in keiner Beziehung sich selbst gehören
sollen; ein Staat, welcher für seine höheren Stände die Ehe,
die Familie, das Privateigenthum aufhebt; wo alle Verbin-
dungen* von Mann und Weib für den einzelnen Fall von der
Obrigkeit angeordnet, die Kinder, ohne ihre Eltern zu kennen,
von ihrer Geburt an in öflfentlichen Anstalten erzogen, die
sämmtlichen Aktivbürger auf Staatskosten gemeinschaftlich
gespeist, die Mädchen ebenso, wie die Knaben, in Musik und
Gymnastik, in Mathematik und Philosophie untenichtet, die
Weiber, wie die Männer, zu Soldaten und Beamten verwendet
werden; ein Staat, welcher auf wissenschaftliche Bildung ge-
Der platoniBche Staat
adet sein will, und doch der freien Bewegui^ de& geistigen
ens die stärksten Fesseln anlegt, jede Abweichung von
herrschenden Grundsätzen, jede sittliche, religiöse und
stierische Neuerung streng unterdrückt — ein solcher Staat
it mit allen imsern moralischen und politischen Begriffen so
fach im Widei-spruch, er scheint nicht blos, sondern er
auch so unausführbar, und er ist diess schon in seiner
. selbst so sehr gewesen, dass es nicht zu verwundern ist,
n der „platonische Staat" fUr ein phantastisches Ideal, für
tinbilduDg eines Träumers, sprichwörtlich, geworden ist.
Es ist noch nicht so lange her, dass er allgemein für
its anderes gehalten wurde. Heutzutage hat man sich
ich nachgerade aberzeugt, dass hinter diesem Fbantasiebild
; mehr Realität steckt, als man bei oberflächlicher Betracb-
l glauben möchte. Kicht allein, dass Plato selbst seine
schlage ganz ernstlich genommen wissen will, und nur von
;n, wie er ausdrOcklich erklärt, Heil fUr die Menschheit
artet: es ist auch so viel^ dann, was bestehenden Sitteo
Einrichtungen entspricht, und auch ihre auffallendsten
timmungen begreifen sieb so vollständig aus den Zuständen
ir Zeit und aus der Eigenthümlichkeit der platonischen
osophie, dass wir daiin nicht wiUkührliche Erfindungen
iü können, sondern nur Folgerungen-, welchen sich der
osoph gerade desshalb nicht zu entziehen wusste, weil er
Grieche des vierten vorchristlichen Jahrhunderts und ein
erichtig denkender Mann war. Gleich die eiste Grund-
erung seines Staates, die Herrschaft der Philosophen, ist
leich aus den gegebenen Zuständen und aus den Voraus-
ungen des platonischen Systems abzuleiten. Jenes', sofem
herkömmlichen griechischen Verfassungen sich sichtbar
riebt, und in den Wirren des peloponnesischen Kriegs wett-
md am Verderben der Staaten gearbeitet hatten; sofem
1 die wiederhergestellte Demokratie in Athen schon durch
Hinrichtung des Sokrates in Flato's Augen sich ihr Unheil
iderruflich gesprochen hatte. Dieses, weil ein System, das
Sittlichkeit auf's Wissen gründen wollte, auch für den
•V v
in seiner Bedeutung für die Folgezeit 71
Staat keinen andern Grund legen konnte, weil der Staat zuih
Abbild der Idee, das er nach Plato sein soll, nui* von denen
gemacht werden kann, diQ sich zui' Anschauung der Ideen er-
hoben haben. Aehnlich sehen wir die Trennung der Stände
aus einer doppelten Wurzel hervorgehen: aus der Verachtung
des Griechen gegen die Handarbeit, welche den meisten das
Gewerbe, den Spartanern selbst den Landban als eine Er-
niedrigung für den freien Mann erscheinen Uess; und aus
der Furcht des Philosophen, seine Bürger in die Beschäftigung
mit der Sinnenwelt zu verwickeln, aus der Ueberzeugung,
dass nur eine gründliche Geistes- und Charakterbildung zu
den höheren Aufgaben des Kriegei-s und des Staatsmanns be-
fähigen könne, und dass diese mit dem Streben nach irdischem
Gewinn, mit einer Thätigkeit, welche den sinnlichen Bedürf-
nissen und Begierden dient, unvereinbar sei. Wenn endlich
jene Unterdrückung der persönlichen Interessen, welche in
der Aufhebung der Ehe und des Privateigenthums ihren
schroffsten Ausdruck findet, jene Rechtlosigkeit des Einzelnen
in seinem Verhältniss zum Staate uns nothwendig abstösst,
so ist sie doch nur das äussei-ste einer Denkweise, welche
dem Hellenen eben so natürlich war, wie sie uns fremd ist;
denn dass die Bürger um des Staates willen da seien, nicht
der Staat um der Bürger willen, dass dem Ganzen gegenüber
kein Einzelner ein Recht habe, darüber war man in Griechen-
land einverstanden, und in Sparta besonders näherte sich auch
die bestehende Sitte in vielen Beziehungen den platonischen
Einrichtungen. Es war z. B. gestattet, im Fall des Bedürf-
nisses fremder Vorräthe, Werkzeuge, Hausthiere und Sklaven
wie der eigenen sich zu bedienen; es war den Bürgera der
Besitz von Gold und Silber untereagt, statt der edeln Metalle
wurde Eisen zu den Münzen verwendet ; die männliche Bevöl-
kerung wurde auch im Frieden durch Gemeinsamkeit der
Mahlzeiten, der Uebungen, der Erholungen, selbst der Schlaf-
stätten dem Hause fast gänzlich entzogen, sie lebte, wie die
platonischen Krieger, in der Weise einer Besatzung; ihre
Erziehung war von den Kinderjahren an eine öffentliche, und
Der platonisctie St&at
Mädchea hatten aa den Leibesübui^n theilzunehmen;
wurde vom Staat flberwacht, ein bejahrterer Mann
leiner Frau einen Freund zufuhren, ein kinderloser
im andern die seinige leihen; gegen Einschleppui^
Sitten, gegen Neuerungen aller Art wurden die streng-
sregeln ei^ffen, Reisen in'a Ausland untersagt, Dichter
irer, von denen man einen übeln Einfluss forchtete,
les verwiesen, einem Musiker, welcher die herkömm-
[il der Saiten an der Lyra vermehrt hatte, die öber-
abgeschnitten. Man sieht deutlich: jeue Einrichtni^n
ndsätze, die uns bei Plato so sehr befremden, waren
tienland nicht so unerhört, sie schliessen sich an das
de an, sie sind aus dem Boden des hellenischen Staats-
irwachsen.
m aber Plato in dieser Richtung allerdings weiter
s irgend ein früherer, wenn er namentlich in der
und Gütergemeinschaft alles Ernstes Vorschläge ge-
at, wie sie vor ihm nur die Laune eines Aristophanes,
■er Art freilich, als Gipfel alles politischen Unsinns
Bühne gebracht hatte, so findet auch diess in den
issen der Zeit und in dem Geist der platonischen
lie seine Erklärung. Einerseits nämlich hatten lange
rere Erfahrungen seit dem Anfang des peloponnesisdien
gezeigt, von welchen Gefchren die Wohlfahrt der
durch die Selbstsucht der Einzdnen bedroht sei.
lefeihren wollte Plato vorbeugen, indem er jener Selbst-
e Wurzel abschnitt: er wollte durch gänzliche Auf-
les Privatbesitzes den Streit der Privatinterfösen gegen
smeine Interesse unmöglich machen. Einigkeit, sagt
Ol' den Staat das erste BedUrfiüss; die volle Einigkeit
her nur da sein, wo keiner etwas für sich habe. Er
also den gleichen politischen Fehler , wie ihn später
begangen hat, als er den Ußbeln der Revolution durch
rankten Despotismus begegnen wollte, wie ihn die
nstler der Reaktion heute noch täglich begehen, wenn
Jebergriffe des Freiheitsstrebens nicht durch Befrie-
Jü»j m --. >
in seiiier Bedeutung för die Folgezeit. 73
digung der begründeten und Abschneidung unbegründeter
Forderungen, sondern durch Unterdrückung aller Freiheit zu
dämpfen vorschlagen ; mit dem wesentlichen Untei'schied freilich,
dass bei Plato mit der unbeschränkten Herrschennacht die
YoDendete Tugend und Einsicht, mit den socialistischen Ein-
richtungen eine Erziehung der Staatsbürger verknüpft sein
soll, welche jeden Missbrauch derselben zu verhindern und die
äiisserste BeschräJikung der persönlichen Freiheit mit ihrem
fi*eien Wollen in Einklang zu bringen hätte. Mit den politi-
schen Gründen wirkte aber hiefÜr Plato's philosophische Eigen-
thümlichkeit zusammen, und sie ist es, welche für die Ge-
staltung seines Staatsideals den Ausschlag gab. Die Härten
seiner Vorschläge beruhen in letzter Beziehung auf dem idea-
listischen Dualismus seiner ganzen Weltanschauung. Wer nichts
höheres kennt, als die Betrachtung der allgemeinen Begriffe,
nichts wahrhaft wirkliches, als die ausser den Einzelwesen für
sich bestehenden Gattungen, wer in der Sinnenwelt nur die
entstellende Erscheinung der übersinnlichen, in der Indivi-
dualität nur eine Beschränkung und Trübung, nicht die uner-
*
lässUche Bedingung für die Verwirklichung des Allgemeinen
sieht , der kann folgerichtig auch ' im Leben keine freie Ent-
wicklung der Individuen zugeben; sondern er wird verlangen
müssen , dass der Einzelne allen persönlichen Wünschen ent-
sage und in selbstloser Hingebung sich zum reinen Werkzeug
der allgemeinen Gesetze, zur Darstellung eines allgemeinen
Begriffs läutere. Ein solcher wird daher auch im Staate nicht
darauf ausgehen können, die Rechte der Einzelnen mit denen
der Gesammtheit versöhnend zu vermitteln, jene werden viel-
mehr in seinen Augen, dieser gegenüber, gar kein Recht haben,
es wird ihnen nur die Wahl übrig bleiben, entweder auf alle
Privatinteressen zu verzichten und sich, also befähigt, in den
Dienst des Gemeinwesens zu stellen, oder sofern sie diess
nicht wollen, den politischen Rechten und der politischen
Wirksamkeit zu entsagen. So hängen hier die politischen und
gesellschaftlichen Einrichtungen an den ersten Anfängen des
Systems. Die Bedeutung der Individualist, die unendliche
Der platonJBChe Staat
id BewegUDg des wirklichen Lebens ver-
jiess ist der schon von Aristoteles scharf
ihler der platonischen Metaphysik und Aes
smus.
ist auch schon anderswo und von anderen
, und nach dieser Seite hin scheint sich
en Staat unter den Sachverständigen mehr
emeine Uebereinstimmung zu bilden. Ge-
hat bis jetzt das Verbältniss gefunden, in
lu den Theorieen und den Zuständen der
ieser Gegenstand soll daher hier in ge-
der kurzen Andeutungen, welche ich an
hiertlber g^eben habe, besprochen werden.
Beziehung unsere Aufmerksamkeit zunächst
sind die merkwtlrdigen Bertlhruogspnnkte
ionischen Staatsideal und dem, was sich
ristlichen Welt auf kirchlichem und staat-
taltet hat. Gleich der Gmndgedanke der
lehre hat mit der Idee der christlichen
Aehnllchkeit. Der Staat ist nach Plato
Bestimmung zufolge nichts anderes, als
nd ein Hülfemittel der Sittlichkeit; seine
ssteht darin, seine Bürger zur Tugend und
kseligkeit zu erziehen, ihren Sinn und ihr
I, geistigen Welt zuzuwenden, ihnen jene
Tode zu sichern, welche sich am Schlüsse
TOssarügem Ausblick als, der Gipfel alles
ens darstellt. Es liegt am Tage, wie nahe
Reich Gottes" verwandt ist, dessen irdische
ristliche Kirche sein will. Die theoretischen
id die Gestalt beider sind verschieden, aber
ist dei'selbe: in beiden handelt es sich um
Qwesen, eine Erziehungsanstalt, deren letztes
sitigen Welt liegt. Sagt doch Plato auch
ceine Bettung ßii* die Staaten, wenn nicht
;n die Herrschaft föhre. Wenn femer diese
» in seiner Bedeutong für die Folgezeit. 75
HeiTschaft bei Plato durch die Philosophen ausgeübt werden
soll, weil sie allein im Besitz der höheren Wahrheit sind, so
nehmen in der mittelalterlichen Kirche die Priester die gleiche
Stellung ein; und wie jenen die Krieger als vollziehende
Macht zur Seite treten, so ist nach mittelalterlichen Be-
griffen eben dieses die höchste Aufgabe des christlichen
Kriegerstarides, der Ritter und Fürsten, die Kirche auszu-
breiten und zu schützen, die Vorschriften, welche sie durch
den Mund der Priester ertheilt, auszuführen. Die drei mittel-
alterlichen Stände, der Lehrstand, Wehrstand und Nährstand,
sind im platonischen Staat vorgebildet, und die Herrschaft des
earsteren, welche sich in der Wirklichkeit allerdings nur theil-
weise chirchsetzen liess, ist wenigstens von ihm selbst nicht
minder entschieden und aus den gleichen Gründen verlangt
worden, wie von Plato die der Philosophen: weil sie allein
die ewigen Gesetze kennen, nach denen die Staaten, wie die
Einzelnen, sich richten müssen, um ihrer höheren Bestimmung
zu entsprechen. Auch die Bedingungen endlich, an welche
diese hohe Stellung des Lehrstandes geknüpft ist, sind in der
mittelalterlichen Kirche grossentheils dieselben, wie bei unse-
rem Philosophen, nur aus dem Griechischen in's Christliche
übersetzt; denn jene Gemeinsamkeit alles Besitzes, welche
Plato den Staaten als höchstes Gut wünscht, ist auch christ-
hches Ideal, und wenn hiebei in der christlichen Kirche der
Begriff der Entsagung, der freiwilligen Annuth, im platoni-
schen Staat der der Gütergemeinschaft stärker hervortritt, so
hebt sich doch auch dieser Unterschied wieder grossentheils
auf : auch Plato verlangt ja von seinen Philosophen und Krie-
gern, dass sie sich auf die einfachste Lebensweise zuiilckziehen,
und auch die christliche Kirche hat die geistliche Annuth
sogar in den Bettelorden nur in der Form des gemeinschaft-
lichen Besitzes zu verwirklichen vermocht. Selbst die plato-
nische Weibergemeinschaft steht aber dem Cölibat ihrem Wesen
nach weit näher, als man zunächst glauben möchte. Denn
für's erste sind die politischen Giilnde beider Einrichtungen
die gleichen : wie Plato seinen „Wächtern" die Gründung einer
76 I^er platonische Staat
Familie untersagt^ damit sie ganz und ausschliesslich dem
Staat gehören, so zwang Gregor der widerstrebenden Geist-
lichkeit den Cölibat auf, damit sie fortan ungetheilt der Kirche
gehören sollte. Sodann handelt es sich ja aber auch bei
Plato's Weibergemeinschatt keineswegs darum, der persön-
lichen' Neigung, oder gar der sinnlichen Begierde einen freieren
Spielraum zu geben, sie von den Fesseln der Ehe zu ent-
lasten; sondern es sollen umgekehrt die persönlichen Wünsche
beseitigt, es sollen die Bürger in ihren geschlechtlichen Funk-
tionen, wie in allem, zu Organen des Staats gemacht werden,
die Ehe soll nicht Sache der Neigung oder des Interesses,
sondern nur der Pflicht sein: es sind Kinder zu erzeugen,
wenn der Staat deren bedarf, und sie sind mit denen zu er-
zeugen, welche der Staat zur Erzielung eines kräftigen Nach-
wuchses den Einzelnen zuweist. Plato verlangt demnach von
seinen Bürgern eine Selbstverläugnung , eine Unterordnung
unter das gemeinsame Interesse, von welcher bis zur gänzlichen
Enthaltsamkeit nur ein Schritt war; er würde kein Bedenken
getragen haben, auch diese zu fordern, wenn sein Staat die
Ehe entbehren könnte und wenn die Ascese der späteren Jahr-
hunderte schon seine Sache gewesen wäre.
Es sind diess aber keine blossen Analogieen, wie sie auch
zwischen weit auseinanderliegenden Erscheinungen in Folge
eines zufälligen Zusammentreffens wohl vorkommen, sondern
es findet hier ein wirklicher Zusammenhang, eine Einwirkung
des früheren auf das spätere statt. Denn so verfehlt es auch
wäre, dem platonischen Vorgang einen unmittelbar massgeben-
den Einfluss auf die Gestaltung des christlichen Kirchen- und
Staatswesens zuzuschreiben, so wenig lässt sich andererseits
eine Verwandtschaft beider verkennen, für welche wir die
Zwischenglieder noch grossentheils nachweisen können, durch
die sie vermittelt ist. Die platonische Lehre ist eines der
wichtigsten von den Bildungselementen des späteren klassi-
schen Alterthums, eine geistige Macht, deren Wirkungen weit
über den Kreis der platonischen Schule hinausgehen. Unter
den nachfolgenden Systemen hat nicht blos das aristotelische,^
.fjikJL .-^.
47^7*''^."'*''*"
in seiner Bedeutung für die Folgezeit 77
sondern auch das stoische, ihren Geist in sich angenommen,
und das letztere besonders hat für seine Moral der platoni-
schen Ethik ungemein viel zu verdanken. Die Philosophie
war aber in den letzten Jahrhunderten vor Christus bei allen
Gebildeten, so weit die griechische Sprache und Literatur
reichte, im Osten und im Westen, an die Stelle der Religion
getreten, oder sie hatte doch ihre Auffassung der Beligion so
durchdrungen ; dass von den alten Mythen kaum noch die
Hülle übrig geblieben war; ihre wesentlichen Ergebnisse und
vor allem ihre sittlichen Grundsätze waren in die allgemeine
Bildung übergegangen, zur Weltreligion geworden. Man brauchte
gar nicht Philosoph von Profession zu sein, um an ihnen theil-
znnehmen : wer überhaupt das Bedürfhiss eines höheren Unter-
richts empfand, der besuchte die Schulen der Philosophen und
las ihre Schriften; aber auch die Grammatiker, die Bhetoren,
die Geschichtschreiber, selbst die Rechtslehrer und die Aerzte
pflegten sich an philosophische Lehren anzulehnen und ihre
Eenntniss vorauszusetzen. Diese verbreiteten sich so auf hun-
dert Wegen, und wie viel sie auch hiebei an wissenschaftlicher
Strenge und Reinheit verlieren mochten, ihre praktische Wir-
kung wurde unberechenbar erhöht. Auch das werdende
Christenthum konnte sich diesem Einfluss nicht entziehen;
und es sind nicht blos die platonisirenden Theologen der
griechisch-orientalischen Länder oder die gnostischen Sekten,
die ihn in die Kirche einführten: die griechische Philosophie
hatte schon lange vorher zur Entstehung des Christenthums
ihren Beitrag geliefert, und sie drang Jahrhunderte lang, wie
der Hellenismus überhaupt, dessen edelste Früchte sie in sich
vereinigte, von den verschiedensten Seiten her in die neue
Religion ein. Schon das vorchristliche Judenthum war in den
hellenistischen Kreisen mit griechischer Bildung und Wissen-
schaft tief gesättigt; Millionen von Juden, der grössere Theil
der jüdischen Nation, lebten in Ländern, die seit Alexander
unter der geistigen Herrschaft Griechenlands standen, die in
der Regel auch politisch von Griechen oder Halbgriechen be-
hen-scht wurden ; und schon der Verkehr des täglichen Lebens,
X.O
Des platonische Staat
he Sprache, mit welcher die meisten all-
/äter vertauschten, und in welcher sie selbst
ten ihres Volkes allein noch zu lesen ver-
nmerklich unendlich viele griechische Ideen
af setzen; am meisten natürlich in den von
Hauptstätten griechischer Bildung, wie
Tarsus, dieser Sitz einer berühmten Philo-
irenschnle, wie in späteren Zeiten Rom, um
erwähnen. Bald begannen aber auch die
iechischen Wissenschaft als solcher sich zu
ntstand eine jüdisch-griechische Philosophie,
e Theologie mit den Ideen der giiecbiachen
allen, diese mit jener in Einklang zu bringen
weit man schon um den Anfang der christ-
g auf diesem W^e fortgeschritten war, wie
pythagoreische, stoische und peripatetische
igläubige Judenthum in sich aufgenommen
Sciiriften Philo's, des Alexandriners, der
r bedeutendste Vertreter einer weitverbrei-
^ewesen ist. Der Hauptsitz dieser Schule
lieser grosse Knotenpunkt für die Kreuzung
g der griechischen mit der orientaU sehen
\) aber nicht auf diese Stadt und nicht auf
ikt, sie hatte vielmehr unter allen giiechisch
ihlreiche Anhänger, und selbst auf Palästina
I Länder muss sich ihr Einfluss erstreckt
Verbindung mit dieser theologischen Schule
Sekte der Essener, welche im zweiten vor-
indert zunächst, wie es scheint, durch die
fthagoreischen Mysterien und der damit ver-
jntstanden war, welche dann aber bei der
mg einer neupythagoreisdien Philosophen-
hrer mehr noch platonischen als pjtbago-
m theilnabm. Diese in Palästina und den
dem verbreitete Sekte war allem nach einer
(u den Kanälen, durch welche die griechische
in seiner Bedeutung für die Folgezeit. 79
Bildung, und somit auch die ethischen und religiösen An-
schauungen der griechischen Philosophen, in's Judenthum ein-
strömten. Von dem platonischen Staatsideal finden wir bei
ihr unter anderem die Gütergemeinschaft, in der die Essener,
als Vorgänger der christlichen Mönche, in klösterlichen Ver-
einen zusammenlebten. Gerade der Essäismus Scheint aber
von Anfang an bei der Ausbildung der christlichen Lehre in
massgebender Weise mitgewirkt zu haben: die Parthei der
Ebjoniten, welche uns später als die einzige Bewahrerin des
ursprünglichen Judenchristenthums begegnet, trägt aUe Züge
des Essäismus, und unterscheidet sich von ihm nur durch den
Glauben an Jesus, als den Messias. Auch der Mann, welcher
dem Christenthum zuerst seine Stellung als Weltreligion er-
kämpft hat, der Apostel Paulus, war ohne Zweifel schon vor
seiner eigenen üebersiedelung in die hellenische Welt von
dem Einfluss griechischer Bildung wenigstens mittelbar berührt
worden; denn es lässt sich kaum denken, dass er sich diesem
in seiner Vaterstadt Tarsus ganz entziehen konnte, und einem
schärferen Auge werden sich seine Spuren auch in den Briefen
des Apostels nicht ganz verbergen. Als aber, grossentheils
durch ihn, die Christengemeinde den Heiden, und zunächst
den Hellenen, geöffnet war, als diese sich massenweise zu ihr
herbeidrängten und die Zahl der Nationaljuden innerhalb der-
selben bald um das vielfache überwogen, da war es ganz un-
veimeidlich , dass auch griechische Anschauungen hier mehr
und mehr Eingang fanden. Die neueintretenden, nicht als
Kinder im Christenthum unterrichtet, sondern in reiferen
Jahren für dasselbe gewonnen, konnten es natürlich nur von
ihrem Standpunkt aus auffassen, nur an die Vorstellungen,
welche ihnen von früher her feststanden, anknüpfen; und
mögen auch viele von ihnen immerhin vorher die Schule des
jüdischen Proselytenthums durchgemacht haben, mochten sich
auch längere Zeit nur wenige höher gebildete darunter be-
finden : die Einwirkung der griechischen Wissenschaft konnte
dadurch zwar abgeschwächt, aber doch lange nicht beseitigt
werden, und jemehr nachgehends auch Leute von Wissenschaft-
.^ ':.^
80 Der platonische Staat
lieher BOdung dem neuen Glauben sich anschlössen, um so
nachhaltiger und umfassender musste sie ausfallen. So finden
wir denn wirklich schon unter den ältesten christlichen Schrift-
werken, schon unter den Wortführern der Kirche im zweiten
Jahrhundert, nicht wenige, welche mit der halbgiiechischen
alexandrinischen Schule nahe verwandt sind; und selbst unter
unsem neutestamentlichen Schriften können mehrere, wie der
Ebräerbrief und das vierte Evangelium, ihren Einfluss nicht
verläugnen, mittelbar also auch den der griechischen Philo-
sophie nicht. Wie bedeutend diese aber in der Folge aaf die
Gestaltung der christlichen Glaubens- und Sittenlehre einge-
wirkt hat, ist bekannt. Die ganze Philosophie der Kirchen-
väter und ein grosser Theil ihrer Theologie, die ganze Scho-
lastik ist nichts anderes, als ein grossartiger, viele Jahrhunderte
lang fortgesetzter Versuch, die griechische Philosophie für die
Fortbildung und das Verständniss der christlichen Lehre zu
verwenden.
Diese Verhältnisse muss man sich vergegenwärtigen, wenn
man sich die Bedeutung des Piatonismus für das Christenthum,
und so auch den Zusammenhang der platonischen Politik mit
dem, was ihr auf christlichem Boden analog ist, klar machen
will. War es doch gerade der Piatonismus, welchem theils
für sich, theils in seiner Verbindung mit der stoischen und
der neupythagoreischen Philosophie, in jenem grossen Bildungs-
process, aus dem auch die christliche Kirche und ihre Dogmatik
hervorgieng, eine hervorragende Rolle zufiel, welchem Jahr-
hunderte lang die bedeutendsten unter den christlichen Kirchen-
lehrern huldigten, welcher durch seine Wahlverwandtschaft
mit dem Christenthum sich vorzugsweise eignete, zwischen
ihm und dem Hellenismus zu vermitteln. Plato ist der erste
Urheber, oder wenigstens der bedeutendste Vertreter jenes
Spiritualismus, welcher nicht blos den Griechen, sondern auch
den Juden ursprünglich fremd war, welcher aber in den letzten
Jahrhunderten vor Christus sich allmählich der Gemüther
bemächtigt, und durch das Christenthum in weiten Kreisen
die Herrschaft erlangt hat. Er zuerst hat es ausgesprochen,
in seiner Bedeutung für die Folgezeit 81
dass die sichtbare Welt nur die unvollkommene Erscheinung
einer unsichtbaren sei, dass der Mensch aus dem Diesseits
in's Jenseits flüchten, das gegenwärtige Leben als Vorbereitung
für ein künftiges benützen solle ; er hat jenen ethischen Dua-
lismus begründet, welcher in der Folge der vorher schon in
orientalischen Religionen und orphischem Mysterienwesen vor-
handenen Ascese zur wissenschaftlichen ßechtfei*tigung dienen
musste. Eben diese Ethik ist es aber, welche den hauptsäch-
lichsten Grund der Eigenthümlichkeiten enthält, in denen die
platonische Politik mit dem mittelalterlichen Kirchen- und
Staatswesen zusammentrifft. Auf ihr beruht, dort die Hen--
schaft der Philosophen, hier die der Priester; denn wenn die
Einzelnen und die Staaten die höchsten Gesetze ihres Thuns
in einer jenseitigen Welt zu suchen haben, so werden sie der
Leitung derer folgen müssen, welchen jene höhere Welt, sei
es von der Wissenschaft oder von der Offenbarung, erschlossen
ist. Aus ihr stammt in der altchristlichen Sittenlehre die
Forderung einer Welteritsagung , die in mönchischer Tugend
ihren höchsten Ausdruck findet; in der platonischen der Grund-
satz, dass der Mensch auf alle persönlichen Zwecke verzichten
solle, um nur für's Ganze zu leben, die Verkennung der
Rechte, welche der Individualität zukommen, und die Unter-
drückung ihrer Freiheit. Durch jene ethischen Voraussetzungen
war es bedingt, dass Plato seinem Staate das gleiche Ziel
steckte, welches in der Folge die christliche Kirche sich ge-
steckt hat, die Menschen sittlich und religiös zu erziehen, sie
mehr noch für's Jenseits als fÜr's Diesseits zu bilden. Wenn
daher beide in vielen und eingreifenden Zügen zusammen-
treffen, so ist diess höchst natürlich : die sittliche Weltansicht,
welche dem platonischen Staate zu Grunde liegt, hat sich
nachher, mit andern Elementen verschmolzen, in der christ-
lichen Kirche weiter entwickelt; wer könnte sich wundem,
dass der gleiche Boden gleichartige Früchte getragen hat?
Erscheint doch unser Philosoph auch noch in mancher weite-
ren Beziehung als ein Vorläufer des Christenthums , welcher
diesem nicht etwa nur für seine äussere Ausbreitung im
Z«ller, Vorträge und Abhandl. Q
Der platonische SUat
Aischeo Volke den Weg geebaet, sondern auch de», wel-
, es selbst in seiner inneren Entwicklung zu gehen hatte,
Iweise TOi'gezeichnet hat Jene reine und erhabene Gottes-
z. B. , weiche an der Spitze seines Systems steht , war
von den ' eii^eifendsten Nonnen der altchnstlichen , wie
in der-jüdisch-alexandrischen Dogmatik; jene Reform der
tsreligion, auf welche er in der Republik dringt , jene Be-
gung unwürdiger Vorstellungen über die Gottheit, die er
angt, ist vom Chriatenthum vollbracht worden; jenen Sitt-
en Geist, in dem er die Religion aufgefasst wissen will,
es in sich 'au%enonunen; jenra Gebot der FeindesUebe,
eine Perle der evai^eliBchcn Moral ist, finden wir vorher
)n, und in dieser grundsätzlichen Allgemeinheit zuerst, bei
X), wenn er (eben in seinem „Staat") ausführt, der Gerechte
de auch dem Feinde nie böses zufügen, denn dem Outen
tme es nicht zu, anderes zu thun, als gutes. Wer in den
jchen nur „Heiden" zu sehen gewohnt ist, den mögen
he Züge, die sich ohne Muhe vermehren Uessen, befremden:
iT wahrhaft historischen Betrachtung werden sie nur das
etz der Stetigkeit in der geschichtlichen Entwicklung be-
rtigen.
Weit entfernter ist das Verhältniss der platonischen Politik
den gegenwäitigen Zuständen des Staats und der Gesell-
ift. Von einer Einwirkung Plato's kann hier kaum die
le sein, ausser wiefern dieselbe durch seine Bedeutung fUr
ältere Zeit vermittelt ist; die Einiichtungen der Gegen-
t haben sieb im wesentlichen selbständig, auf Grund der
ebenen Bedürfii^se, aus dem Mittelalter entwickelt, und
politische Spekulation hat daran im ganzen genommen
in geringen Antheil. Nui- um so merkwürdiger ist es aber,
Plato mit manchen von seinen Vorschlägen der Sache
h auf das gleiche hinsteuert, was die neuere Zeit in aa-
st Weise und meist aus anderen Beweggi-ünden in's Leben
ifen hat. Wenn schon Sokrates im Gegeosatz zur atheni-
jn Demokratie verlangt hatte, dass nur den Sachvei-stin-
m ein Amt anvertraut und in öffentlichen Angelegenheiten
^^^^•:^"'V"
in seiner Bedeutung für die Folgezeit. 83
eine Stimme eingeräumt werde, und wenn Plato in folgerichti-
ger Anwendung dieses Ginindsatzes nur den Männern der
Wissenschaft die Leitung der Staaten übertragen wissen wollte,
80 ist auch bei uns in den meisten Ländern eine wissenschaft-
liche Vorbereitung zum Staatsdienst vorgeschrieben, es ist die
Staatsverwaltung aus der Hand des feudalen und ritterlichen
Adels an die neue Aristokratie des wissenschaftlich gebildeten
Beamtenstandes übergegangen. Wenn Plato einen abgeson-
derten Eriegerstand schaffen wollte, der sich keinem sonstigen
Geschäft widme, so glauben auch sie ohne stehende Heere,
und namentlich ohne einen eigenen berufemässig gebildeten
Of&zierstand , nicht auskommen zu können; und der durch-
schlagendste Grund dafür ist heute noch der, welchen schon
Plato geltend macht: dass die Kriegskunst eben auch eine
Kunst sei, die niemand gründlich verstehe, der sie nicht fach-
mässig erlernt habe und als Lebensberuf treibe. Wenn Plato
femer, im Zusammenhang damit, die öffentliche Erziehung,
über die bei den Griechen herkömmlichen Untenichtsgegen-
stände, Musik und Gymnastik, hinausgi*eifend, auf die mathe-
matischen und philosophischen Fächer, mit Einem Wort, auf
die gesammte Wissenschaft seiner Zeit ausdehnt, so haben die
heutigen Staaten dieses Bedüi-fhiss schon längst durch die
Gründung von wissenschaftlichen Anstalten aller Art anerkannt.
Unser Philosoph freilich würde sich dui*ch die Art, wie seine
Ideale unter uns verwirklicht sind, schwerlich befiiedigt finden ;
er würde Mühe haben, in der Bevölkerung unserer Kanzleien
seine philosophischen Regenten, oder in unsem Kasernen die
Orte zu erkennen, in denen die Krieger, wie er will, vor allem
Anhauch des Gemeinen bewahrt, zur sittlichen Schönheit und
Harmonie ei-zogen. werden sollen; er würde wohl auch auf
unsem Universitäten, wenn er 'manches, was da vorkommt,
mitansähe, erstaunt fragen, ob diess die Früchte der Philo-
sophie seien, ja er würde Grund genug haben, hinzuzufügen,
wo denn für die meisten, neben den hundert Specialitäten, die
ihre Zeit ausfüllen, die Philosophie selbst, die Einheit und
der Zusammenhang aller Wissenschaft bleibe ; davon nicht zu
6*
Der platonisdie Staat
lass er vod unseren vier Fakultäten die drei obereo
e streicbeo wurde: denn eine Theologie, 'die etwas
alE Philosophie sein will, wurde er Mythologie nennen,
die Jurisprudenz und Medicin betrifft, so ist er der
, Rechtsstreitigkeiten wurden in seinem Staat Beine
en, und fur die Krankheiten werden wenige Haos-
inügen: wem damit nicht zu helfen sei, den möge
rost sterben lassen, da es sieb nicht verlohne, sein
1 der Pflege eines siechen Körpers hinzusclüeppen.
BS thut der Thatsache keinen Eintrag, dass er doch
inche von den Zielen in's Auge gefasst hat, welche
eit, in ihrer Art freilich und mit anderen Mitteln,
So liegen auch Plato's Bestimmungen über die Er-
und die Beschäftigung des weiblichen Geschlecbta
unseren Begriffen und Gewobnbeiten weit genug ab ;
uns freilich nimmt sich die Forderung seltsam aus,
Frauen Staatsämter bekleiden und mit zu Felde
dien, sei es auch nur (wie er einmal vorsichtig bei-
der Reserve; auch ein strengerer wissenschaftlicher
it derselben wird trotz alier Schriftstelleiinnen und
Frauen, die wir besitzen, schwerlich je allgemeia
md wenn die Gymnastik in den weiblichen Erziehungs-
immerhin einen nützlichen Unterrichtsgegenstand
wilrden wir uns doch an der platonischen Voraus*
dass sie in derselben Weise betrieben werde, wie in
iand unter den Männern, mit Recht stossen, und uns
's Auskunft, dass die Bürgerinnen seines Staates statt
sandes in ihre Tugend gehüllt seien, nicht begnügen. ■
em er, als einer der ersten, einer sorgßlltigen Er*
les weiblichen Geschlechts, seiner geistigen und sitt-
Idung, seiner wesentJicheu Gleichstellung mit dem
m das Wort redet, gebt Plato Ober die Sitte und
ht seines Volkes ebensoweit hinaus, als er sich der
annähert. Auch das erinnert ganz an moderne Zu-
ivenn er für alle Gedichte, Schauspiele , Musikstücke
twerke eine Censur eingefiihrt wissen will, oder wenn
Zx^z^- -'-, :v
in seiner Bedeutung für die Folgezeit 85
er in den „Gesetzen" den Voi^schlag macht, eine Sammlung
von guten Schriften und Kernliedem, sammt Melodieen und
Tänzen, zum Gebrauch für die Bürger, und namentlich auch
zu Schulzwecken, von Staatswegen zu veranstalten. Noch das
eine und andere der Art liesse sich beibringen, so z. B. seine
Vorschläge für Einführung eines menschlicheren Kriegsrechts;
doch mag es an dem angeführten genug sein.
Dagegen dürfen wir das Verhältniss der platonischen Dar-
stellung zu jenen politischen und socialen Dichtungen nicht
tibergehen, welche die neuere Zeit in so gi'osser Anzahl her-
vorgebracht hat. Alle diese Staatsromane, von der Utopia
des Thomas Morus bis auf Cabet's Icarien herab, sind nach
Inhalt und Einkleidung Nachahmungen der platonischen Be-
publik und der Schrift, welche den Staat der Republik in
geschichtlicher Form schildern sollte, welche aber von Plato
nicht vollendet wurde, des Kritias. In ihnen allen sind es
poütische Ideale, welche mit grösserer oder geringerer i'reiheit
ausgemalt werden, und in allen lassen sich die bekannten
Züge des platonischen Typus bald vollständiger bald unvoll-
ständiger wiedererkennen: bei den einen die Herrschaft der
Philosophen und Gelehrten, bei andern die Aufhebung des
Familienlebens und des Privateigenthums , die Gemeinsamkeit
der Wohnungen; der Mahle, der Arbeit, der Erziehung, da
und. dort selbst der Frauen. Aber Ein wesentlicher Unter-
schied ist es, der sie alle in ihrer innersten Tendenz vom
platonischen Staat trennt. Plato's leitende Idee ist, wie be-
merkt, die Verwirklichung der Sittlichkeit durch den Staat:
der Staat soll seine Bürger zur Tugend heranbilden, er ist
eme grossartige, das ganze Leben und Dasein seiner Mit-
glieder umfassende Erziehungsanstalt. Diesem Einen Zweck
haben alle anderen sich unterzuordnen, ihm werden alle Einzel-
interessen rücksichtslos geopfert: nur um die Glückseligkeit
und Vollkommenheit des Ganzen könne es sich für ihn han-
deln, sagt Plato, der Einzelne habe nicht mehr anzusprechen,
als mit der Schönheit des Ganzen sich vertrage. Er trägt
daher nicht das mindeste Bedenken, eine kastenartige Un-
/*
86 Der platonische Staat
gleichheit der Stände und eine unbedingte Selbstentäusserung
aller Bürger zur Grundlage seines Staatswesens zu machen.
Bei den modernen Staatsromanen umgekehrt ^ fast ohne alle
Ausnahme, ist es gerade das Verlangen nach allgemeiner und
gleichmässiger Theilnahme an den Genüssen des Lebens, was
die Unzufriedenheit mit den bestehenden Zuständen erzeugt
und die Ideale hervoiTuft. Plato will das Privatinteresse auf-
heben, seine modernen Nachfolger wollen es befriedigen ; jener
strebt nach Vollkommenheit des Ganzen, diese nach Beglückung
der Einzelnen; jener behandelt den Staat als Zweck, die
Person als Mittel, diese die Personen als Zweck, den Staat
und die Gesellschaft als Mittel. Die meisten unserer Socialisten
und Gommunisten sprechen diess offen genug aus : möglichst
viel Genuss* für den Einzelnen, und desshalb gleich viel Genuss
für alle, ist ihr Wahlspruch. Aber wenn auch die Schlag-
wörter bei einzelnen anders lauten, die praktischen Vorschläge
selbst zeigen zur Genüge, auf was es in letzter Beziehung
abgesehen ist ; mag man auch von Brüderlichkeit reden : wenn
diese im Gommunismus bestehen soll, so liegt am Tage, dass
es sich nicht sowohl um die Erfüllung einer Pflicht handelt,
als um die Befriedigung eines Wunsches ; mag man auch gegen
den Individualismus der Zeit zu Felde ziehen, wie St. Simon:
die Rehabilitation des Fleisches ist nicht der Weg, ihm zu
steuern. Die Glückseligkeit der Einzelnen ist es, auf welche
hier alles berechnet ist, und schon der Vater dieser ganzen
Literatur in der neueren Zeit, Thomas Monis, hat diess aus-
gesprochen; denn ausdrücklich bezeichnet er die Lust als den
höchsten Zweck unserer Thätigkeit, und wie sehr er im übri-
gen Plato folgen mag, sein ethisches Princip ist eher epiku-
reisch, als platonisch. Weiss doch selbst ein so strenger
Moralphilosoph, wie Fichte, seinen „geschlossenen Handels-
staat," bei aller Unausführbarkeit doch vielleicht das beste
und jedenfalls eines der besonnensten unter den socialistischen
Staatsidealen, nur mit dem Satz zu begründen, dass jeder so
angenehm leben wolle, als möglich. Ich bin weit entfernt,
diess den modeiiien Theorieen sofort zum Vorwurf zu machen:
-V^T^? ^>
* -■'
in seiner Bedeutung fiir die Folgezeit. 87 -
der Gesichtspunkt, von dem sie ausgehen, ist in seinem Grunde
wahr und berechtigt, wenn er auch nicht die ganze Wahrheit
enthält, und durch üebertreibung nicht selten zu viel ver-
kehrtem geführt hat. Doch wie dem sein mag. der Werth
oder der ünwerth jener Theorieen soll hier nicht untersucht
werden , sondern ich verweise nur desshalb auf ihre allgemei-
nere Tendenz, um ihr Yerhältniss zum platonischen Staat zu
beleuchten. Dieses ist aber in letzter Beziehung das gleiche,
welches überhaupt zwischen unserer Auffassung des Staats-
lebens und der hellenischen stattfindet. Denn der durch-
greifendste Unterschied beider liegt weniger in den Verfassungs-
formen , als in der Stellung , welche dem Staatsganzen zu den
Einzelnen, ihren Rechten und ihrer Thätigkeit gegeben wird.
Für unsere Anschauungsweise baut sich der Staat von unten
her auf: die Einzelnen sind das erste, der Staat entsteht da-
durch, dass sie zum Schutz ihrer Rechte und zur gemeinsamen
Förderung ihres Wohls zusammentreten. Ebendesshalb bleiben
aber auch die Einzelnen der letzte Zweck des Staatslebens;
wü* verlangen vom Staat, dass er der Gesammtheit seiner ein-
zelnen Angehörigen möglichst viel Fi'eiheit, Wohlstand und
Bildung verschaffe, und wir werden uns nie tiberzeugen, dass
es zur Vollkommenheit des Stäatsganzen dienen könne, oder
dass es erlaubt sei, die wesentlichen Rechte und Interessen
der Einzelnen seinen Zwecken zu opfern. Dem Griechen er-
scheint umgekehrt der Staat als das erste und wesentlichste,
der Einzelne nur als ein Theil des Gemeinwesens; das Gefühl
der politischen Gemeinschaft ist in ihm so stark, die Idee der
Persönlichkeit tritt dagegen so entschieden zurück, dass er
sich ein menschenwürdiges Dasein überhaupt nur im Staate zu
denken weiss; er kennt keine höhere Aufgabe, als die poli-
tische, kein ursprünglicheres Recht, als das des Ganzen: der
Staat, sagt Aristoteles, sei seiner Natur nach früher, als die
Einzelnen. Hier wird daher der Person nur so viel Recht
eingeräumt, als ihre Stellung im Staate mit sich bringt: es
giebt, streng genommen, keine allgemeinen Menschenrechte,
sondern nur Bürgerrechte, und mögen die Interessen der Ein-
88 I^6r platonische Staat.
zelnen vom Staat noch so tief verletzt werden, wenn das
Staatsinteresse diess fordert, können sie sich nicht beklagen:
der Staat ist der alleinige ursprüngliche Inhaber aller Rechte,
und er ist nicht verpflichtet, seinen Angehörigen an denselben
einen grösseren Antheil zu gewähren, als seine eigenen Zwecke
mit sich bringen. Auch Plato theilt diesen Standpunkt, ja er
hat ihn in seiner Republik auf die Spitze getrieben. Anderer-
seits erkennt er aber freilich zugleich an, dass eine wahre
Sittlichkeit nur duich freie Ueberzeugung , durch das eigene
Wissen der Einzelnen möglich sei, dass sich auch die politische
Tüchtigkeit durch eine gi-ündliche wissenschaftliche Erkenntniss
vollenden, die gewöhnliche und gewohnheitsmässige Tugend
sich durch die Philosophie läutern und befestigen müsse ; und
ebendesshalb ist der Grundstein seines Staates die philosophische
Bildung der Regenten, und alle andern werden von jedem An-
theil an der Staatsverwaltung unbedingt ausgeschlossen. Damit
ist offenbar jener altgriechische Standpunkt, welchen Plato in
anderer Beziehung festhält, wieder verlassen, der Schwerpunkt
des Staatslebens ist in die Einzelnen, in ihre Bildung „ ihre
wissenschaftliche Ueberzeugung verlegt. Aber sich dieser Rich-
tung ganz zu überlassen ist dem Philosophen unmöglich: dazu
ist der hellenische Geist in ihm und seinem System noch zu
mächtig. So steht er an der Grenzscheide zweier Zeiten, und
während er selbst mit aller Macht daran arbeitet, eine neue
Bildungsform heraufzuführen, bringt er doch zugleich alle die
Interessen, auf welche die neuere Zeit nicht zu verzichten
weiss, dem Geist seines Volkes willig zum Opfer. Ebendess-
wegen aber versteht man ihn blos halb, wenn man nur seine
Bedeutung für seine Zeit in's Auge fasst; das Innerste seines
Wesens gehört, wie bei allen bahnbrechenden Geistera, der
Zukunft.
. -X .-^/-X.'V. -<w -N.
mk^
Haroiu Aureliua Antoninos.
Die JahrhuDderte der römischen KaiseHierrschaft sind
bekanntlich die Zeit, in welcher sich eine der wichtigsten and
durchgreifendsten UmwälzuDgen im geistigen Leben der Mensch-
heit vollzogen hat: die Entstehung des Christenthums , seine
siegreiche Verbreitung unter den bedeutendstea der alten
Kulturvölker, der Untei^ang ihi-er polytheistischen Volks-
religionen und der ganzen an sie geknüpften Bildimgsfonn.
Eine eigenthümlicbe Bedeutung kommt in dieser grossen ge-
schichtlichen Bewegui^ der griechischen Philosophie zu. Auf
der einen Seite war sie es, welche seit ihrem ersten Auftreten
dem Glauben an die alten Götter die tiefsten und unheilbarsten
"Wunden geachlag», welche mehr, als irgend eine andere
Erscheinung, dazu beigetragen hat, dass innerhalb des helle-
nischen Bildungsgebietes die Aendemng der Sinnes- und Denk-
weise erfolgte, durch welche nicht allein die Ausbreitung,
sondern auch schon die Entstehung des Christenthums bedingt
war. Andererseits aber bemühten sich die grössten und ein-
flussreidisten unter den griechischen Philosophen um die Wette,
fUr die Glaubensvorstellungen, welche sie zerstörten, durch
richtigere Begriffe über die Gottheit und die göttliche Wirk-
samkeit in der Welt, durch reinere sittUcbe Grundsatze und
kräftigere moralische Triebfedern einen Ersatz zu schaffen;
und die meisten derselben sachten von hier aus auch der
90 Marcus Aurelius Antoninas.
Yolksreligion eine Seite abzugewinnen, die es- erlaubte^ sie als
Trägerin der sittlichen und religiösen Wahrheit für die grosse
Masse derer, welchen die wissenschaftliche Ausbildung fehlte,
in ihrer herkömmlichen Geltung zu belassen. Gerade in den
Jahrhunderten, welche der Entstehung des Ghristenthums zu-,
nächst vorangiengen und folgten, wird die griechisch-römische
Philosophie immer ausschliesslicher von diesem sittlich-religiösen
Interesse beherrscht Wählend der Sinn und die Fähigkeit
für selbständige wissenschaftliche Foi-schung sich immer mehr
verliert, steigert sich in demselben Masse das Bedtirfhiss, über
die Fragen in's reine zu kommen, von welchen die Glück-
seligkeit des Menschen zunächst abhängt. Durch diese Be-
schränkung auf die praktischen Aufgaben geht dann die Philo-
sophie allmählich in die Form der allgemeinen Bildung über^
um dieser die positive Religion, welche ihr längst verloren
gegangen ist, durch eine Ait allgemeiner Vemunftreligion zu
ersetzen.
Von den Philosophenschulen, welche in den letzten Jahr-
hunderten der alten Geschichte in diesem Sinne arbeiteten«
hat keine einen weiter greifenden Einfluss und eine nach-
haltigere geschichtliche Bedeutung erlangt, als die stoische.
Um den Anfang des dritten vorchristlichen Jahrhunderts durch
den Cyprier Zeno in Athen gegrtlndet, hat sich diese Schule
ein halbes Jahrtausend lang ii^ einer hervorragenden Stellung
behauptet. Aller Orten, so weit die griechische Bildung reichte,
zog sie viele von den besten Männern an sich, und als die
griechische Philosophie nach Rom verpflanzt wurde, war sie es,
welcher fast alle die zufielen, denen es um Wiederherstellung
der alten Sittenstrenge und des alten Staatswesens zu thun
war, die unter den Gräueln der Bürgerkriege und unter dem
Drucke der jungen Alleinherrschaft sich einen Rest von alt-
römischer Denkweise und republikanischer Gesinnung bewahrt
hatten. Gerade dem römischen Wesen war der Stoicismus in
vielen Beziehungen wähl verwandt ; durch seine strenge Sitten-
lehre, seine ernste, religiöse Weltansicht, durch den Geist
männlicher Unabhängigkeit, der ihn beseelte, durch die prak-
'•*'-.l>:?
■ ^
Marcus AareUas Antoninus. 91
tische Wendung, welche den philosophischen Lehrsätzen hier
gegeben wurde, musste er sich den Römern in viel höherem
Grade empfehlen, als die platonische Philosophie mit ihrem
spekulativen Idealismus, die aristotelische in ihrer rein wissen-
schaftlichen Haltung und ihiem Beichthum an Untersuchungen,
für welche in Rom weder Sinn noch Verständniss zu finden
war. Die römische Philosophie ist zwar nicht ausschliesslich,
aber doch überwiegend Stoicismus, und der Stoicismus seinei:-
seits hat seine wissenschaftliche Darstellung zwar durchaus
Griechen zu verdanken, aber für seine praktische und kultur-
geschichtliche Wirkung fand er erst in der römischen Welt
den dankbarsten Boden und den weitesten Spielraum.
Der letzte bedeutende Name in der Reihe der stoischen
Philosophen ist nun der des Marcus Aurelius Antoninus.
Es ist aber nicht dieser Umstand allein, welcher ihm ein
höheres Interesse für uns verleiht. Dieser letzte der Stoiker
ist ein so würdiger Vertreter seiner Schule, dass wir uns ihren
Charakter an keiner edleren Persönlichkeit zur Anschauung
bringen können. Neben den ursprünglichen Zügen der stoi-
schen Philosophie lässt er uns aber zugleich in seinem Wesen
und in seinen Ansichten die Veränderungen erkennen, welche
dieselbe in fünf Jahrhunderten allmählich erlitten hatte. Wenn
wir ferner in den Philosophen jener Zeit sonst nur Gelehrte
zu sehen gewohnt sind, die von der Schule aus durch Rede
und Vorschrift auf das menschliche Leben einzuwirken suchen,
so hat in Mark Aurel die Philosophie die Probe der Erfahrung
zu bestehen; sie besteigt in ihm den Thron des römischen
Weltreichs und versucht ihre Kräfte an der Lösung einer
Aufgabe, wie sie schwieriger von der Geschichte niemals ge-
stellt worden ist. Bei diesem Versuche kommt sie endlich
mit einer zweiten geistigen Macht in Berührung, welche von
ganz anderen Voraussetzungen aus und in anderer Richtung
an der gleichen Aufgabe, an der Wiedergeburt einer zerfallen-
den Welt arbeitet, mit dem Christenthum ; und an der Stellung,
welche sie zu ihm einnimmt, spiegelt sich nicht allein der
Gegensatz und die Verwandtschaft dieser zwei Erscheinungen,
92 Marcus Aorelius Antoninus.
sondern auch das Verhältniss der christlichen Kirche zum
römischen Staat ab. Ich versuche es, nach diesen verschie-
denen Beziehungen, so weit der Raum es verstattet, ein Bild
von Mark AureFs Charakter und geschichtlicher Stellung zu
entwerfen.
Marcus Annius Verus — denn so hiess unser Stoiker ur-
spiiinglich — war im Jahr 121 nach Christus zu Rom geboren,
wohin sein Urgi'ossvater aus Spanien eingewandeit war. Die
Familien, denen er väterlicher- und mütterlicherseits ange-
hörte, waren durch die Gunst mehrerer Kaiser und durch
eigenes Verdienst zu den höchsten Staatsämtem emporgestiegen.
Auch dein jungen Marcus eröflheten sich hiemach die günstig-
sten Aussichten; und hatte er auch seinen Vater schon frühe
verloren, so Hessen es doch die beiden Grossväter und die
Mutter, in deren Hand seine Erziehung jetzt gelegt war, an
nichts fehlen, was dazu dienen konnte, ihn für eine hervor-
ragende Stellung vorzubereiten. Schon als Knabe war er
ernst, von ungewöhnlicher Wissbegierde und so wahrheits-
liebend, dass ihn der Kaiser Hadrian statt Verus (wahrhaftig)
im Superlativ Verissimus (den allei*wahrhaftigsten) zu nennen
pflegte. Den Studien widmete er sich mit einer grösseren
Anstrengung, als für seinen schwächlichen Körper gut war.
Seinen Lehreni zollte er noch als Kaiser eine seltene Ver-
ehrung und gab ihnen die glänzendsten Beweise seiner Dank-
barkeit Frühe erwachte in ihm der Geschmack für Philo-
sophie: er war noch nicht zwölf Jahre alt, als er anfieng, die
Kleidung eines Philosophen, die Ordenstracht, welche beson-
ders die Cyniker und die Stoiker aufgebracht hatten, zu
tragen. Und welche Art von Philosophie ihm am besten ge-
falle, gab er gleichzeitig auch dadurch zu erkennen, dass er
schon damals, um sich an Bedtirfhisslosigkeit zu gewöhnen,
sich Entbehrungen auferlegte, deren Uebermass er nur auf
die Bitte seiner Mutter beschränkte. Er hatte Männer der
verschiedenen Schulen, vorzugsweise jedoch Stoiker zu Lehrern;
und er rühmt noch in späteren Jahren, was er jedem einzel-
nen nicht Mos für seine geistige Ausbildung, sondern vor
'^' • r- -
Marcus Aurelius Antoninus. 93
allem für seinen Charakter zu danken habe. Sein Ideal war
der Stoicismus; und unter den stoischen Philosophen machte
keiner auf ihn einen tieferen Eindruck, als Epik t et, ein
Phrygier, der unter Nero und seinen Nachfolgern eret als
Sklave, dann als Freigelassener in Rom, seit Domitian's Philo-
sophenvertreibung in Epirus gelebt hatte, und unter Ti*ajan
in hohem Alter gestorben war. Dass er aber diese Philo-
sophie des phrygischen Sklaven in der Folge auf dem Throne
zu bewähren Gelegenheit fand, diess hatte er dem Kaiser
Hadrian zu verdanken. Dieser kinderlose Fürst hatte seinen
Liebling Lucius Cejonius Conmiodus adoptirt und zu seinem
Nachfolger bestimmt. Schon damals scheint er aber daran
gedacht zu haben, dem jungen Annius Verus, der sehr frühe
seine Zuneigung gewonnen hatte, fllr die Folgezeit einen An-
iheil an der Herrschaft zuzuwenden. Dai*auf deutet wenig-
stens der Umstand, dass er den fünfzehnjährigen Jüngling mit
Commodus' Tochter verlobte. Noch ehe es jedoch zu dieser
Heirath kam, starb der kränkliche, durch Weichlichkeit und
Ausschweifungen entnervte Gommodus; und nun traf Hadrian
Anordnungen, durch welche unserem Marcus die Thronfolge
bestimmter gesichert wurde. Er adoptirte nämlich an Gom-
modus' Stelle den trefflichen Titus Aurelius Antoninus, der
nachher als Kaiser den Beinamen Pius (der Fromme oder
Liebreiche) erhielt und verdiente ; zugleich bestimmte er aber,
dass dieser seinen Neffen , unsem Marcus Annius Verus , und
mit ihm den jungen Sohn des verstorbenen Gonunodus adop-
tiren sollte. In Folge dieser Adoption nahm Mai-cus statt
seiner bisherigen Fanüliennamen die seines Adoptivvaters an,
so dass er jetzt Marcus Aurelius .Antoninus hiess, wogegen
sein Name Annius Verus später auf seinen Adoptivbruder,
den jungen Lucius Cejonius Commodus, welchen er bei seiner
Thronbesteigung gleichfalls adoptirt zu haben scheint, über-
gieng. Wenige Monate nach dieser Verfügung , im Juli des
Jahres 138 n. Ghr., starb Hadrian, und Antoninus Pius kam
ZOT Regierung.
94 Marcus AureUus AntoninuB.
Mit diesem seinem Adoptivvater stand Marcus Aurelius,
jetzt der erklärte Erbe des Weltreichs, in einem sehr schönen,
in seiner Art vielleicht ohne Beispiel dastehenden Verhältnisse
Antoninus Pias war bekanntlich einer der besten Hen-scher,
seine Regierung eine der segensreichsten, welche dem Kaiser-
reich zu Theil wurden. Sein Nachfolger schildert uns selbst
in seinen „Selbstgesprächen" (I, 16. VI, 30) die seltenen Eigen-
schaften, die ihn auszeichneten: seine Milde, die mit strenger
Gerechtigkeit, mit unerschütterlicher Festigkeit in den wohl-
erwogenen Beschlüssen gepaart war, seine reife, umsichtige
Regentenweisheit; seine unermüdliche Fürsorge für grosses
und kleines in dem Haushalt des unermesslichen Reiches;
seine anspruchslose Gediegenheit, seinen nüchternen Vei-stand,
seine ruhige Heiterkeit, seine schlichte, von Aberglauben freie
Frömmigkeit, seine Gewissenhaftigkeit in den Geschäften, seine
Bemühungen um die Hebung der öffentlichen Sittlichkeit, seine
neidlose Anerkennung jedes Verdienstes; die Beständigkeit
seiner freundschaftlichen Neigungen, die Liberalität, mit der
er auch als Fürst im geseUigen Verkehr andern ihre Freiheit
liess, die Grossherzigkeit, mit der er unverdienten Tadel er-
trug , das gesunde Urtheil und das richtigem Gefühl , womit er
alle Verhältnisse zu behandeln, in allem das redite Mass zu
treffen wusste. Das Zeugniss, welches Marcus Aurelius hier
seinem Vorgänger lange nach dessen Tod ausstellt, ist zu-
gleich ein Zeugniss der Verehrung, die er ihm als Jüngling
gewidmet hatte. Er richtete sich, sagt sein Biograph Capi-
tolinus, nach den Wünschen seines (Adoptiv-)Vaters in Hand-
lungen, Reden und Gedanken ; während der ganzen Regierung
desselben war er nur zweimal eine Nacht lang von ihm ge-
trennt, und in allen Dingen hielt er sich so, dass er sich
jeden Tag tiefer in seiner Liebe befestigte. Antoninus seiner-
seits behandelte den Adoptivsohn von Anfang an mit einer
Zuneigung und einem Vertrauen, wie es wohl ^en wenigsten
Thronfolgern von ihren leiblichen Vätern geschenkt worden
ist. Er zog ihn sofort in die Regierungsgeschäfte, er über-
häufte ihn noch als Jüngling mit Ehrenstellen und Gunstbe-
". .-'■ ^' ' '
Marcus Aurelius Antoninüs. 95
Zeugungen jeder Art; und um ihn fester an sich zu ketten,
löste er die Verlobung mit der Tochter des vei-storbenen
Gommodus auf, und vermählte ihn mit seiner eigenen Tochter
Faustina. Auch hier fehlte es zwar nicht an Leuten, die
durch allerlei Ohrenbläsereien zwischen dem Kaiser und dem
Kronprinzen Misstrauen zu säen bemüht waren; aber so er-
klärlich es auch gewesen wäre, wenn den Fürsten beim
Anblick des jugendlichen Cäsar ein Gefühl der Eifersucht
beschlichen hätte: sein Glaube an Marcus blieb ebenso un-
erschüttert, als die kindliche Verehrung des letzteren gegen
den Mann, dem er so viel zu verdanken hatte. So gewählten
diese zwei vortrefflichen Menschen der Welt das seltene Schau-
spiel eines unumschränkten Fürsten, der mit seinem Nach-
folger in ungestörter Eintracht zusammen lebte, und eines-
Thronerben, für ^eichen die Weltherrschaft nicht so viel Reiz
hatte, dass er sich den Tag herbeigewünscht hätte, an dem
sie ihm zufallen sollte. Ja es ist eher zu vermuthen, dass
ihm davor bange war. Denn fortwährend gehörte seine Neigung
der Philosophie, und so wenig die verführerischen Vorrechte
seiner Stellung den jungen Fürsten jemals verleiten konnten,
seinen sittlichen Grundsätzen untreu zu werden, ebensowenig
Uess er sich durch die Staatsgeschäfte und die öffentlichen
Aemter, die er zu verwalten hatte, von seinen gewohnten
Studien abhalten. Der Ehrenname des Philosophen, der ihn
auszeichnet, war ihm lieber, als der des Gäsars; und wenn es
nach seinen persönlichen Wünschen gegangen wäre, so würde
er ohne Zweifel die Müsse des Gelehrten dem Glänze des
Herrschers vorgezogen haben.
Dreiundzwanzig Jahre lebte Marcus am Hofe seines Adop-
tivvaters, und wir dürfen wohl annehmen, dass er an den
Massregeln keinen geringen Antheil hatte, durch welche dieser
ausgezeichnete Fürst erfolgreich bemüht war, die Grenzen des
Reiches zu schützen , den Frieden zu erhalten , den Staats-
haushalt zu ordnen, den Volkswohlstand zu fördern, die Ge-
setze und Sitten zu verbessern, der Angeberei und anderen
üeberbleibseln des Despotismus zu steuern, das Ansehen und
96 Marcus AureliuB Antoninns.
die Bedeutung des Senats zu heben, Wohlthätigkeits- und
Bildungsanstalten zu gründen, öffentliches Unglück zu erleich-
tern, der vielgeplagten römischen Welt eine Zeit der Ruhe
und der Erholung zu vei'schaifen, wie sie dieselbe nicht wieder
gesehen hat Im Jahr 161 starb Antonius Pius, und die La&t
der Regierung ruhte jetzt ungetheilt auf den Schultern Mark
Aurel's. Und niemand war wohl im Zweifel darüber, dass
Antoninus keinen besseren und würdigeren Nachfolger erhalten
konnte. Marcus Aurelius war jetzt vierzig Jahre alt ; er hatte
unter seinem Vorgänger eine Schule der Regierungskunst
durchgemacht, wie sie wohl nicht leicht ein Fürst zu benützen
Gelegenheit gehabt hat ; er brachte nicht blos einen reich-
gebildeten Geist, sondern auch einen edeln und reinen Cha-
rakter, vortreffliche 'Grundsätze, eine strenge Gewissenhaftig-
keit, eine unbedingte Pflichttreue auf den Thron mit. So tritt
denn aus allen seinen Regierungshandlungen das Bestreben
hervor, die Leitung des Weltreichs im Sinne seines Vorgängers
fortzuführen. Er verbesserte, von tüchtigen Rechtsgelehrten
unterstützt, die Gesetzgebung und die Rechtspflege, sorgte
für die Getreidezufuhren, die Strassen und die Verkehrsmittel,
beschränkte die Ausgaben für Volksbelustigungen und die Un-
menschlichkeit der Gladiatorenkämpfe; selbst die Seiltänzer
mussten zur Verhütung von Unglücksfällen die Erde unter
ihren Seilen mit Kissen belegen. Die Bemühungen des Pius
für Verbesserung der Sitten und Förderung der Wissenschaften
wurden fortgesetzt, die von ihm gegründeten Waisenhäuser
und wohlthätigen Anstalten erweitert. Die Missbräuche der
früheren Regierungen waren fast alle verschwunden; der
Kaiser war die Zuflucht aller Bedrückten und Bedrängten;
und während er alle seine Kräfte auf's gewissenhafteste dem
Staatswohl widmete, lebte er füi- sich selbst in republikanischer
Einfachheit und Anspruchslosigkeit. Gegen seine Freunde bis
zum Uebermass grossmüthig und freigebig, zeigte er gegen
Beleidigungen und hochverrätherische Unternehmungen eine^
ungewöhnliche Milde. Er entzog niemand seinem ordentlichen
Richter, er begnadigte alle, die wegen politischer Vergehen
Marcus Aiirelius Antoninus. 97
zum Tode verurtheilt wurden, und wenn sie auch noch so
schuldig sein mochten, zu milderen Strafen. Den Senat, die
einzige grosse politische Körperschaft, welche Rom noch be*
sass, suchte auch Mark Aurel durch Au&ahme würdiger
Männer und durch rücksichtsvolle Behandlung zu heben, seine
Selbständigkeit und seinen Geschäftski'eis zu erweitern. Den
Erpressungen der Beamten in den Provinzen bemühte er sich
zu steuern, die öffentlichen Lasten gerecht zu vertheilen, Land-
strichen, die von Hungersnoth heimgesucht waren, kam er zu
Hülfe. Was er seinem Bruder Severus nachrühmt (Selbst-
gespr. I, 14), dass er ihm den Begriff bürgerlicher Gleichheit,
die Idee einer Monarchie verdanke, welche die Freiheit der
Unterthanen zu achten wisse, das bezeichnet ihn selbst. Marcus
Aurelius ist in Wahrheit ein Republikaner auf dem Throne;
er betrachtete sich selbst, wie der grosse preussische König,
als den ersten Beamten des Staates, und er 'machte für seine
Person auf keinen andern Vorzug Anspruch, als auf den, für
alle anderen zu sorgen und zu arbeiten. Hätte der reine
Wille und die aufopfernde Pflichttreue Einzelner, hätten die
Tugenden seiner Regenten das Römerreich seinem Schicksal
entreissen können, Antoninus Pius und Marcus Aurelius würden
es gerettet haben.
Aber nicht allein daran war unter den damaligen Um-
standen, bei der Tiefe und Allgemeinheit des moralischen,
poKtischen und socialen Verfalls, nicht zu denken, sondern auch
das bescheidenere Glück , dessen sich Antoninus Pius in seiner
Regierung erfreut hatte, war seinem Nachfolger versagt.
Jener hatte während seiner dreiundzwanzigjährigen Herrschaft
mit keiner bedeutenden äusseren Gefahr, mit keinen erheb-
lichen Unruhen im Innern zu kämpfen gehabt; einige Grenz-
kriege, die keine ausserordentlichen Anstrengungen erforderten,
emige leicht zu bewältigende Aufstände in den Provinzen
konnten den Frieden, welchen die römische Welt unter ihm
genoss, nicht ernstlich gefährden. Unter Marcus Aurelius
war dieses anders. Vom Anfang bis zum Ende seiner Regie-
rung nahmen mit kurzen Unterbrechungen kiiegerische Ver-
ZftUer, Vorträge und Abhandl. 7
v."' ":??T^ 7
98 Marcos Aurelius Antoninosw
Wicklungen, gefahrdrohende Empörungen, schwere Unglücks-
fälle seine angestrengteste Sorge in Anspruch, und zwangen
ihn gegen seine Neigung, sich den philosophischen Studien
und den Werken des Friedens zu entziehen. Unmittelbar
nach seinem Regierungsantritt brach ein Krieg mit Parthien
aus, der erst nach drei oder vier Jahren, nicht ohne schwere
Opfer, durch den tapfem Feldherm Avidius Cassius fftr die
römischen Waffen entschiieden wurde; denselben, der in der
Folge auch einen, wie es scheint, nicht unbedeutenden Auf-
stand der Hirtenbevölkerung im Nildelta niederschlug. Ein^e
Jahre Später entbrannte an der Nordgrenze des Reichs, am
Oberrhein und die Donau entlang, ein heftiger Kampf mit
verschiedenen deutschen Stämmen, der Markomannenkrieg,
während' gleichzeitig in Italien Hungersnoth herrschte und> in
Rom eine verheerende Seuche viele tausende wegraflfte. Erst
nach zwei Feldzügen gelang es im Jahr 170 dem Kaiser;
welcher persönlich auf den Kriegsschauplatz geeilt war, die
JBarbaren theils durch Waffengewalt, theils durch Unterhand-
lungen aus dem römischen Gebiet zu entfernen, und die zahl-
losen Gefangenen, die sie fortgeschleppt hatten, zu befreien.
Aber schon im folgenden Jahre machten sie neue Einfälle;
um die Mittel zum Krieg ohne zu grosse Beschwerung des
Volkes zu gewinnen, liess Marcus Aurelius sechzig Tage lang
die Schätze des kaiserlichen Palastes versteigern; aber erst
nach vier oder fünf Feldzügen, welche den Kaiser wieder für
lange Zeit von Rom abriefen, wurde ein Friede, der im
Grunde nicht viel mehr als ein Waffenstillstand war, errungen.
Noch ehe diese Gefahr ganz beseitigt war, erhob sich 175
n. Chr. im Orient eine neue. Der Befehlshaber der dortigen
Legionen, der ebengenannte Avidius Cassius, der verdienteste
und tüchtigste Feldherr, den Rom damals besass, hatte die
Fahne der Empörung aufgepflanzt und sich selbst zum Kaiser
aufgeworfen. Die Ermordung desselben durch seine eigenen
Soldaten ersparte Mark Aurel einen Kampf, der für ihn und
das Reich sehr bedenklich hätte werden können, und erlaubte
ihm, an Cassius' Mitschuldigen die ihm natürliche Neigung zur
' «
liarcus Aurelios Antoninos.
99
Milde ttsd Verzeahung in der grossartigsten Weise zü bethä-
tigen : keiner derselben wurde hingerichtet, das Vermögen der
terurtheilten ihren Kindern ganz oder theilweise zurückgege-
ben; die Stadt Antiocbia, wdche einen lebhaften Antheil an
der Empörung genommen hatte, erhielt keine schwerere Strafe,
als däss ihr das Recht, öffentliche Spiele zu halten, fttr eine
^it lang entzogen wurde. Aber nur wenige Jahre waren
d^n Kaiser vergönnt, um durch persönliche Anwesenheit die
Angelegenheiten des Orients zu ordnen, und die Arbeit im
Innern des weiten Keichs, welche durch die Kriegszüge unter-
brochen war, wieder anzunehmen. Im Jahr 178 brach der
Krieg mit den Germanen auf's neue aus. Der Kals^er zog
tMz seiner wankenden Gesundheit nochmals in sein altes
Hauptquartier an der Donau, und nach vielen Anstrengungen
war Aussicht auf gänzliche Niederwerfung der Feinde, als er
m Vindobona, dem jetzigen Wien^ von einer Krankheit er-
griffen wurde, der er nach wenigen Tagen, den 17. März 180,
neunuüdfünfzigjährig erlag.
W£^ so die Regierung dieses Kaisers, mit der sdnes Vor-
gängers verglichen, voH von Kämpfen und Mühseligkeiten, so
war er auch noch in anderer Beziehung in eitet Wdt un-
günstigeren Lage, als dieser. Antoninus Pius hatte einen Marcus
Aurelius zur Seite ^ und er konnte diesem, als er selbst vom
Schauplatz abtrat, das Scepter mit vollkommener Beruhigung
übergeben. Marcus Aurelius hatte während der ersten eilf
Jahre seiner Herrschaft seinen Adoptivbruder und nachherigen
Schwiegei-sohn Lucius Verus zum Mitregenten, einen schlaffen,
schwelgerischen Menschen, der allerdings die Leitung des
Staates seinem älteren Genossen bereitwillig überliess, der
aber durch sein unwürdiges Verhalten fortwährend die Ehre
des kaiserlichen Hauses blosstellte und Mark AureVs Be-
mühungen für die Hebung der Sittlichkeit durchkreuzte.
Mochte er ihn nun in Geschäften in die Provinz schicken,
oder ihn unter seinen Augen behalten, das Aergemiss, das er
gab, und der Schaden, den er der kaiserlichen Auktorität zu-
fügte, war immer gleich gross, und Marcus Aurelius selbst
7*
^ ::.*•--.,
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100 Marens Anrelitus Antomnns.
verhehlte es nicht ganz, dass er es fbr ein Glück ansah, als
ihn im Jahr 172 der Tod von diesem Verwandten befreite.
Aber auch in seiner eigenen Familie hatte er ähnliche Er-
fahrungen zu machen. Seine GemaUin Faustina, ihres Vaters
und ihres Gatten gleich unwerth, ergab sich Ausschweifungen,
welche sie vor der Welt zu verbergen kaum der Mühe werth
fand ; und sein Sohn Gommbdus war dieser Mutter um so viel
ähnlicher als dem Vater, dass im Volke die Meinung ver-
breitet war, er sei der Sohn eines Gladiators oder eines Ma-
trosen, weil man es sich nicht als möglich denken konnte,
dass ein Mensch von so niedrigen Neigungen, ein so schaam-
loser Wüstling, ein Despot, dessen Bösartigkeit schon an dem
Knaben zum Vorschein kam, einen Marcus Aurelius zum Vater
haben könne. Dass er diesem Sohne die Herrschaft über das
römische Weltreich hinterlassen musste, war der einzige Kum-
mer, welcher dem sterbenden Kaiser den Abschied vom Leben
verbitterte.
Um aber vollkommen unpartheiisch zu sein, dürfen wir
nicht verbergen, dass auch Mark Aurel selbst trotz aller seiner
Vorzüge den Aufgaben, die ihm gestellt waren, und den
Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hatte, doch nicht
vollkommen gewachsen war. Er war ein vortrefflicher Begent,
aber sein eigenstes Interesse galt doch der Philosophie und
der sittlichen Arbeit an sich selbst ungleich mehr, als den
Begierungsgeschäften. Als er erfuhr, dass er von Hadrian
zum Thronfolger bestimmt sei, sagt Capitolinus, war sein
erstes Gefühl nicht das der Freude, sondern des Schreckens;
und selbst nach Antonin's Tode, als die Sache doch nicht
mehr zweifelhaft sein konnte, erklärte er sich nur zögernd
füF Annahme der Krone. Das Hofleben vollends war so wenig
nach seinem Geschmack, dass er sich, wenn er irgend konnte,
aus demselben in die Einsamkeit zurückzog. Die Philosophie,
sagt er einmal (VI, 12), sei seine Mutter, der Hof seine Stief-
mutter, er müsse sich immer wieder zu jener flüchten, um es
an diesem auszuhalten. Er war mit Einem Wort weit mehr
eine beschauliche als eine praktische Natur, mehr eine sittliche
Marcos Auretios Antoninas. 101
als eine politische Grösse. So widmete er sich denn seinem
Herrscherberufe wohl mit der gewissenhaftesten Hingebung,
der seltensten Pflichttreue: aber er lebte nicht ganz, und
gerade mit seinem tiefsten Interesse nicht in ihm, er
gieng nicht YoUständig in ihm auf, es kam bei ihm nicht zu
jener Thatenlust , ohne die wir uns die volle Herrsehergrösse
nicht denken können. Und mit der Thatenlust fehlte ihm
auch dasjenige Mass der Thatkraft, welches dem Allein-
herrscher in einem so gewaltigen Reiche und unter so schwie-
rigen Umständen zu wünschen gewesen wäre. So gross er
uns in seinem Edelsinn, seiner Menschenliebe, seiner verzei-
henden Milde erscheint, so schön der Grundsatz ist, den er
80 oft ausführt, man solle den Schlechten nicht zürnen, son-
dern sie bemitleiden, so sehen wir doch aus allem, dass er
weit mehr der Mann war, Unrecht zu ertragen und zu ver-
zeihen, als ihm mit kräftiger Hand zu steuern. Wie bedenk-
lich diess in seiner Lage war, und wie leicht bei ihm die
Milde in Schwäche ausartete, diess zeigt besonders sein Ver-
halten zu seinen nächsten Angehörigen. Einen Schlemmer,
wie Lucius Yerus, suchte er zwar, so weit diess im guten
geschehen konnte , unschädlich zu machen , aber er duldete
ihn eilf Jahre lang als Mitr^enten, und würde ihn bis an's
Ende geduldet haben, wenn nicht das Schicksal dazwischen
getreten wäre. Das sittenlose Leben seiner Gemahlin schien
er nicht zu bemerken, so wenig es ihm auch verborgen bleiben
konnte: sei es, weil er von ihrer Schönheit und Liebens-
würdigkeit verblendet war, oder weil er dem Andenken an
ihren Vater diese Nachsicht schuldig zu sein glaubte, oder
nach dem allgemeinen Grundsatz, dass man die Menschen er-
tragen müsse, wenn man sie nicht ändern könne. In der
einzigen Stelle seiner Selbstgespräche, wo er ihrer erwähnt
(I, 17), zahlt er unter den Wohlthaten, welche die Götter ihm
erwiesen haben, auch die auf, dass sie ihm eine so lenksame,
hebreiche und anspruchslose Frau gegeben haben, und als
sie auf ihrer gemeinschaftlichen Reise in den Orient starb
(176 n. Chr.), erwies er ihr Ehren, wie sie der zärtlichste
r^r.
s
102 Marcos Axxr^m AQtottiwui.
Gatte der besten Gattin mcbt reicblicher hätte erweisf^n
können. Ebensowenig war er im Stande, seinen Sobn GoniT
modus, dessen verdferbliche Neigungen schon frühe hervor-^
traten, auf bessere W^e m bringen, ja er hatte die Schwäehe,
ihn in denselben Umgebungen zu lassen, wekhe dra Grund
zu seiner Entartung gelegt hatten^ Dass er einen solchen
Naehfolger geltabt hat, ist ohne Zweifel der schwerste Vor-
wurf, der ihn trifft. Audi bei iem Au&tand des Avidiu«^
Cassius zeigte es sich, wie nachtheilig diese Nachsicht des
Fürsten dem Staat werden konnte. Denn keine andere Ur*
Sache scheint jene geföhrliebe Empörung yeranlasst zu haben«
Cassius war ein Mann von militärische]: Strenge, die bä ihm
nicht selten in Unmenschlichkeit ausartete. M. Aurel hatte
ihm die orientalischen Heere in der ausdrücklichen Absieht
übergeben, dass er die erschlaffte Disciplin in denselben wieder-
herstelle , und er löste diese Aufgabe in kurzer Zeit mit dem
YoUkommensten . Erfolge. Aber seine Mittel waren freilich
nur zu oft empörende: Abhacken der Hände, Lebendigver*
brennen. Ersäufen in Masse; als einmal einige Hauptleute
eine überlegene feindliche Streifschaar durch einen glänzenden
Angriff vernichtet hatten, liess er sie an's Kreuz schlagen,
weil er ihnen keinen Befehl dazu gegeben habe. Einer so
rohen Kraft konnte Mark AureFs nachsichtige Milde nicht die
nöthige Achtung abzwingen. Er nannte den Kaiser ein phUo-'
sophisches altes Weib, seinen Mitregenten Yerus (wie dieser
selbst an M. Aurel schreibt) einen lüderUchen Narren* Er
gab zu, und er schreibt diess noch, da er seinem Kaiser schon
in offener Empörung gegenüberstand, dass Marcus ean vortr^-
licher Mensch sei; aber statt der Staatsgescbäfte tr^e er
Philosophie, und mittlerweile werdw die unwürdigsten Leute
mit Aemtem und Reichthttm^m überhäuft. Wenn e r nur «rst
Kaiser sei, sollen diese Schwämme ausgepresst, und mög« es
noeh ao viele Köpfe kost^, so solle die aite Zueht wied/ei-
hergestellt werden. Mark Aurel war auch längst vor simem
E)urgei2i gewarnt worden; aber er &&d l{«inen genügeuden
Grund, gegen den beliebtem und verdieuteu Feldberm einzu-
MaEcns Anreiias Antoninus. X03
sebreiten ; und j;Qglelch lebte er des frommen Vertrauens, dass
die Götter ihn nicht yeidassen und die Menschen einen Gassius
ihm nicht voniehen werden; sollte dem letzteren aber die
Herr»^aft bestimmt sda , so kömie e r ihm <ja doch nichts
anhaben, luid sollte Gassius mehr Liebe verdienen, und ein
besserer Fürst Verden, als er und seine Kinder, so möge er
immerhin seine Stelle .einnehmen. IMeses Vertrauen täuschte
ihn audi im vorliegenden Fall nicht: die eigenen Leute des
Usurpators wollten den milden und gütigen Fürsten nicht mit
dem rauhen und harten Vertauschen. Aber unter einer streu-
geren Begierung wäre es wahrscheinlich gar nicht zur Em-
pörung gekommen; und däss diese Strenge nicht Mark AureFs
Sache war, dafür werden wir allerdings neben seinem Naturell
aufih .seine philosophischen Studien verantwortlich 'machen
müssen.
Von welcher Art war nun aber die Philosophie, in deren
Schule sich Mark Aurel zu dem vortrefFlichen Manne, der er
war, gebildet hatte, die ihn aber andererseits doch von der
ungetheilten Freude an seinem Begentenberuf zurückhielt?
Es war diess, wie bemerkt, der Stoicismus. Diese Philosqphie
gieng nun ihrer wesentlichen Bichtung *nach darauf aus , den
Menschen durch Tugend und Erkenntniss unabhängig von allem
Aeusseren, und in seiner Unabhängigkeit glücksdig zu machen.
Ihre allgemeine Weltansdiauung ist ein Paiatheismus , der uns
in allem, was ist und geschieht, die Offenbarung der Gottheit,
die Bethätigung des göttlichen Gesetzes erkennen lässt. Gott
ist als das Urfeuer der Stoff, aus dem alle Dinge geworden
sind, und in den alle mit der Zeit zurückkehren sollen, um
dann wieder auf's neue, in immer wiederholten Weltent-
wieklungen, aus ihm hervorzugehen. Er ist aber auch der
Gdst, der alles schafft und durchdringt, die allgemeine Welt-
venmnft, äie alles ordnet; das Schicksal, welches nach unab-
änderlichen Gesetzen die ganze Beihe der Ursachen und Wir-
kungen hervorbringt ; die Vorsehung, welche alles in der Welt
auf's zweckmässigste einrichtet, und durch alles das Wohl
der Vemunfitwesen fordert. Seinen ewigen Gesetzen zu folgen
104
Marcus Aurelios Antoninus.
ist die Bestimmung des Menschen ; darin allein besteht unsere
Tugend und unsere Glückseligkeit. Was den Menschen dieser
Bestimmung näher bringt, ist ein Gut, was ihn von ihr ent-
fernt, ist ein üebel; alles andere dagegen, wie wichtig es
auch zu sein sch\Bine, das Leben, die Gesundheit, die Ehre,
die Lust, der Besitz, und andererseits Armuth, Schande,
Schmerz, Krankheit, Tod — dieses alles hat auf den Werth
und die Glückseligkeit des Menschen keinen Einfluss , es ist
etwas gleichgültiges: nur die Tugend ist ein Gut, nur die
Schlechtigkeit ist ein Uebel. Die Tugend besteht aber ihrem
Wesen nach in der sittlichen Gesinnung, und diese Gesinnung
ist entweder da, oder sie ist nicht da, ein diittes giebt es
nicht Ein getheilter Besitz der Tugend ist, wie die Stoiker
glauben, unmöglich: man besitzt sie nur ganz oder gar nicht.
Alle Menschen zerfallen ihnen daher in die zwei Klassen der
Tugendhaften oder Weisen, und der Schlechten oder Thoren,
und so wenig in den Weisen etwas von, Thorheit übrig ist,
ebensowenig ist in den Thoren etwas von Weisheit; die Weisen
sind durchaus vollkommen und glückselig, sie sind allein frei,
sie allein die geborenen Herrscher, sie stehen an Glückseligkeit
selbst hinter der Gottheit nicht zurück, die Thoren sind durch-
aus schlecht, elend, unfrei, oder wie der stoische Kraftausdruck
lautet : alle Thoren sind venückt. Dagegen haben alle an-
deren Unterschiede unter den Menschen, die üntei'schiede des
Standes, der Nationalität, des Geschlechtes, jenem Einen grossen
Grundgegensatz gegenüber nichts zu bedeuten: alle Menschen
sind gleicher Natur und gleicher Abstammung, denn alle sind
Vemunftwesen und alle haben die Gottheit zum Vater, dei-en
Ausfluss der menschliche Geist ist; sie alle haben die gleiche
Bestimmung und stehen unter dem gleichen Gesetze; die
ganze Menschheit ist Ein Volk , die ganze Welt ist Ein Staat,
dessen Beherrscher die Gottheit, dessen. Verfassung das ewige
Weltgesetz ist. Je unb edingter der Menschsich niurch dieses
Gesetz führen lässt, je ausschliesslicher er in der Tugend sein
Glück sucht, um so unabhängiger von allem Aeussem, um so
befriedigter in sich selbst ist er, um so bereitwilliger wird er
.•\
Marcus Aureliüs Antoninus. 105
aber auch die Gemeinschait mit anderen pflegen, und dem
Ganzen gegenüber, als dessen Theil er sich fühlt, in allen
Verhältnissen seine Pflicht thun.
Diess ungefähr sind die leitenden Gedanken der stoischen
Philosophie, und man wird zugeben müssen, es ist eine Philo-
sophie voll männlichen Ernstes , die an Strenge und Reinheit
der Grundsätze, an Unabhängigkeit der Gesinnung nichts zu
wünschen übrig lässt; eine Philosophie^ welche von dem Men-
schen verlangt, dass er in allem, was ihm widerfährt, die
ewigen Gesetze des Weltlaufs verehre, in allem, was er thut,
sich diesen Gesetzen als williges Werkzeug hingebe. Aber
man wird auch beifügen müssen : es ist die Philosophie einer
Zdt, die für eine befriedigende öffentliche Thätigkeit keine
Aussicht darbot, in der ernsteren und edleren Geistern nichts
übrig zu bleiben schien, als aus dem allgemeinen Druck und
Verfall in ihr Inneres zu flüchten, für die eigene Seele zu
sorgen, und im übrigen das, was man nicht ändern konnte, in
schweigender Ergebung hinzunehmen.
Die gleichen Ansichten sind es nun, denen auch Mark
Aurel huldigt. Er hat uns ein Bild seiner Denkweise in den
Au&eichnungen hinterlassen , welche giösserentheils seinen
letzten Lebensjahren angehörig, uns unter dem Titel „An sich
selbst" überliefert sind. Jede Zeile dieser Selbstgesprädie ist
ein Denkmal seines Stoicismus, und die praktischen Grund-
lehren besonders, von der Unabhängigkeit des Weisen, von
der Zurückziehung in sich selbst, von der Ergebung in den
Weltlauf, von unsem Verpflichtungen gegen andere und gegen
die Menschheit — diese Grundsätze vor allem sind es, auf
die wir in denselben bei jedem Schritt stossen. Doch lässt
sich nicht verkennen, dass sich Mark Aurel's Stoicismus theils
weit ausschliesslicher auf die praktischen Fragen beschränkt,
theils in seiner Moral selbst einen weicheren, milderen, reli-
giöseren Charakter trägt, als der ursprüngliche eines Zeno
und Chrysippus; wie denn die stoische Philosophie schon seit
längerer Zeit , bei einem Seneca , einem Musonius , und ganz
besonders bei Epiktet, diese Wendung genommen hatte. Die
106 Marcus Aurelios Antoninos
Nichtigkeit aller irdischen Dmge, die Uebel des Lebens, die
Hinfidligkeit , die HülfsbedürfÜgkeit , die sittliche Schwäche
des Menschen lasten viel zu schwer auf ihm, als dass er sich
zur freien theoretischen Betrachtung der Welt erheben könnte.
Die Philosophie soll dem gedrückten Gemüthe Beruhigung,
dem kranken Willen Heilung bringen; der Philosoph ist du
Arzt für die Seele, ein Priester und Diener der Gottheit unter
den Menschen. Als solchen erweist er sich aber vor allem
durch die unbeschränkteste, hingehendste, lilckhaltloseste
Menschenliebe. Alle Menschen, lehrt unser kaiserUcher Philo-
soph , sind sich verwandt , die ganze Menschheit ist Ein Leib,
und wer sich auch nur von Einem seiner Mitmenschen los-
sagt, der scheidet sich wie ein abgehauenes Glied von dem
Stamme der Menschheit selbst ab. Lasset uns Gutes thun,
sagt er, nicht um des Anstandes und des Buhmes willen»
sondern weil uns das Wohlthun als solches Freude macht,
weil sich selbst wohlthut, wer andern eine Wohlthat erzeigt.
Auch die Strauchelnden will er lieben, auch den Undankbaren
und feindselig Gesinnten verzeihen; er erinnert uns, dass die
Menschen doch nur desshalb fehlen, weil sie ihr wahres Bestes^
nicht kennen, dass wir selbst in unserem Linern, an dem es
allein liegt,, durch fremdes Unrecht nicht Schaden leiden, das&
wir auch nicht fehlerfrei seien, und andere gleichfalls nehmen
müssen, wie sie nun einmal sind ; statt den Trotz des Gegners,
mit Trotz zu erwiedem, will er ihn durch Sanftmuth über-
winden, durch liebreiche Belehrung umstimmen. Und wir
wissen ja auch, was der Philosoph fordert, hat der Kaiser
geübt; das Leben und die Lehre des Mannes, dessen Bild
wir betrachten, stimmen in jedem Zuge auf's schönste zu-
sammen.
Wollen wir aber dieses Bild in seine vollständige geschieht--
liehe Beleuchtung rücken, so müssen wir uns erinnern, das&
Mark Aurel nicht blos römischer Kaiser und stoischer Philo-
soph, sondern dass er auch ein Sohn der christlichen Zeit
war. Gerade an den Punkten, in denen er über den alt-
römischen Geist und über den ursprünglichen Stoidsmus hin-
Marcus AureUns AntoninoB. 107
»
am^ht, tritt er mit dem Ghristenthttm in eine merkwürdige
Besdehmig. Jene imiige Frömmigkeit, jene selbstlose Ei^ebung
in den Willen der Gottheit, die ihn ansz^hnet, jenes tiefe
Gefühl fbr die Eitelkeit aller weltlichen Dinge, für die Schwäche
und Sündhaftigkeit des Menschen , jene Sorge um sein Seelen-
heO, jene Reinheit des Wandels, jene Treue im kleinen, wie
im grossen, jene grossartige Erhebung über das Aeussere^
jene Menschenliebe ohne Grenzen, die auch der Unwürdigen
und der Beleidiger nicht vergisst — sind diess nicht eben die
Züge, welche in der Lehre und in dem Verhalten der ältesten
Christen vor allen andern hervorl^ichten ? Sidlte man nicht
meinen, wenn er mit dem Christenthum bekannt wurde, hätte
er sich von demselben im innersten angezogen finden müssen?
Ja könnte sich nicht am Ende die Vermuthung empfehlen^
dass Mark Aurel's Stoidsmus seine eigenthümliche Färbung
christlichen Einflüssen mit zu verdanken habe? Und es giebt
wirklich eine Ueberlieferung, welche den frommen Kaiser mit
dem Christenthum in eine freundliche Berührung kommen lässt.
Wie der römische Stoiker Seneca von der christlichen Sage
mit dem Apostel Paulus in Verbindung gesetzt, und zum
Beweise dieser Verbindung ein angeblicher Briefwechsel beider
vorgezeigt wurde, so begegnet uns ähnliches bei Mark AureL
In dem Markomannenkriege — so erzählen christliche Schrift-
steller in der nächsten Zeit nach dem Tode, ja vielleicht noch
zu Lebzeiten des Kaisers — wurde Mark Aurel in einer
wasserlosen Gegend von einer überlegenen feindlichen Macht
abgeschnitten, so dass er in der dringendsten Gefahr war,
mit seinem ganzen Heere zu verdursten. Da warfen sich die
duristUcheh Soldaten im Heere — angeblich eine ganze Legion,
welche desshalb den Beinamen der blitzeschleudemden erhalten
haben soll — auf die Kniee, und ihr Flehen rettete die Annee :
ein plötzlich ausbrechendes Gewitter versorgte nicht allein
die Römer mit Wasser, sondern es trieb auch (wie der spätere
Bericht lautet) die Feinde durch Hagel und Feuer in die
Flucht Schon Tertullian beruft sich für diese Erzählung auf
das eigene Ausschreiben des Kaisers, in welchem desshalb die
108 Marcus Aurelius Antonintts.
Anklagen gegen die Christen mit schwerer Strafe bedroht
seien; und wir selbst besitzen noch einen angeblichen Erlass
M. Aurel's, worin er den Vorfall mit allen seinen wunderbaren
Nebenumständen erzählt, imd aus Anlassi desselben verfugt:
damit die Christen die wimderkräffcige Waflfe ihres Gebets
nicht auch einmal gegen ihn wenden, solle ihnen fortan ge-
stattet sein, ihres Glaubens zu leben, niemand solle um
seines Christenthums willen, wenn ihm sonst kein Verbrechen
zur Last falle, bestraft, sondern es sollen vielmehr die An-
kläger in solchen Fällen lebendig verbrannt werden. Indessen
ist nicht blos dieses unglaubliche Rescript, wie diess heutzu-
tage keines Beweises mehr bedarf, unterschoben, sondern auch
mit seiner angeblichen Veranlassung verhält es sich anders,
als die christlichen Schriftsteller die Sache darstellen. Das näm-
lich ist zwar richtig, dass Mark Aurel im zweiten Markomannen-
kriege, also um's Jahr 174, mit seinem Heere in die angege-
bene gefährliche Lage geiieth, und durch ein Gewitter gerettet
wurde. Aber dass er dieses Gewitter dem Gebet der christ-
lichen Soldaten zu verdanken habe, dieses glaubte weder der
Kaiser selbst noch seine heidnischen Zeitgenossen. Die letz-
teren leiten das Wunder, das auch sie annahmen, bald von
dem Gebete des Kaisers, bald von den Beschwörungen eines
ägyptischen Zauberers her; Mark Aurel selbst sah darin ohne
Zweifel, seinem religiösen Standpunkt entsprechend, einen
Beweis besonderer göttlicher Fürsorge ; wie weit er aber davon
entfernt war, den Christen hiebei ein Verdienst zuzuschreiben,
diess erhellt mit vollkommener Gewissheit aus der Thatsache,
dass das Wunder der blitzeschleudemden Legion in der Be-
handlung, welche den Christen unter seiner Regierung wider-
fuhr, nicht die geringste Verändeinmg hervorgebracht hat.
Diese Behandlung richtete sich aber so wenig nach den Vor-
schriften seines angeblichen Erlasses, dass vielmehr gerade
unter ihm gegen die Christen mit grösserer Strenge verfahren
wurde, als diess unter einem der früheren Kaiser, seit der
neronischen Christenveifolgung, geschehen war. Aus den ver-
schiedensten Theilen des römischen Reichs hören wir in dieser
Marcus Aurelius Antoniniis. 109
Zeit von schwerer Bedrängniss der Christengemeinden. In
Smyma endete der ehrwürdige Bischof Polykarpus auf dem
Scheiterhaufen, nachdem elf andere vor ihm unter grausamen
Qualen hingerichtet worden waren; und sind auch diese Vor-
gänge nach den neuesten Untersuchungen schon 156 n. Chr.,
also noch in die Regierung des Antoninus Pius zu setzen, so ist
diess doch für uns von keiner Erheblichkeit, da sich zum voraus
annehmen lässt, und aus seinem eigenen Verfahren klar hervor- -
geht, dass Mark Aurel hinsichtlich der Behandlung der Christen
mit seinem Adoptivvater durchaus einverstanden war. In Rom
wurden im J. 165 mehrere Christen, darunter Justin der Mär-
tyrer, einer von den bedeutendsten Kirchenlehrern seiner Zeit,
getödtet. Eine noch härtere Verfolgung brach aber wenige Jahre
nach dem angeblichen Wunder des Markomannenkrieges, im Jahre
177, in GalKen aus; namentlich die Christengemeinden zu Lyon
und Vienne wurden furchtbar heimgesucht, massenweise ein-
gekerkert, viele ihrer angesehensten Mitglieder nach schweren
Folterqualen enthauptet oder den wilden Thieren vorgeworfen.
Dass alles dieses, zum Theil unter den Augen des Kaisers, ohne
sein Vorwissen oder gegen seinen Willen geschehen sei, ist an
und für sich undenkbar; es wird aber auch ausdrücklich von
kaiserlichen Erlassen berichtet, welche über die Christen die
Todesstrafe verhängten, allen denen jedoch, die sich zum Widerruf
verstehen würden, Verzeihung angedeihen Hessen. Ein noch er-
haltenes Edikt Mark Aurel's bedroht die Verbreitung neuer Glau-
bensweisen, welche die Gemüther der Menschen aufzuregen geeig-
net seien, bei Leuten von Stand mit Deportation, bei den übrigen
mit dem Tode. Wir können daher in diesen Christenverfolgungen
nur eine ganz allgemeine und grundsätzliche, von dem Kaiser
selbst ausgegangene oder doch genehmigte Massregel -erblicken.
Wie sollen wir es uns nun aber erklären, dass einer der
besten Menschen und einer der mildesten Herrscher die Chri-
sten mit dieser Härte behandelte ? dass derselbe Fürst, welcher
Empören! und Hochverräthem fast über das Mass der Staats-
klugheit hinaus zu verzeihen wusste, gegen eine Religions-
gesellschaft, deren Grundsätze seinen eigenen so vielfach ver-
"(.T^'?
•?
110
Marcod Aurelius Antoninus.
wandt sind, ein System der Unterdrückung befolgte, das uns
nur höchst ungerecht, ja unmenschlich erscheinen kann?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zunächst
erinnern, dass Mark Aurel eben der Beherrscher des römischen
Staats war. Dieses Staatswesen war aber in allen seinen Be-
ziehungen mit der Staatsreligion so innig verwachsen, dass es
einem Römer gar nicht möglich war, beide von einander zu
trennen. Alle öffentlichen Handlungen von einiger Bedeutung
wurden mit Opfern und Gebeten, mit Beobachtung des Vögel-
flugs und Opferschau eröffpet; von den Staätsgöttern und ihrer
Anrufung erwartete man Sieg im Kriege und Gedeihen im
Frieden ; bei diesen Göttern wurde der Huldigungseid und der
Fahneneid geschworen; zu den Göttern sollten die verstorbe-
nen Beherrscher des Weltreichs sich erheben, und eine Art
religiöser Anrufung wurde auch schon den lebenden erwiesen.
Wie das häusliche, gesellschaftliche und bürgerliche, so war
auch das politische Leben des römischen Volkes an die Ver-
ehrung der Götter geknüpft und von ihr getragen. Nun waren
diese Götter freilich sehr duldsam: eine beträchtliche Anzahl
auswärtiger, namentlich griechischer Gottheiten hatte allmäh-
lich in ihrem Kreis Aufnahme gefunden, und alle Götter der
besiegten Völker wurden in ihrer Bedeutung für diese Nationen
bereitwillig anerkannt, wenn sie auch nicht zu Göttern des
römischen Staats erhoben wurden. Aber diese Duldung war
natürlich an die Bedingung der Gegenseitigkeit geknüpft : eine
Religion, welche gegen die Staatsgötter und ihre Verehrung
feindselig auftrat, konnte der römische Staat wohl etwa da,
wo er sie in einem bestehenden Volk antraf, wie die jüdische,
innerhalb gewisser Grenzen gewähren lassen; wenn sie dagegen
die Staatsreligion in ihrem eigenen Gebiete angriff, wenn sie
die Bekenner derselben dem anerkannten Kultus abwendig
machte, wenn sie auf den Rechtstitel einer nationalen, von
den römischen Eroberern schon vorgefundenen Eigenthümlich-
keit sich nicht stützen konnte, und doch eine ungehemmte
Bewegung für sich in Anspruch nahm, so musste der römische
Staat entweder sein ganzes bisheriges Princip aufgeben, die
Marcus Aurelius .Antoninas. 111
ganze Verbindung, in welcher er mit der Volksreligion stand,
auflösen, oder er musste den fremden Eindringling mit allen
den Mitteln zurückweisen, welche der Besitz der Macht und
die geltenden Gesetze an die Hand gaben. Eben diess war
aber der Fall des Christenthums. Mochten die Christen noch
so ernstlich versichern, dass sie gute Unteiihanen seien, welche
für die Kaiser beten und der Obrigkeit gehorchen: von römi-
schen Staatsmännern liess sich nicht verlangen, dass sie dieser
Versicherung Glauben schenken sollten. In Wahrheit war
das Christenthum, wie diess der weitere Verlauf der Geschichte
ausser Zweifel gestellt hat, mit dem Bestände des damaligen
Staatswesens unverträglich. Es war diess schon desshalb, weil
es den Glauben der Menschen an diesen Staat untergrab,
weil es in dem heidnischen Weltreich nur eine widergöttliche
Macht zu sehen wusste, der man sich unterwerfen müsse, so
lange sie nun eben bestand, von der aber alle lebendigen
Christen sehnsüchtig hofften und wünschten, dass der Tag
nicht ferne sei, an dem Christus, in den Wolken des Himmäls
herabfahrend, ihr ein Ende mit Schrecken bereiten werde.
Denn dass der Staat jemals ein christlicher werden könne,
dieser Gedanke lag den älteren Christen gerade so ferne, wie
ihren heidnischen Gegnern. Ein Christ, sagen sie, könne kein
römischer Kaiser, und ein Kaiser könne kein Christ sein ; und
giengen auch nicht alle so weit, wie diess eine starke Parthei
allerdings that, dass sie den Staat mit aller übrigen Herrlich-
keit der Welt geradehin zum Reich des Teufels rechneten, so
urtheilte doch niemand unter ihnen anders über den heidni-
schen Kultus und über alles, was mit ihm in Verbindung stand.
Von allen solchen Dingen und Handlungen mussten die Christen
sich ferne halten, wenn sie nicht mit den Dämonen in Be-
rührung kommen, nicht die Schuld des Götzendienstes auf sich
laden wollten. Welche Zurückziehung aus dem geselligen,
welche Verwicklungen im häuslichen Leben sich hieraus er-
geben mussten, in einer Zeit, wo die verschiedenen Glaubens-
kreise äusserlich erst sehr wenig getrennt, wo diie gemischten
Ehen z. B. äusserst häufig waren, kann ich hier nur andeuten.
112 Marcus Anrelius Antoninus.
Auch das Verhältniss zum Staat musste durch diese Scheu
vor Befleckung mit heidnischen Gräueln auf's tiefste bertihi't
werden. Wo die Religionspflicht anfieng, da fand der Gehor-
sam gegen die Obrigkeit seine Grenze. Die Christen erhoben
die Hand nicht zu thätlicher WidersetzUchkeit, aber sie setzten
duldend jeder Zumuthung, die ihr Gewissen verletzte, den
entschlossensten, todesmuthigsten , unüberwindlichsten Wider-
stand entgegen. Sie suchten sich dem Kriegsdienste zu ent-
ziehen, nicht blos um kein Menschenblut zu vergiessen und
das Gebot der Feindesliebe nicht zu verletzen, sondern mehr
noch, weil sie den heidnischen Fahneneid mit gutem Gewissen
nicht leisten konnten. Sie vermieden die obrigkeitlichen Aemter,
welche sie mit dem heidnischen Kultus in Berührung zu brin-
gen drohten. Sic entzogen ihre Bechtssachen wo möglich den
öflfentlichen Gerichten, weil es sich, wie schon Paulus sagt,
nicht gezieme, dass Christen bei Heiden ihr Recht suchen.
Sie weigerten sich, für das Wohl der Kaiser zu opfern, bei
ihrem Genius zu schwören, ihren Bildern Verehrung zu er-
weisen. Sie hatten es kein Hehl, dass sie die ganze heidnische
Welt für reif zum Untergang , dass sie den Glauben und den
Götterdienst, der ein Grundstein des römischen Staats war,
für ein Teufelswerk hielten. Kann man sich wundem , wenn
im Volk über eine solche Religionsgesellschaft die sinnlosesten
und gehässigsten Gerüchte im Umlauf waren, und wenn die
Staatsmänner jedenfalls nur eine Rotte von staatsgefährlichen
Neuerem in ihr zu sehen wussten? Es sind daher auch, ab-
gesehen von Nero, dessen Christenverfolgung keine eigentlich
politischen Motive hatte, nicht die schlechten, sondern die
besten und kräftigsten Kaiser, von welchen die Massregeln
gegen das Christenthum ausgiengen. Die schlafferen und
gegen die Staatszwecke gleichgültigeren Naturen konnten es
dulden; wer den altrömischen Staat woDte, der musste es
unterdrücken.
War aber der Kaiser in Mark Aurel ein natürlicher
Gegner der Christen, so war auch der Philosoph in ihm nicht
geeignet, ihm eine bessere Meinung von ihnen beizubringen.
^^; -•
Marcus Aurelias Antoninus. 113
Die stoische Theologie lag allerdings von dem römischen wie
Yon dem griechischen Volksglauben weit a;b. Statt der men-
schenähnlichen, auch mit allen Schwächen und Leidenschaften
der Menschen behafteten Götter hatte sie den Einen Welt-
geist, statt einer Welt, in welche die Götter mit Freiheit und
WiUkühr von oben her eingreifen , eine festgeschlossene , un-
verbrüchliche , bis auf's kleinste hinaus von aller Ewigkeit
her feststehende Naturordnung. Daneben weigerte sie sich
nun zwar nicht, auch in den verschiedenen Theilen der Welt
göttliche Kräfte anzuerkennen. (Vergl. S. 24 f.) Aber diese
Ausflüsse und Theile der Einen Naturkraft waren doch etwas
ganz anderes, als die persönlichen Götter des Volkes, das
grosse Gemeinwesen, welches nach stoischer Anschauung
die Welt bildet, etwas anderes, als der heitere und bunte
Götterstaat der Dichter. Und die namhaftesten Vertreter
der stoischen Lehre verbargen es auch gar nicht, dass sie
in den Mythen des Volksglaubens nur kindische und un-
würdige Fabeln zu sehen wissen. Aber nichtsdestoweniger
wollten sie diese Religion selbst nicht antasten. Durch die
zügelloseste Anwendung der allegorischen Deutung brachten
sie es zustande, auch den ungereimtesten und verwerflichsten
Mythen einen unverfänglichen Sinn abzugewinnen, die Lehr-
sätze ihrer Physik, die Vorschriften ihrer Moral darin wieder-
zufinden. In der gleichen Weise behandelten sie die prak-
tische Seite der Religion, den Kultus. Durch allerlei künst-
liche Theorien wussten sie sich die Vorstellungen und Gebräuche
der Volksreligion zurechtzulegen, und das, was sie ^igenthch
nicht gutheissen konnten, mit ihrem System in eine scheinbare
TJebereinstimmung zu bringen. So wurden die Stoiker, trotz
ihres inneren Gegensatzes zur Volksreligion, doch nach aussen
die eifrigen Vertheidiger derselben, die ersten Vertreter einer
spekulativen Orthodoxie. Auch Mark Aurel stand in dieser
Beziehung nicht über seiner Schule, ja er gehörte nicht einmal
zu der aui^eklärteren Parthei in derselben. Seine tiefe und
innige Frömmigkeit verschmäht es nicht, mit den reinen und
würdigen Vorstellungen von der Gottheit^ auf die sie sich
Zeller, Vorträge und AbliaadL g
114 Marcos Aurelius Antoninus.
gründet, mit dem geistigen und sittlichen Gottesdienst, den
sie ihr widmet, eine lebhajfte Theilnahme an dem volksthOm-
liehen Kultus zu verbinden. Dem gröberen Aberglauben seiner
Zeit bleibt er allerdings fremd, den Glauben an Zauberei, Dämonen-
beschwörung u. 8. w. theilt er nicht ; aber die Götter, von deren Für-
sorge er überzeugt ist, fliessen ihm doch mit den römischen und
griechischen Yolksgöttem ununterscheidbar zusammen, und unter
den Beweisen dieser Fürsorge nennt er unter anderem auch
weissagende Träume, durch die ihm Mittel gegen Krankheiten
geoflfenbart worden seien. Um so mehr mochte er sich ver-
pflichtet fühlen, als Kaiser alles zu thim, was dem Staate die
Gunst der Götter zuwenden konnte, imd so wissen wir auch,
dass er allen Pflichten des öffentlichen Gottesdienstes mit
grossem Eifer oblag. Vor dem ersten Markomannenkiieg liess
er von allen Seiten her Priester kommen, fügte zu den ein-
heimischen fremde Gebräuche , verordnete siebentägige Buss-
gebete, und reiste nicht eher ab, als bis diese Religionsübungen
vollbracht waren. In Rom lief damals das Wort um, wenn
er als Sieger zurückkehre, werde es den weissen Rindern
schlecht gehen. Wenn ein Fürst von dieser Denkweise gegen
die erklärten Feinde der Staatsgötter mit Strenge einschritt,
wenn er ihnen gegenüber von dem Grundsatz seiner Schule,
der Weise dürfe keine Nachsicht üben, nicht ^bgieng, so kann
uns diess nicht Wunder nehmen.
Diese Stellung zimi Christenthum würde selbst dann kaum
eine andere geworden sein, wenn er das letztere genau genug
gekannt hätte, um die vielfache Verwandtschaft der christlichen
Grundsätze mit den seinigen zu bemerken. Denn da er selbst
seine Ansichten nur aus der Schule der Philosophie geschöpft
hatte, und da auch wii'klich an christliche Einflüsse auf ihn
und seine stoischen Vorgänger nicht im Ernste gedacht werden
kann, so würde er sich ohne Zweifel jene Verwandtschaft in
derselben Weise erklärt haben, wie diess von anderen Christen-
gegnem geschehen ist : aus einem Plagiat, welches die Christen
an den Philosophen begangen, bei dem sie aber zugleich die
Lehren der letzteren verdorben und entstellt haben. Und
V ^'^
4
Marcus Aurelios Antoninus. 115
me ihn die christKche Sittenlehre schwerlich gewonnen hätte,
so würde ihn die christliche Dogmatik ganz sicher auf's
änsserste abgestossen haben. Mit den ungereimtesten unter
den heidnischen Mythen konnte sich ein Philosoph jener Zeit
vertragen, weil er sie eben als Mythen betrachtete, die man
mit vollkommener Freiheit umzudeuten sich erlaubte; aber
bei den chiistlichen Glaubenslehren gieng diess nicht an.
Hier wurde ihm zugemuthet, alles Ernstes zu glauben, dass
der Sohn Gottes vom Himmel herabgekommen sei, um unter
dem verachteten Volke der Juden als Mensch zu leben; es
wurde ihm von der übernatürlichen Geburt, von den Wundern,,
von dem Opfertod, von der Auferstehung, von der Hinmiel-
fahrt dieses Gottessohnes erzählt, es wurde von ihm verlangt,
dass er in dem Gekreuzigten den König eines himmlischen
Reiches verehre, dass er seiner nahen sichtbaren Wiederkunft
hoffend entgegensehe , dass er vom Glauben^ an ihn alles Heil
erwarte. Was konnte ein heidnischer Philosoph jener Zeit in
einer solchen Lehre anderes sehen, als was schon Plinius darin
sah, einen „masslosen und verderblichen Aberglauben"? und
wie anders konnte er über den Heldenmuth, mit welchem die
Christen für ihren Glauben in den Tod giengen, urtheilen,
als wie Mark Aurel wirklich in einer seiner Aufzeichnungen
urtheilt: es sei etwas grosses, dem Tode mit Ruhe entgegen-
zugehen, aber es müsse diess aus vernünftigen Gründen und
ohne Gepränge geschehen , „und nicht aus blossem Trotz , wie
bei den Christen"?
Es ist Mark Aurel so wenig wie seinen Nachfolgern und
Vorgängern gelungen, diesen Trotz zu brechen. Das Wort,
welches er selbst einmal anfiihii; *) : „seinen Nachfolger vermag
niemand zu tödten," gilt nicht blos von den einzelnen Herr-
schern, es gilt auch von den herrschenden Partheien und
Richtungen. Die Mächte, denen die Zukunft gehört, kann
die Gegenwart nicht vernichten. Die Zukunft der Welt ge-
hörte aber damals dem Christenthum. Diese Religion hat
*) Bei Capitolin, im Leben des Avidius Cassius, Cap. 2.
8»
^_._«. j .
116 Marcus Aurelias AnFoninns.
den römischen Staat und die römischen Götter siegreich über-
dauert. Es war ein aussichtsloses Beginnen, wenn man hoffte,
sie im Blut ihrer Bekenner zu ersticken, und es macht einen
tragischen Eindruck, wenn wir einen so reinen Charakter, wie
Antoninus, durch dieses Beginnen seinem besseren Selbst un-
treu werden sehen. Aber mag er auch hierin seiner Zeit und
seiner Stellung einen unfit-eiwilligen Tribut bezahlt haben : von
der gerechten Würdigung des seltenen Mannes werden uns
die Schwächen und Irrthümer nicht abhalten , die mit seiner,
wie mit jeder menschlichen Grösse verknüpft sind.
6.
HiTolfs Vertreibung aus Halle ; der Kampf des
Pietismus mit der Phüosophie.
Die neuere Philosophie hat zwar keine Märtyrer von der-
selben Ai-t aufzuweisen, wie sie in früheren Zeiten nicht selten
beim Zusammenstoss der fortschreitenden Wissenschaft mit
der herrschenden Glaubensweise gefallen sind. Der Giftbecher
des Sokrates, die Scheiterhaufen, auf denen noch um den
Anfang des siebzehnten Jahrhunderts Bruno und Vanini endeten,
die Gräuel der Bartholomäusnacht, zu deren zahlreichen Opfern
Petrus Ramus gehört, — diese blutigen, von der Kirchen-
und Staatsgewalt selbst ausgehenden Verfolgungen Anders-
denkender sind längst zur Unmöglichkeit geworden. Aber an
Märtyrern ihrer philosophischen Ueberzeugung hat es bis auf
unsere Tage nie ganz gefehlt; und wenn dieses Martyrium in
der Regel nur jenes stille imd unscheinbare war, das im Er-
dulden behan'licher Zuillcksetzung, in dem Mangel an einem
angemessenen Wirkungskreis, vielleicht auch in empfindlichen
äusseren Entbehrungen besteht, so kamen doch immer von
Zeit zu Zeit auch Fälle eines obrigkeitlichen Einschreitens
g^en Lehrer der Philosophie vor, die trotz ihres verhältniss-
mässig milderen Charakters in einer verfeinerten und auf die
Denkfreiheit eifersüchtigen Zeit kein geringeres Aufsehen und
keine geringere Entrüstung hervorriefen, als in früheren Jahr-
hunderten die rohen Gewaltthaten des Glaubenszwangs und
der Partheileidenschaft.
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r-^wrr:
118 Wolff's Vertreibung aus Halle.
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In der Geschichte der deutschen Philosophie sind es zwei j«
Vorfälle, welche in dieser Beziehung vor andern hervortreten: ^jj
Wolff's Vertreibung aus Halle und Fichte's Entlassung von .^.
seiner Lehrstelle in Jena. Der wichtigere von beiden ist aber vyjji
der erste. Fichte's Entlassung ist zwar immerhin ein denk- vj
würdiger Akt in jenem grossen Kampfe, der noch heute nicht ^j»
ausgekämpft ist: dem Kampfe zwischen der Auktorität und .^j
der Geistesfreiheit, zwischen den Ansprüchen eines Glaubens, ^j^
der an seinen dogmatischen Voraussetzungen nicht rüttein .«,
lässt, und den Anforderungen einer Wissenschaft, die nichts ,^
für wahr annehmen will, was nicht bewiesen ist, und nichts
für denkbar anerkennt, was von Widersprüchen nicht frei ist.
Aber in Wolff's Leben stellt sich die Natur jenes Kampfes in
ungleich derberen Zügen dar, und was ihm widerfuhr, hat
für die Geschichte der deutschen Philosophie und Cultur eine
viel grössere Bedeutung gehabt. Fichte's Entlassung trägt
doch immer mehr den Charakter des zufälligen un,d leicht zu
vermeidenden ; man kann es sich unschwer denken, dass Fichte
in jener Zeit einer vorgeschrittenen Aufklärung ohne ernst-
liche Anfechtung geblieben wäre, oder dass die Sache, mit
etwas weniger Schroffheit von seiner Seite, eine minder ge-
waltsame Lösung gefunden hätte. Wolff's Vertreibung aus
Halle dagegen ist eine von den Begebenheiten, welche in dem
engen Rahmen eines persönlichen Erlebnisses den Charakter
eines ganzen Zeitalters, seine Gegensätze, Kämpfe und Fort-
schritte, in mustergültiger Weise darstellen, welche bei aller
Zufälligkeit der unmittelbaren Anlässe doch nur das zur Er-
scheinung bringen, was unter den gegebenen Verhältnissen
früher oder später, in der einen oder der anderen Weise, zum
Austrag kommen musste. Diese Seite der Sache ist es auch
hauptsächlich, welche wir hier in's A)ige fassen. Die Einzeln-
heiten derselben sind dui*ch Wuttke's, Erdmann's, Bieder-
mannes, Jul. Schmidt's und anderer Arbeiten hinlänglich
bekannt; doch wird sich auch hiebei zu der einen oder der
anderen kleinen Ergänzung Gelegenheit finden.
I
Wolff's Vertreibung aus Halle.
119
Der Zustand Deutschlands war bekanntlich am Ende des
dreissigjährigen Krieges so traurig, wie nur selten der eines
grossen, an geistiger und sittlicher Kraft noch lange nicht
erschöpften, zu bedeutenden geschichtlichen Leistungen beru-
fenen Volkes gewesen ist. Nicht allein sein Wohlstand, seine
Macht, seine politische Einheit war für lange Jahre zerstört,
ganze Länder verwüstet, ihre Bevölkerung auf einen kleinen
Bruchtheil zusammengeschmolzen: auch eine sittliche Verwil-
derung, eine ßohheit und Unwissenheit, und daneben, trotz
der allgemeinen Verarmung, eine üeppigkeit und Genussucht
hatte überhand genommen, von der wir uns heutzutage, nach-
dem das siebzehnte Jahi-hundert allmählich in die Würde der
„guten alten Zeit" vorgerückt ist, schwer einen Begriff machen.
Diesen Uebeln entgegenzuarbeiten, wäre nach damaligen Ver-
hältnissen zunächst und zumeist die Sache der Kirche gewesen.
Aber weder die katholische noch die protestantische Kirche
war dazu in der inneren Verfassung. In jener wurden alle
Kräfte und Interessen, unter der Leitung der Jesuiten,
von dem erbitterten und entsittlichenden Streit gegen die
Ketzer verschlungen; aber auch in dieser war der mächtige
Strom der reformatorischen Bewegung schon längst in das
schmale Bett einer dogmatischen Orthodoxie eingedämmt wor-
den, um in diesem, so schien es, am Ende vollständig zu ver-
sumpfen. Eind" unfruchtbare und leidenschaftliche Streittheo-
logie hatte alles freiere und gründliche Wissen aus der Lite-
ratur und den Universitäten, alle lebendige Erbauung aus
den Kirchen, allen nützlichen üntemcht aus den Schulen ver-
drängt; die höheren wie die niederen Lehranstalten lagen in
schreckenerregender Weise darnieder, für die geistigen Be-
dtii-fnisse des Volkes hatten seine Führer kein Verständiiiss.
Es ist einer der glänzendsten Beweise von der inneren Kraft
des deutschen Volkes und von der Tüchtigkeit, welche es sich
auch unter den ungünstigsten Umständen in seinem Kerne
bewahrt hatte, dass es sich aus diesem Zustand in verhältniss-
mässig kurzer Zeit so weit herauszuarbeiten vermochte, wie
diess in geistiger und sittlicher Beziehung noch während der
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118 Wolff'B Tertrdbnng aus HaUe.
In der Geschichte der deutschen Philosophie sind es zwei
VorföJle, welche io dieser Beziehung vor andern hervortreten;
Wolffs Vertreibung aus Halle und Fichte's Entlassung Yon
seiner Lehrstelle in Jena. Der wichtigere von beiden ist aber
der erste. Fichte's Entlassung ist zwar immerhin ein denk-
würdiger Akt in jenem grossen Kampfe, der noch heute nicht
ausgekämpft ist: dem Kampfe zwischen der Auktorität und
der Geistesfreiheit, zwischen den Ansprüchen eines Glaubens,
der an seinen di^matischen Voraussetzungen nicht liltteln
lässt, und den Anforderungen einer Wissenschaft, die njchts
für wahr annehmen will, was nicht bewiesen ist, und nichts
für denkbar anerkennt, was von Widersprüchen nicht frei ist.
Aber in Wolff's Leben stellt sich die Natur jenes Kampfes in
ungleich derberen ZUgen dar, und was ihm widerfuhr, bat
für die Geschichte der deutschen Philosophie und Cultur eine
viel grössere Bedeutvmg gehabt Fichte's Entlassung trägt
doch immer mehr den Charakter des zu&Uigen und leicht zu
vermeidenden; man kann es sich unschwer denken, daes Fichte
in jener Zeit einer vorgeschrittenen Aufklärung ohne ernst-
liche Anfechtung geblieben wäre, oder dass die Sache, mit
etwas weniger Schroffheit von seiner Seite, eine minder g«^;
waltsame Lösung gefunden hätte. Wolff's Vertreibung
HaUe dagegen ist eine von den Begebenheiten, welche
engen Kahmes eines persönlichen Erlebnisses dfUi Q]
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(le Theo-
iLüraer in
120 WoMTs Vertreibung aus Halle.
nächsten Generationen nach dem angegebenen Zeitpunkt ge-
schehen ist.
Manche wackere Männer widmeten sich dieser reforma-
torischen Aufgabe in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahr-
hunderts, vor ihnen allen ragen jedoch Jakob Philipp
Spener und Gottfried Wilhelm Leibniz hervor. Die
Wege und die Ziele dieser zwei Männer sind allerdings ver-
schieden, und Spener's geistige Begabung lässt sich dem glän-
zenden Talente seines genialen Zeitgenossen entfernt nicht
gleichstellen; aber darin treffen sie zusammen, dass jeder
von ihnen in seiner Weise und in seiner Sphäre mit dem
bedeutendsten Erfolge auf eine Aenderung und Besserung des
bestehenden ausgieng; und auch in dem Geist ihres Wirkens
lässt sich bei schärferer Betrachtung eine viel weiter gehende
Verwandtschaft entdecken, als man auf den ersten Blick ver-
muthen sollte, sofern doch jeder von beiden an der Befreiung
des menschlichen Geistes arbeitete, statt der Abhängigkeit von
fremder Auktorität eigene TJeberzeugung , statt eines ererbten
geistigen Besitzes einen selbsterworbenen, statt des blos über-
lieferten ein selbsterlebtes verlangte, der eine auf dem Gebiete
des religiösen Lebens, der andere auf dem des wissenschaft-
lichen Denkens.
Spener's ganzes Leben war dem Dienst der Kirche, und
näher dem praktischen Kirchendienst, gewidfhet. Im Jahr
1635 zu Rappoltsweiler im Elsass geboren, wurde er 1663
Prediger in Strassburg, gieng von da 1666 als Senior des
Ministeriums nach Frankfurt a. M., 1668 als Oberhofprediger
nach Dresden, und 1691 als Prediger an der Nicolaikirche
nach Berlin, wo er 1705, bald nach Vollendung seines siebzig-
sten Lebensjahrs, starb. In dieser ganzen langen Amtsthätig-
keit war er nun unablässig bemüht, durch Wort und durch
Beispiel, durch sein amtliches Wirken, seine ausgebreiteten
persönlichen Verbindungen, seine Schüler und seine Schriften
eine Verbesserung des kirchlichen Lebens herbeizuführen,
dessen Schäden er tief fühlte, eine Annäherung an jenen Zu-
stand der Vollkommenheit zu bewirken, welchen die Apokalypse,
-« 1
Wolff's Vertreibung aus Halle. 121
wie er glaubt, auch der irdischen Kirche in Aussicht stellt.
Als das Hauptgebrechen seiner Zeit erschien ihm aber die
Unfruchtbarkeit eines blossen Buchstabenglaubens, einer todten
Orthodoxie; als ihr Hauptbedtti'foiss die Wiederbelebung der
protestantischen Kirche durch eine thatkräftige Frömmigkeit.
An der Wahrheit der lutherischen Kirchenlehre zweifelte er
nicht im geringsten; aber der eigentliche Sitz der Religion
lag ihm nicht im Verstände, sondern im Willen: für einen
wirklichen Glauben liess er nur den gelten, welcher den Trieb
zum frommen Leben, die Liebe und Gottseligkeit unmittelbar
in sich schliesse. Das Christenthum will seiner Ueberzeugung
nach nicht blos gelehrt und geglaubt, sondern persönlich er-
fahren und erlebt sein, und es ist überhaupt nur da, wo es diess
ist; — woraus dann zwar nicht Spener selbst, aber ein grosser
Theil seiner Anhänger, die methodistische Folgerung ableitete,
dass jeder wahre Christ irgend einmal in seinem Leben einen
förmlichen Busskampf durchgemacht, die verschiedenen Stadien
des Bekehrungsprocesses in der vorschriftsmässigen Ordnung
mit ßewusstsein zurückgelegt haben müsse. Demgemäss legte
nun Spener dem Dogmenglauben und der dogmatischen Ortho-
doxie nicht denselben Werth bei, wie die herrschende Theo-
logie: er war der Meinung, dass dogmatische Irrthümer in
Nebenpunkten nicht sofort von der Seligkeit und der wahren
Kirche ausschliessen ; und da er gleichzeitig weit bestimmter,
als die Orthodoxen, zwischen wesentlichem und unwesentlichem
in der Lehre unterschied, so beurtheilte er auch abweichende
Ansichten mit einer in jener Zeit ungewöhnlichen Milde: er
wollte z. B. in die Verdammung eines J. Böhme und anderer
Mystiker nicht einstimmen, und den ßeformirten den wahren
Glauben so wenig absprechen, dass vielmehr er und seine
Schüler einer Union mit denselben entschieden geneigt waren.
Aus demselben Gesichtspunkt verlangte er eine andere Be-
handlung der Theologie und des Religionsunterrichts, als sie
bisher üblich war. Die Theologie sollte, wie er meinte, alle
unnütze Gelehrsamkeit, alle philosophischen Subtilitäten , alle
überflüssige Polemik bei Seite setzen, um statt dessen das
122 Wolff's Vertreibung aus Halle.
Bibelstudium und das praktische Ghristenthum desto ausdrück-
licher zu treiben ; ebenso sollte die Predigt und der Religions-
unterricht vor allem auf die Schriftkenntniss und Erbauung
ausgehen, und es sollte zu dem Ende insbesondere auch der
Katechisation grössere Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Spener selbst und seine Schüler suchten diese Vorschläge so-
fort auch in's Leben einzuführen, und namentlich der Theologie
durch jene „coUegia hihlica^' aufzuhelfen, welche die ersten
Reibungep zwischen ihnen und den Schultheologen herbei-
führten. Je weniger aber Spener die blosse Rechtgläubigkeit
ohne lebendige Frömmigkeit genügte, um so weniger konnte
er auch dem theologischen Lehrstand die Stellung einräumen,
welche derselbe in der lutherischen Kirche jener Zeit für sich
in Anspruch nahm. Ein wahrer Theolog ist seiner Ansicht
nach nur der , in welchem sein Glaube zu einer lebendigen,
den ganzen Menschen umbildenden Kraft geworden ist, nur
der Wiedergeborene; nur ein solcher kann daher auch das
Wort Gottes mit Segen verkündigen und auslegen. Durch
diesen Einen Grundsatz war das ganze bisherige Verhältniss
des Lehrstandes zu den Laien principiell umgeändert. Wenn
die dogmatische Rechtgläubigkeit weder das einzige noch das^
wichtigste ist, worauf es in der Religion ankommt, wenn viel-
mehr die Wahrheit und Heilskräftigkeit der Lehre selbst erst
von dem persönlichen Glaubensleben, der pei-sönlichen Heils-
erfahrung abhängt, so werden es auch nicht mehr die Theo-
logen als solche, sondern alle Wiedergeborenen ohne unter-
schied sein, denen in Sachen des Glaubens und des kirch-
lichen Lebens die letzte Entscheidung zusteht. Der Herrschaft
des Lehrstandes, welche seit der Refonnation immer mehr in
der lutherischen Kirche zur Geltung gekommen war, der
Lehre von der „Amtsgnade", welche schon damals im Schwange
gieng, hält Spener die gleichen Gnmdsätze über das geistliche
Priesterthum aller Christen entgegen, die Luther einst gegen
die Herrschaft des katholischen Priesterstandes gekehrt hatte.
Er widei-spricht Einrichtungen, welche die Glaubensfreiheit
und die religiöse Selbstbestimmung der Einzelnen beeinträch-
Wolff's Vertreibung aus Halle. 123
tigen; er will eine Vei-pflichtung auf Glaubensbekenntnisse
nui' mit der Einschränkung zugeben: so weit diese mit der
heiligen Schrift übereinstimmen; er tadelt das Institut der
Privatbeichte, und bestreitet den Satz, dass der Geistliche die
Sündenvergebung nicht blos ankündige, sondern auch ertheile;
er wünscht der lutherischen Kirche die presbyteriale . Ver-
fassung, welche die Gemeinde an der Kirchenleitung mit be-
theiligt. Während die herrschende Theologie auf das äussere
Kirchenwesen und die Theilnahme an demselben allen Werth
legte, wollte Spener und seine Schule die äussere Kirche und
das geistliche Amt zwar auch nicht verachten; aber als das
wesentlichere erschien ihnen die pieias, die persönliche Fröm-
migkeit der Einzelnen, deren starke Betonung ihnen von den
Gegnern den Partheinamen der Piietisten zuzog. Die kirch-
lichen Gottesdienste sollten durch freie Vereine der Gleich-
gesinnten, die einander als wahre Christen bekannt seien,
durch jene coUegia pietatis oder Erbauungsstunden ergänzt
werden, in denen die persönlichen religiösen Erfahrungen einen
Hauptgegenstand der Besprechung bildeten, und in denen auch
Laien das Wort erhalten konnten, die Religion sollte möglichst
tief in alle Beziehungen des häusUchen und Privatlebens ein-
geführt werden. Ebendesshalb sollten aber die Frommen
andererseits alles dessen sich enthalten, was keine unmittelbar
religiöse Beziehung zuzulassen schien ; und daher jenes zurück-
gezogene, weltscheue Wesen, welches schon Spener dem pro-
testantischen Pietismus durch seine Lehre von den sogenannten
Mitteldingen (Adiaphora) aufgedrückt hat. Weltliche Lust-
barkeiten, wie Theater, Tanz und Musik, Spiel und gesellige
Scherze, Spazierengehen, Fechten, schöne Kleider u. s. w.
wurden von den Pietisten gemieden, weil sie der Seele Schaden
und Gefahr bringen, jedenfalls aber mit der Gottseügkeit nichts
zu thun haben; dafür bemühten sie sich aber, allem, auch
den alltäglichsten Dingen und Verrichtungen, eine religiöse
Beziehung in einer Weise aufzuprägen, die uns freilich nicht
selten nur erkünstelt und geschmacklos erscheinen kann. Wie
weit indessen dieser Standpunkt von dem unsrigen abliegen
\
124 Wolff's Vertreibung aus Halle.
mag: geschichtlich angesehen müssen wir doch immer in dem
Pietismus, seiner ursprünglichen Tendenz nach, eine Erschei-
nung von wesentlich reformatorischem Charakter, eine Beaction
des religiösen Lebens gegen die Unfruchtbarkeit der Ortho-
doxie , einen Act der Befreiung von den Fesseln einer alldn-
seligmachenden Dogmatik anerkennen; und wie ihn desshalb
bei seinem ersten Auftreten der volle Hass der hen-schenden
Theologie traf, so müssen wir auch zugeben, dass er diesen
Hass redlich verdient hat, dass er eine von den Hauptursachen
der Veränderung gewesen ist, welche sich um den Anfang des
achtzehnten Jahrhunderts in dem Charakter des deutschen
Protestantismus vollzog.
Mit dieser neuen Form des religiösen Lebens tritt nun
gleichzeitig eine andere Macht auf den Schauplatz, die einen
noch weit umfassenderen und eingreifenderen Einfluss auszu-
üben bestimmt war: die deutsche Philosophie. Deutsch-
land war bis über, die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts in
seiner philosophischen Entwickelung weit hinter den Englän-
deiTi, Franzosen und Holländern zurückgeblieben. Die religiöse
Bewegung und die theologischen Verhandlungen hatten seine
Thätigkeit so ausschliesslich in Anspruch genommen, dass
für anderes keine Zeit und keine Theilnahme übrig blieb.
Die Philosophie, welche auf seinen Hochschulen gelehrt wurde,
war im wesentlichen noch immer mittelalterliche Scholastik,
und auch auf den protestantischen Universitäten nur jener
der Scholastik nahe verwandte Aristotelismus Melanchthon's,
dessen sich die protestantischen Theologen , wie ehedem die
mittelalterlichen Scholastiker, zum Ausbau ihrer dogmatischen
Systeme bedienten. Einem Baco und Hobbes, einem Descartes
und Spinoza hatte Deutschland keinen ebenbürtigen Neben-
buhler zur Seite zu stellen. Erst Leibniz (1646—1716) war
es, durch den es in selbständiger Stellung in die philosophische
Bewegung der Zeit eintrat. Gleich bei ihm stellte es sich
aber heraus, dass diess nicht möglich war, ohne in eine be-
denkliche Spannung mit der herrschenden Theologie zu ge-
rathen. Der leitende Gedanke seiner Philosophie ist die Har-
Wolff's Vertreibung aus Halle. 125
monie des Universums, die mangellose Vollkommenheit, der
lückenlose Zusammenhang des Weltganzen. Die Elemente aUer
Dinge sind nach Leibniz die Monaden, lebendige, geistige
Kräfte, die, füi* sich selbst unräumlich, nur unter gewissen
Bedingungen in ihrem Zusammensein die Erscheinung de»
Räumlichen und Körperlichen hervorbringen. Jedes von diesen
zahllosen Urwesen folgt seinen eigenen Gesetzen, keines er-
leidet eine unmittelbare Einwirkung von den andern; aber
jedes ist ein Spiegel des Universums, von dem Gesetz und
der Ordnung des Ganzen bestimmt; unendlich verschieden an
Vollkommenheit stellen sie in ihrer Gesammtheit alle denk-
baren Abstufungen des Seins von der höchsten bis zur niedrig-
sten vollständig dar; jedes ist genau so beschaffen, wie diess
zur Vollkommenheit des Weltganzen nöthig ist, und jedes kann
nach dem unabänderhchen Gesetz seiner Natur nur diejenigen
Thätigkeiten und Vorstellungen erzeugen, welche um jenes
Zweckes willen gerade an diesem Ort eintreten mussten. Keines
von allen den unzähligen Wesen ist überflüssig, keines die
blosse Wiederholung eines andern; sondern jedes ist ein un-
entbehrliches Ergänzungsstück der Welt, jedes leistet ihr alles^
das und nicht mehr, was es ihr nach seiner Eigenthümlichkeit
zu leisten hat. Die Welt ist daher als Ganzes genommen
vollkommen, sie ist die beste Welt, die sich denken lässt;
und selbst das Uebel und das Schlechte, was in ihr ist, thut
dieser Vollkommenheit so wenig Eintrag, dass vielmehr nach
Leibniz zu sagen ist, sie sei mit allen ihren Uebeln besser,
als sie ohne dieselben wäre, weil jedes Uebel eben nur die
Rückseite und die Bedingung eines Guts ist, das ohne diesen
seinen Schatten nicht dasein könnte. Auch die menschliche
Seele ist nur ein Glied in der unermesslichen Kette des Welt-
zusammenhangs ; auch ihr sind alle ihre Geistes- und Willens-
thätigkeiten durch ihre Naturanlage und die jeweilige Ent^
wickelungsstufe derselben unabänderlich vorgezeicbnet, imd
ihre Natur selbst ist so beschaffen und wird sich so entwickeln;,
wie diess die unverbrüchliche Ordnung des Ganzen mit sich
bringt. An der Spitze der ganzen Wesensreihe steht aber
126
Wolff^B Vertreibung aus Halle.
m.
das Wesen aller Wesen oder die Gottheit. Auch aus ihrem
Begriff muss der Philosoph natürlich alle die Vorstellungen
ausschliessen , welche einen Zufall und eine Willktihr in ihre
Natur und ihr Wirken bringen würden. Alles, was ist und
geschieht, ist ein Werk der göttlichen Weltregierung; aber
diese göttliche Weltordnung ist im Sinn unseres Philosophen
von der Naturordnung nicht verschieden: Gott hat die Welt
von Anfang an so eingerichtet, dass durch den natürlichen
Zusammenhang und die natürliche Entwickelung der Dinge
alle seine Zwecke erreicht werden; sie ist ein Kunstwerk,
das keiner späteren Nachbesserung bedarf, eine Maschine, die
durch ihre eigenen Kräfte sich unverrückt auf der ihr vor-
geschriebenen Bahn erhält. Die göttliche Weisheit zeigt sich
nicht darin, dass sie nachträglich in den Weltlauf eingreift,
sondern darin, dass sie alles ursprünglich schon nach dem Gesetz
der vollkommensten Zweckmässigkeit geordnet und jede weitere
Nachhülfe tibei-fiüssig gemacht hat, und diese Weisheit wird
vom Menschen nicht dadurch geehrt, dass er in dumpfem
Erstaunen vor der Unbegreiflichkeit ihrer Wege stillsteht,
sondern dadurch, dass er sie in ihren Beweggründen zu ver-
stehen, dass er alles, so weit seine Kraft reicht, nach dem
Gesetz des zureichenden Grundes zu erklären sich anstrengt.
Es liegt am Tage, wie weit dieser Standpunkt von allen
Voraussetzungen des kirchlichen Systems abliegt. Eine reli-
giöse Weltansicht freilich wird man auch Leibniz nicht ab-
sprechen dürfen; aber diese Religiosität ist von anderer Art,
als die der positiven Dogmatik: ein wiUkührliches Eingreifen
der Gottheit in den Weltlauf, eine Störung der ursprünglichen
Weltordnung durch die Sünde, eine Wiederherstellung der-
selben durch übernatürliche Offenbarungen und Wunder fand
bei folgerichtiger Entwicklung im leibnizischen System keinen
Baum. Leibniz selbst gab sich nun allerdings viele Mühe,
einen solchen trotzdem für sie zu schaffen, wie er überhaupt
sehr rücksichtsvoll gegen die Theologie war, und sein ganzes
Talent mehr als einmal zur Vertheidigung von Lehrbestim-
jnungen verwandte, deren ursprünglichen Sinn er selbst erst
WolfF's Vertreibung aus Halle. 127
Hindeuten musste, um ihre Rechtfertigung übernehmen zu
können. Die Glaubenssätze, welche Vemunftwahrheiten zu
widei-sprechen scheinen, sollten in Wahrheit nicht widerver-
ntinftig, sondern nur übervemünftig sein; die Wunder sollten
in den Weltplan mit aufgenommen, in der ursprünglichen Ein-
richtung der Dinge präformirt sein; sie sollten nicht den
ewigen Gesetzen der Welt, sondern nur den Regeln des ge-
wöhnlichen Weltlaufs widersprechen, nur eine Offenbarung der
höheren Naturordnung in der niederen, nur andere, durch die
Weltentwickelung selbst nothwendig gewordene Mittel für die
unveränderlichen Zwecke der göttlichen Weisheit sein. Wir
würden dem Philosophen unrecht thun, wenn wir läugnen
wollten, dass es ihm fiii' seine Person mit diesen Wendungen
vollkommen ernst war ; wir thäten aber auch seiner Philosophie
unrecht, wenn wir behaupten wollten, dass sie sich folgerichtig
aus ihr ableiten lassen. Wenn die Wunder in der Weltein-
richtung präformirt sind, so sind sie keine Wunder, und wenn
in der Welt als Ganzem nichts zufälliges und willkührliches
ist, wenn nichts ohne zureichenden Grund geschieht, und alles,
was ist, ein festgeschlossenes System, eine prästabilirte Har-
monie bildet, so kann von Wundern und übernatürlichen Oflfen-
bamngen überhaupt nicht gesprochen werden. Mag sich daher
Leibniz seinerseits auch noch so sehr bemühen, den Supranatu-
ralismus der kirchlichen Lehre wissenschaftlich zu rechtfertigen :
aus seinen philosophischen Voraussetzungen lässt sich schlechter-
dings nur ein System des reinen Rationalismus, nur die An-
sicht ableiten, dass alles streng nach natürlichen Gesetzen und
aus natürlichen Ursachen erfolge. Um so weniger kann es
uns auffallen, wenn die Theologie jener Zeit den Philosophen
nicht blos mit Misstrauen, sondern mit offener Feindschaft
behandelte. Auch wenn sie die weitergehenden Consequenzen
seines Standpunktes nicht vollständig durchschaute, war für
sie das, wozu er selbst sich bekannt hatte, hiefür vollkommen
ausreichend. Ein Philosoph, welcher verlangte, dass der Glaube
mit dei* Vernunft übereinstimme, und sich auf Vemunftgründe
stütze, war in ihren Augen schon desshalb vom Atheisten
128 Wolff's Vertreibung aus Halle.
kaum verschieden. Doch kam es vor Leibniz' Tode zu keiner
öffentlichen Verhandlung über das Verhältniss seiner Philo-
sophie zum Christenthum. Er war wohl beim Volk als der
„Lövenix" (Glaubenichts) verschrieen, und als er starb, folgte
kein Geistlicher seinem Sarge; wie er freilich auch, um nihig
sterben zu können, keinen an sein Sterbebett zugelassen, und
in langen Jahren nur ausnahmsweise Einmal, bei besonderer
Veranlassung, Kirche und Abendmahl besucht hatte. Aber
mit öflFentlichen Angriffen, welche über beiläufige Missfallens-
äusserungen hinausgegangen wären, blieb er von Seiten der
Theologen verschont; sei es, weil sie den Ruhm und die
Stellung des Mannes fürchteten, sei es, weil [sie durch drin-
gendere Streitfragen in Anspruch genommen waren, und von
dem Philosophen, der an keiner Universität lehrte, sich nicht
unmittelbar in ihrem Geschäft gestört fanden.
Um so heftiger und hartnäckiger war der Widerstand,
welcher Spener und seine Schule gleich bei ihrem ersten Auf-
treten empfieng. Von ihnen sah sich die herrschende Theo-
logie auf ihrem eigensten Gebiet angegriffen ; in ihnen glaubte
man eine Neuerung bekämpfen zu müssen , welche nach der
Meinung dieser Theologen nichts geringeres, als die Zerstörung
aller kirchlichen Ordnung, die Herabwürdigung des Lehrstan-
des, die Verfälschung der reinen lutherischen Lehre bezweckte,
welche von allen seit der Reformation ausgebrochenen Ketze-
reien, nach der Versicherung ihrer Gegner, die gefährli^iste
und verderblichste sein sollte. Ein volles Menschenalter hin-
durch dauerte dieser Kampf, der nicht allein in zahllosen
Streitschriften und nicht blos mit wissenschaftlichen Gründen,
sondern zugleich auch mit allen Mitteln der theologischen
Verketzerung und der persönlichen Verdächtigung, der öffent-
lichen Schmähung und des geheimen Ränkespiels geführt wurde.
Die leidenschaftlichsten und gewissenlosesten unter den Gegnern
warfen einen Spener und seine Anhänger geradezu mit den
Wiedertäufern der Reformationszeit zusammen: es sei von
ihnen, versicherten sie, auf nichts anderes abgesehen, als auf
eine vollständige Umwälzung in Staat und Kirche, auf eine
Wolff's Yoisreibang aus Halle. 129
Wiederholting der münsterischen Tragödie; ein Schelwig
wurde nicht müde, den Pietisten Lrthümer und Schlechtig-
keiten aller Art schuldzogeben ; der alte Deutsehmann in
Wittenberg wusste Spener in einem Gutachten der dortigen
theologischen Facultät nicht weniger als 283 IrrMren vorzu-
rechne. Aber auch der mildeste und gemässigtste unter den
orthodoxen Gegnern der Pietisten, Valentin Löscher,
wollte sich zeitlebens nicht dazu verstehen, den Stifter der
Parthei nach seinem Tode den „seligen^' Spener zu nennen,
da er überzeugt war, dass er der lutherischen Kirche einen
beispiellosen Schaden zugefbgt, und dass es „der Satan mit
der pietistischen Bewegung arg genug meine und etwas sehr
böses vorhabe;*' — worauf ihm freilich von pietistischer Seite,
durch den streitfertigen Lange, in einer Schrift der theologi-
schen Facultät zu Halle, noch stärker erwiedert wurde: Dr.
Löscher^s Gebete «und religiöse Betheuerungen seien nichts
^uideres, als leeres Blendwerk und pharisäisches Heuchelwesen,
in Wahrheit sei nicht zu vermuthen, dass der Teufel aus der
Hölle es gröber und unverschämter, als er, würde machen
können. Auch an Aufforderungen zu obrigkeitlichem Ein-
schreiten, an Lehrverboten auf den Universitäten, Amtsent-
Setzungen gegen pietistische Geistliche, Schliessung der pie-
tistischen Erbauungsstunden fehlte es nicht; ja in Hamburg
kam es in den Jahren 1693 und 1694 über dem pietistischen
Streit wiederholt zu einem förmlichen Aufruhr, durch welchen
«in Schwager Spener's, Horbius, aus der Stadt vertrieben
und das hamburgische Gemeinwesen für längere Zeit in Un-
ruhe versetzt wurde. Nichtsdestoweniger gewann der Pietis-
mus, auch von manchen Fürsten begünstigt, in der öffentlichen
Meinung und auf den Universitäten mit jedem Jahr mehr an
Boden ; die preussische Regierung fand an ihm in dem Unions-
bestreben , das seit Johann Sigmund's Uebertritt zum refor-
mirten Bekenntniss die natürliche Politik dieses Staats war,
«inen willkommenen Bundesgenossen gegen die lutherischen
Eiferer, und als im Jahr 1694 die Universität Halle gegründet
wurde, ward die theologische Facultät derselben nach Spener's
Zeller, Vorträge imd AbhandL 9
130
Wolff's Vertreibigig aus Halle.
Vorschlägen und ausschliesslich mit Männern aus seiner Schule
besetzt. In wenigen Jahrzehenden verbreiteten sich Tausende
von Theologen, die hier ihre Bildung erhalten hatten, als
Geistliche und als Lehrer über Deutschland, und als sich
zwischen 1720 und 1730 die letzten Nächwehen des pietisti-
schen Streits aus der Theologie allmählich verloren; hatte
die neue Bichtung den vollständigsten Sieg einrngen. Die
strengere Schulorthodoxie des siebzehnten Jahrhunderts war
von jetzt an kaum noch bei einigen Nachzüglern zu finden,
und das, was man jetzt Orthodoxie nannte, war nur noch jener
gemässigtere, gegen die schrofferen Bestimmungen des dogma-
tischen Systems gleichgültig gewordene, sichtbar auf dem
Bückzug begriffene Supranaturalismus , welcher mit dem Pie-
tismus nicht im Streit lag, sondern sein dogmatisches Gegen-
bild und unter seinem unmittelbaren Einfluss entstanden war.
Kaum war aber der Pietismus so weit gekommen und
hatte seinen Frieden mit der Orthodoxie gemacht, als er so-
fort auch begann, seinerseits als Vorkämpfer derselben gegen
alle die aufzutreten , welche in der Neuerung weiter giengen,
als er selbst : die Rolle des Verfolgten war jetzt für ihn zu
Ende, es schien Zeit, die des Verfolgers zu beginnen. Von
allen Neuerungen jener Zeit war aber die eingreifendste, von
welcher auch die Theologie und die Kirche am tiefsten berührt
wurde, die leibnizische Philosophie;, und diese Philosophie hatte
zufälligerweise ihren bedeutendsten Sitz auf der gleichen Uni-
versität angeschlagen, welche auch der des Pietismus war.
Dass die Theologen der spener'schen Schule in derselben
etwas anderes sehen würden, als einen höchst verderblichen
Ausbruch des Unglaubens, dass sie sich ihrer beiderseitigen
inneren Verwandtschaft bewusst werden würden, liess sich
nicht erwarten. Eine Besserung der sittlich-religiösen Zustände,
eine Befreiung des Menschen vom Druck hierarchischer Glau-
bensherrschaft wollten freilich auch sie. Aber diese Reform
sollte sich ganz auf dem Boden der positiven Dogmatik, des
supranaturalistischen Offenbanmgsglaubens bewegen, die Be-
freiung sollte nur dem christlich-religiösen Glaubensleben, nicht
Wolff's Vertreibmig auB Halle. 131
der Vernunft gelten, welcher sie vielmehr auf dem Gebiete
des praktischen Lebens und der allgemeinen Bildung sogar
noch engherziger, als die ältere Orthodoxie, entgegentraten.
Jene religiöse Aufklärung, welche Leibniz und seine Schüler
anstrebten, konnte ihnen nur als ein Abfall vom christlichen
Glauben erscheinen. So konnte es denn kaum ausbleiben,
dass es zwischen den beiden Bewegungen, welche in den letzten
Jahrzehenden des siebzehnten Jahrhunderts gleichzeitig aus
demselben Reformbedttrfniss entsprungen waren, welche aber
von Anfang an eine so verschiedene Richtung genommen hatten,
an ihrem beiderseitigen Hauptsitz zum entscheidenden Zu-
sammenstoss kam. Dieser Kampf jener beiden reformatorischen
Partheien ist es nun, in dem das geschichtliche Interesse von
WoIff^s Vertreibung aus Halle vorzugsweise zu suchen ist.
Christian Wolff war als junger Mann auf die Uni-
versität Halle gekommen. Den 24. Januar 1679 in Breslau
geboren, der Sohn eines Lohgerbers, war er schon vor seiner
Geburt durch ein Gelübde dem Studium gewidmet worden.
Er hatte dann auch wirklich in Jena Theologie studirt; er
selbst jedoch fand sich durch die Mathematik, die Physik imd
die Philosophie ungleich stärker angezogen, und wiewohl er
noch längere Zeit, und selbst noch in Halle, den dereinstigen
Uebergang zum Predigtamt im Auge behielt, trat er doch
zunächst in Leipzig als philosophischer Docent auf. Im Jahr
1706 gieng er als Professor der Mathematik nach Halle. Er
beschränkte sich auch anfangs in seinen Vorlesungen auf diese
Wissenschaft, nach einigen Jahren jedoch dehnte er dieselben
auf alle Theile der Philosophie aus, während er gleichzeitig
seine Ansichten auch in Lehrbüchern über Logik, Metaphysik,
Moral und Politik ausführlich darlegte. Die Philosophie, welche
Wolff vortrug, war im wesentlichen die leibnizische ; von Leibniz:
hatte er namentlich die Ueberzeugung vom durchgängigen
Gausalzusammenhang aller Dinge und von der absoluten Har-
monie und Vollkommenheit des Weltganzen, und in Folge
davon jenen Determinismus aufgenommen, welcher auch die
menschlichen Handlungen der gleichen Nothwendigkeit , wie
9*
132 Wolff's Vertreibuiig aas Halle.
alle anderen Vorgänge, unterwirft. Hatte sich aber hieran
schon bei Leibniz die Forderung angeschlossen, alles aus seinen
zureichenden Gründen zu erklären, so ist eben dieses Bestre-
ben, alles zu erklären und uns über alles auüzuklären , bei
Wolff bis zur Einseitigkeit entwickelt. Wolflf war ein Mann
von bedächtigem, phlegmatischem Wesen, ohne alle Genialität,
aber mit dem nüchternsten mathematischen Verstand ausge-
rüstet. Schon als Schüler des Breslauer Gymnasiums brachten
ihn die Disputationen, in welche er und seine Mitschüler nicht
selten mit den Zöglingen der dortigen Jesuitenanstalten ver-
wickelt wurden, auf den Gedanken, ob es nicht möglich sei,
für die Wahrheit in der Theologie ebenso unwidersprechhche
Beweise zu finden, wie in der Mathematik; und diesem Ge-
danken ist er sein Leben lang treu geblieben, nur dass er
ihn in der Folge weiter ausdehnte. Alle Wissenschaften nach
mathematischer Methode zu behandeln , alle Fragen aus deut-
lichen Begriffen durch regelrechte Demonstration zu entschei-
den, diess ist das wissenschaftliche Ideal unseres Philosophen;
und wie trocken und ermüdend, wie geistlos und oberflächlich
wir seine weitschweifigen Deductionen nicht selten finden
mögen: wer den damaligen Zustand der Wissenschaften und
der allgemeinen Bildung unbefangen betrachtet, der wird sagen
müssen: es war ein Glück für Deutschland, dass es einmal
in diese trockene logische Schule genommen, dass einmal der
ernstliche Versuch gemacht wui'de, in allen Fächern ohne
Ausnahme statt der Auktoritäten auf die Gründe, statt un-
klarer Vorstellungen auf scharfe und feste Begriffe zurüjßk-
zugehen.
Auch die Theologie sollte sich nach Wolflf 's Absicht diesem
Verfahren nicht entziehen. Er selbst hatte eine altväterlich
religiöse Erziehung genossen ; als Knabe hatte er keine Predigt
versäumt und zu Hause täglich in der Bibel gelesen ; er hatte
sodann, wie bemerkt, Theologie studirt, und erst in reiferen
Jahi'en den Gedanken an den Predigerberuf aufgegeben; er
war in der Erfüllung seiner Religionspflichten, wie in allen
Dingen, gewissenhaft und pünktlich: aus dem Jahr 1717 ist
Wolff's Vertreibung aus Halle. 13S
noch ein kleines Actenstück erhalten, worin er die Einladung
zur akademischen Refonnationsfeier mit der Bemerkung be-
antwortet: er wisse nicht, ob er erscheinen könne, da er an
diesem Tage das Abendmahl gemessen wolle, und sein Vor-
haben, nicht gern ändern möchte, er wolle es aber mit seinem
Beichtvater überlegen. Gerade desshalb aber, weil er es mit
der Religion nicht leicht nahm, glaubte er sich nur um so
mehr verpflichtet, sein Verfahren auch auf sie anzuwenden.
Theologische Erörterungen waren es ja gewesen, welche ihn
zuerst veranlasst hatten, die mathematische Evidenz auch
ausserhalb der Mathematik zu suchen; durch klare und un-
widerlegliche Demonstration der religiösen Wahrheiten hoflfte
er der Rehgion den grössten Dienst zu leisten. Und er wollte
sich hiebei so wenige wie Leibniz, auf die sogenaunte natür-
liche Religion beschränken: neben ihr glaubte er vielmehr
auch die geoffenbarte in ihrer Geltung belassen und auch ihre
Wahrheit durch zwingende Beweise darthun zu können.*)
Und wirklich ist auch die wolffische Philosophie in der Folge
ebenso gut für als gegen den Offenbarungsglauben gebraucht
worden, und neben den rationalistischen Aufklärern, die aus
ihrer Schule hervorgiengen, steht eine lange Reihe von ortho-
doxen Wolffianem, welche ihren Wolff so gut, wie die Früheren
ihren Aristoteles, und Spätere ihren Hegel, zur Formulirung
und Vertheidigung der kirchlichen Dogmatik zu gebrauchen
*) Biedermann (Deutschland im achtzehnten Jahrhundert n. S. 422
ff.) glaubt zwar bei Wolff rationalistischere Grundsätze zu finden, als bei
Leibniz. Diess ist jedoch nicht richtig. In ihrem Yerhaltniss zum Offen-
barungsglauben stimmen beide durchaus überein: auch die Stellen, welche
Biedermann anführt, Yerm. Ged. v. Gott u. s. w. 11, 308. 348, besagen nicht»
dass Gott keine Wunder thue, sondern dass die Wunder, wie diess Leibnis
gelehrt hatte, von Anfang an in den Weltplan mitaufgenommen und in der
Weit^inrichtung präformirt seien. Ebensowenig spricht Wolff, um dies»
hier beiläufig zu bemerken, in den Stellen, auf welche sich Biedermann
S. 425 beruft, materialistische Ansichten aus, sondern die Annahme, die er
in denselben ausfuhrt, ist die ächte cartesianisch-leibnizische Lehre von
der prästabilirten Harmonie.
134 Wolff's Vertreibung aus Halle.
wussten. Selbst jener Determinismus, an dem Wolff's Zeit-
genossen den meisten Anstoss nahmen, stand dieser Wendung
an und für sich nicht mehr im Wege, als die calvinische
Prädestinationslehre, auf die auch Wolff selbst sich (z. B. in
den von Gottsched in den Beilagen zu seiner Historischen
Lobschrift Wolflf's S. 35 mitgetheilten Bemerkungen) zu seiner.
Eechtfertigung beruft. Aber der ganze Geist der wolffischen
Philosophie war allerdings ein anderer, als der des herrschen-
den theologischen Supranaturalismus. Wer sich bemüht, die
Glaubenssätze zu beweisen und zu erklären, der bemüht sich
ebendamit, sie aus etwas übervemänfUgem in ein Erzeugniss
der Vernunft, ihren Inhalt aus etwas übernatürlichem in ein
natürliches zu verwandeln ; denn etwas beweisen, heisst : seine
Noth wendigkeit mit Vemunftgründen darthun, etwas erklären
heisst : es aus seinen natürlichen Ursachen ableiten. Hätte
daher die wolffische Philosophie das herrschende System auch
seinem ganzen materiellen Inhalt nach unangetastet gelassen,
so setzte sie sich mit demselben schon dadurch in einen tief-
gi-eifenden Gegensatz, dass sie beweisen wollte, was diesem
System gemäss nur Sache des Glaubens sein durfte. Auch
jenes konnte sie aber nicht, sobald sie folgerichtiger ange-
wandt wurde, als diess ihi* Urheber selbst gethan hatte. Jene
demonstrative Methode, die alles beweisen und erklären will,
hatte ja zu ihrer wesentlichen Voraussetzung die leibnizische
Lehre von der Nothwendigkeit alles Geschehens, von dem
unverbrüchlichen, in der ursprünglichen Welteinrichtung be-
gründeten Gausalzusammenhang aller Dinge. Dass aber mit
dieser Voraussetzung das wunderbare Eingreifen einer über-
natürlichen Ursächlichkeit in den Weltlauf, und ebendamit
auch eine übernatürliche Offenbarung, in Wahrheit unvereinbar
ist, brauche ich hier nicht noch einmal zu wiederholen. Wenn
daher die orthodoxen Theologen in der wolffischen Philosophie
einen gefährlichen Gegner ihres Systems sahen, ,so hatten sie
dazu alle Ursache. •
Diese Gefahr war aber für sie um so grösser, da Wolff
nicht, wie Leibniz, seine Ansichten nur in einzelnen, mehr auf
,/
Wolff's Vertreibung aus Halle. 135
die eigentlich gelehrten Kreise beschränkten Arbeiten, in Briefen
und im persönlichen Verkehr mit hochstehenden Personen aus-
sprach, sondern dieselben in systematischer Ausführung und
leichtverständlicher schulmässiger Form mit der unmittelbar-
sten Wirkung auf die studirende Jugend und die ganze deutsche
Lesewelt übertrug. Wolflf war damals der beliebteste und be-
rühmteste Universitätslehrer Deutschlands; seine Schüler rälj-
men die Klai-heit und Ordnung seines Vortrags, die Kunst,
mit der er seine Gedanken ungezwungen, als ob er sie eben
•erst entdeckte, zu entwickeln, sie durch Beispiele zu erläutern,
auf eine ansprechende Art mitzutheilen , sie, wie Ludovici
in seiner Historie der wolffischen Philosophie sagt, „durch
unterstreute artige Einfälle, wohlangebrachte Gleichnisse, lustige
Beispiele zu verzuckern", allem eine praktische Nutzanwen-
dung zu geben wusste. Nach dem Vorgang eines Thoölasius
bediente er sich auf dem Katheder der deutschen Sprache,
imd auch seine Lehrbücher schrieb er in den ersten Jahr-
zehenden seiner akademischen Thätigkeit fast ausschliesslich
in derselben. Wir werden es nur natürlich finden können,
wenn sich ein Lehrer des lebhaftesten Beifalls erfreute, der
einen bedeutenden, dem BedürMss der damaligen Zeit so
ganz entsprechenden Inhalt in so anregender und gewinnender
Foim mitzutheilen wusste ; wir weräen aber auch den Kummer
begreifen, mit dem seine theologischen CoUegen Lehren, die
sie füi' verderblich und unchristlich hielten, unter den ihrer
Fürsorge anvertrauten jungen Leuten trotz aller Warnungen sich
immer unaufhaltsamer verbreiten sahen. Der fromme Francke
hat später bezeugt, schon vor Ausbruch des Streites mit Wolff
habe er die ^Beweise von seinen gottlosen Lehren aus dem
Bekenntniss seiner Schüler in Händen gehabt, und er habe
auch Wolflf Vorstellungen darüber gemacht, welche gräuliche
CoiTuption der Gemüther er an jenen gefunden; ja, er habe
von den entsetzlichen Verführungen, die durch Wolff 's Vor-
lesungen in die hallischen Anstalten eingedrungen seien, ein
solches Herzeleid gehabt, dass er nachher oft nicht ohne grosse
Bewegung die Stelle angesehen habe, auf der er Gott auf den
139 Wolff's Yertreibwig «os Halle.
Kniöen um die Erlösung von dieser grossen Macht der Fin--
stemiss angerufen, und dass er die Erfüllung seiner Bitte
lebenslang als Beispiel wunderbarer Gebetserhörung bdialten
werde.
Zu diesem tiefen grundsätzlichen Zwiespalt zwischen WoUBT
und den hallischen Theologen kamen nun aber überdiess nodi^
um ihn zu vergiften und 2u verschärfen, persönliche Missvex*
hältnisse. Wolff war schon damals von einem übermässigen^
bei seinen rasch errungenen ungewöhnlichen Erfolgen aUer-
dings verzeihliehen Gefühl seiner wissenschaftlichen Bedeutung
erfüllt, das er auch nicht verbarg; wie er denn z. B. im
Stande war, im Jahr 1724, als ihn Peter der Grosse nach
, Petersburg zu ziehen suchte, und seine Bedingungen etwas
zu stark fand, ganz unbefangen daran zu erinnern, wie reich
Aristoteles von Alexander und andere Gelehrte von anderen
Fürsten belohnt worden seien , und wie wenig doch das , was
diese Leute gethan haben, gegen die Ausführung des grossen
Vorhabens sei, zu dem man ihn berufe. *) Ebenso wenig hielt
Wolff, wie es scheint, mit seinem Urtheil über die heiTschende
Theologie hinter dem Berge; manche seiner Aeusseiomgen
waren seinen theologischen GoUegen hinterbracht, und bei
dieser Gelegenheit wohl auch übertrieben und entstellt worden :
er selbst klagt — in der von Wuttke herausgegebenen Selbst-
biographie, S. 190 — über „fälschlich angebrachte Verläum-
düngen"; und wie empfindlich sie angenommen wurden, sieht
man, trotz der Versicherung des Gegentheils, aus Francke'a
Worten: „dass er mich und Collegas auf's entsetzlichste ge-
schmähet und verspottet hat, das ist mir wie nichts gewesen
und hätte es gem gelitten'^ Von den haUiscben Theologen
war aber gerade damals, wo sie durch das Bewusstsein ihres
Sieges über die altorthodoxe Parthei und ihrer sich, immer
mehr befestigenden kirchlichen Stellung gehoben waren, am
wenigsten zu erwarten, dass sie dem Kampfe mit einem Gegner,
wie Wolff, ausweichen würden. Die heiTOiTagendsten unter
*) Briefe von Chr. Wolff (Petersb. 1860) S. 27.
Wolff's Vertreibung aus Halle. 137
denselben waren Francke und Lange. August Hermann
Francke war ein Mann von inniger Frömmigkeit und höchst
ehrwürdigem Charakter. Durch seine aufopfernde, von hoher
Glaubenskraft getragene Thätigkeit hatte er das bewunderungs-
würdige Werk der Francke'schen Stiftungen zu Stande gebracht,
und dadurch nicht wenig 2u der Anerkennung beigetragen,
welche der Pietismus in d^ öffentlichen Meinung erlangt hatte ;
sein wissenschaftlicher Gesichtskr^s war aber beschränkt, und
war er auch bei seiner milden und friedliebenden Gesinnung
und seiner geringeren dialektischen Uebung nicht zum Wort-
führer in theologischen Streitigkeiten berufen, so war es doch
nicht schwer, seine Theilnahme dafür zu gewinnen, wenn er
das, was ihm heilig war, in Gefahr glaubte^ und wenn ein
streitfertigerer die Führerschaft übemahm. Einen solchen
hatte nun aber Francke neben sich an seinem GoUegen Joa-
chim Lange. Dieser Theolog war bald nach Wolff, im Jahr
1709, von Berlin, wo er noch mit Spener befreundet gewesen
war, als Professor nach Halle gekommen. Gelehrter als Francke,
in der Schulphilosophie bewanderter und im Disputiren geübter,
leidenschaftlich, rechthaberisch, rücksichtslos im Streite, war
er vorzugsweise geeignet, den Pietismus, der ursprünglich aus
einer Beaction gegen die unduldsame Orthodoxie entsprungen
war, zu einer neuen gleich unduldsamen Orthodoxie auszu-
bilden, und in allen Verhandlungen als der allzeit schlagfertige
Vorkämpfer seiner Parthei au£iutreten. In dieser Stellung
hatte er sich schon vor seiner Berufung nach Halle gegen
Valentin Löscher gewendet, und die Vertheidigung der pie-
tistischen Sache alsbald in einen Angriff auf die heiTSchende
Theologie verwandelt; und in dem weiteren fün&ehnjährigen
Streit mit diesem Gegner war er durchaus der Wortfühi-er
der Pietisten gewesen. Ein so hervorragender, in Streitig-
keiten der heftigsten Art eingewohnter und in ihnen sich wohl
fühlender Polemiker war ganz der Mann dazu, um auch mit
Wolff anzubinden. Nun waren aber überdiess zwischen beiden
auch schon verschiedene persönliche Beibungen vorgekommen,
indem Wolff als Prorector bei einigen Anlässen Lange's Wün-
138 Wolff's Yertreibung aus Halle.
«eben entgegengetreten war. Die Theologen ihrerseits hatten,
wie diess nicht blos Wolflf versichert, sondern wie es auch
nach Francke's oben angefahrten Aeusserungen ganz glaublich
und zum Theil (vergl. Goysched, Histor. Lobschr. Beil. S. 17,
S.) urkundlich erwiesen ist, schon längere Zeit vor Wolff's
Vorlesungen gewarnt, und denen, welche dieser Warnung nicht
Folge leisteten, mit Entziehung ihrer Beneficien gedroht, so
dass manche jene Vorlesungen nur heimlich zu besuchen
wagten. Es war demnach sowohl durch principielle Gegen-
sätze als durch persönliche Spannungen Zündstoff genug auf-
gehäuft, als zufällige Veranlassungen die verhängnissvolle Kata-
strophe herbeiführten.
Am 12. Juli 1721 hatte Wolff das Prorectorat an Lange
zu übergeben. Für die Rede , welche er bei dieser Gele-
genheit zu halten hatte, wählte er sich das Thema: über
die Moralphilosophie der Chinesen. Er fbhrte aus, dass die
Chinesen, und namenüich Confucius, eine sehr reine und vor-
zügliche Sittenlehre gehabt haben, welche sich ohne viele
Mühe auf die Piincipien seiner eigenen Moral zurückführen
lasse ; und da es ihnen nun doch andererseits, wie er behauptet,
an jeder, sowohl der geoffenbarten als der natürlichen Religion
fehlte, so fand er in dieser Thatsache einen merkwürdigen
Beweis des Satzes, dass die Vernunft die sittlichen Wahrheiten
mit ihren eigenen Kräften, und ohne Beihülfe einer höheren
Offenbainng, durch die blosse Betrachtung der menschlichen
Natur finden könne. Diese Rede gereichte den anwesenden
Theologen zum äussersten Anstoss. Dass sich die Sittenlehre
auf die blosse, sich selbst überlassene Vernunft gründen lasse,
dass die Kräfte des natürlichen Menschen dafür ausreichen,
dass Atheisten eine reine Moral haben können, — diese Sätze
waren in ihren Augen ebenso viele verabscheuungswürdige
Ketzereien; und es waren nicht blos die Hallenser, die so
dachten, sondern derselben Ansicht war ohne Zweifel die
Mehrzahl der damaligen Theologen. In einem Gutachten der
theologischen und philosophischen Facultät zu Jena, vom 6.
December 1725 (Ludovici I, 244 f.) , wird es Wolff nicht als
Wolff's Verträbung aas Halle. 139
der geringste von den siebenundzwanzig Irrthümem, die dort
angezählt sind, vorgerückt, dass er behaupte, nicht die Atheiste-
rei, sondern nur der Missbrauch derselben, verleite zum bösen
Leben, ein Atheist könne tugendhaft leben, und es gebe ganze
Völker, die keinen Gott glauben, und bei denen es doch
nicht schlimmer, ja in vielen Stücken besser hergehe, als
unter Christen, wie die Hottentotten, namentlich aber die
alten Chinesen. Wolff freilich entgegnete in einer Anmerkung
zu seiner Oratio de Sinarum Philosophia practica (Frankfurt
1726) : er habe nicht von der theologischen oder christlichen,
sondern nur von der philosophischen Tugend geredet; die
Vernunft könne durch sich selbst das Rechte erkennen und
ausreichende Beweggründe zu seiner Vollbringung aus unserer
Natur schöpfen ; diess schUesse aber nicht aus, dass die Offen-
barung theils die Gewissheit, und ebendamit die Wirksamkeit
der Vemunftwahrheiten verstärke, theils auch in den geoflfen-
harten Wahrheiten noch weitere eigenthümliche Beweggründe
des sittlichen Handelns hinzufüge. Aber es begreift sich,
wenn die Theologen eine Entschuldigung nicht gelten Hessen,
welche nur dazu dienen konnte, den ganzen Unterschied seines
Standpunkts von dem ihrigen an's Licht zu stellen; um so
mehr, da diese Erläuterung in seiner Rede selbst nicht aus-
drücklich gegeben war. Unmittelbar nachdem Wolflf die Rede
gehalten hatte, brachte der Senior der theologischen Facultät,
Abt Breithaupt*), dieselbe auf die Kanzel, und gleichzeitig
bat sich die Facultät durch Francke als ihren Dekan von
Wolflf sein Manuscript aus, um ihm ihre Erinnerungen darüber
coUegialisch zu communiciren. Man wird es Wolff nicht ver-
übeln können, wenn er sich wenig gutes von coUegialischen
Verhandlungen vei-sprach, welche damit eröffnet wurden, dass
man seinen Vortrag auf der Kanzel verschrie, und sich dann
nachträglich das Manuscript desselben Vortrags von ihm erbat.
*) Welcher demnach nicht, wie Engelhardt (Val. Löscher S. 177, 1)
angiebt, HaUe vor Lange's Berufung i. J. 1709 verlassen hatte. Vgl. auch
Joach. Langens Lebenslauf S. 82 u. a. St.
140
Wolff's Vertreibung aus Halle.
weil man dessen, was man blos gehört habe, doch nie ganz
gewiss sei. Er lehnte die Auslieferung des Manuscripts in
einem höflichen, aber ziemlich spitzigen Brief ab, und ver-
wies die Theologen auf seine Büeher, wo seine Ansichten zu
finden seien.
Während nun dieser Streit' für den Augenblick ruhte,
wurde das Zerwürhiss durch andere Vorgänge genährt. Unter
Lange's Prorectorat kamen Unordnungen unter den Studenten
vor, wetehe dieser, streng und pedantisch, wie er war, nicht
mit dem richtigen Takt zu behandeln wusste; es wurden
dem unbeliebten Prorector Pereats gebracht und Spottlieder
auf ihn gesungen, die ihn ohne Zweifel doppelt ärgerten,
weil sie mit Vivats auf seinen Vorgänger vermischt waren.
Wolff's Lieblingsschtiler Thümmig war Adjunct der philoso-
phischen Facultät geworden; nachher machte ein Sohn von
Lange Anspruch auf die Stelle, weil er als Magister älter sei ;
aber Wolff als Dekan duldete nicht , dass jener durch diesen
verdrängt werde.*) Machte nun schon diess böses Blut, so
wurde es Wolff natürlich noch mehr übel genommen , als sich
Thümmig um eine ausserordentliche Professui-, welche Lange
seinem Sohn bestimmt hatte, bei der Regierung unmittelbar
bewarb, und sie auch wirklich auf Wolff 's Verwendung ohne
vorgängige Befi-agung der philosophischen Facultät erhielt*
Die Gegner behaupteten, diess sei gegen die Statuten der
Universität, was jedoch Wolff bestreitet. Den hauptsächlich-
sten Anlass zum erneuerten Ausbruch des Streits gab aber
eine Prüfung der wolff 'sehen Metaphysik, die ein hallischer
Docent, M. Strähler, um den Anfang des Jahres 1723 er-
scheinen liess. Diese Schrift war zwar in keiner beleidigenden
Form abgefasst, aber doch war sie in mehiiacher Hinsicht
geeignet, Wolff zu verletzen. Während sie manche Blossen
*) Dieser Vorfall scheint der Eede über die Chinesen schon voran-
gegangen za sein; vgl. Wolff 's AusfÜhrl. Antwort u. s. w. in der Samm-
lung: Acht neue merkwürdige Schriften, die in der Wolff 'sehen Philos. er-
regte Streitigkeit betreffend. Anno 1787. S. 40.
Wolff's Vertreibmig aus Haue.
141
seiner Ansichten und Schrüten nieht ohne Scharfsinn aufdeckte,
hängte sie sich zugldch mit einer widerwärtigen Kleinigkeits-
krämerei an einzehie Ausdrucke und unwesentliche Punkte,
und trotz aller höflichen und unterwürfigen Redensarten schul-
meisterte sie den berühmten Philosophen in einem Tone, an
den dieser nicht gewöhnt war. Ueberdiess war aber ihr Ver-
fasser ein früherer Schüler von Wolff, dessen er sich längere
Zeit wohlwollend angenonmien, und bei einigen von seinen
Kindern sogar Pathenstelle übernommen hatte. Wenn femer
richtig ist, was Wolff behauptet, dass Strähler seine Schrift
mit Lange's Beirath und Unterstützung^ und auch mit Francke's
Vor wissen, zum Dmck befördert hatte, so musste ihn eine
solche Verbindung des ihm früher befreundeten Schülera mit
seinen ausgesprochenen Feinden nothwendig tief kränken.
Auch ohne diese erschwerenden Nebenumstände erschien es
aber nach damaligen Begriffen ungehörig und unschicklich,
dass ein Universitätslehrer einen CoUegen an derselben Uni-
versität mit Nennung seines Namens öffentlich angreife; in
Halle war diess sogar durch die Universitätsstatuten ausdrück-
lich verboten. Wolff, welcher in diesem Punkte durchaus nicht
über seiner Zeit stand, wandte sich auf Anrathen des Kanz-
lers der Universität mit einer Beschwerde an den akademi-
schen Senat, und als dieser wenig Neigung zeigte, ihm zu
willfahren, an die Regierung. Es wäre ohne Zweifel würdiger
gewesen, diesen Schritt zu unterlassen, und Strähler's Angriff
entweder zu ignoriren oder ihm mit wissenschaftlichen Waffen
zii begegnen; indessen verlangte Wolff nicht, dass dem Gegner
untersagt werde, seine Ansichten zu bestareiten, sondern nur,
dass er dieselben nicht mit Nennung seines Namens bestreiten
solle. Damit hatte er aber sein formelles Recht schwerlich
überschritten; und wenn er von der akademischen Behörde
an die Regierung gieng, so hatte er dabei zwar vielleicht den
Fehler gemacht, dass er diess that^ ohne die ausdrückliche
Entscheidung der ersteren abzuwarten; dass er aber damit
seine Gegner darauf hingewiesen habe, nun auch ihrerseits
am Hofe gegen ihn zu arbeiten (Wuttfce S. 27), kann man
142 Wolff's Vertreibung aus Halle.
nicht sagen: er hatte sich nicht an den Hof; sondern an die
Regierung gewandt, er hatte den Fiscjal angerufen, sie
operirten durch die Adjutanten und den Ho&arren. Auf
Wolff's Beschwerde erfolgte (5. April 1723) von König Fried-
rieh Wilhelm L, welcher streng daraufhielt, keine Händel
auf seinen Universitäten zu dulden, und welcher die Streit-
Schrift dnes jungen Docenten gegen einen so berühmten Pro-
fessor nun vollends gegen alle Subordination fand, ein scharfes
Rescript, worin Strähler bei namhafter Strafe und Verlust
seiner Magisterwürde alles weitere Schreiben in dieser Sache
verboten und den sämmtlichen Professoren untersagt wurde,
sie in ihren Vorlesungen zu berühren. Indessen Hessen sich
. Wolff's Gegner durch diese Niederlage nicht abschrecken»
Von der theologischen und auch von der Mehrheit seiner
eigenen Facultät ward eine Klagschrift beim König eingereicht,
die nach Wolff's Angabe Lange mit Strähler's Unterstützung
verfasst hatte, um die schweren In-thümer des wolffischen
Systems nachzuweisen. Auch dieser Schritt scheint aber zu-
nächst keinen grossen Eindruck gemacht zu haben; wenigstens
wurde die Schrift dem Angeschuldigten mit einem gnädigen
Schreiben zur Beantwortung zugestellt. Man musste sich
also nach weiterer Unterstützung umsehen. Und da fanden
es denn die frommen Männer in Halle ganz ang^nessen,
sich zum Sturz des gehassten Gegners eines Menschen zu
bedienen, dessen Gemeinschaft jeder anständige Gelehrte,
welchen die Leidenschaft nicht verblendet hatte, gemieden
haben würde, auch wenn er die von Lange so lebhaft ver-
theidigten Ansichten über profane Scherze und weltliche Lust-
barkeiten nicht theilte. Neben einigen Officieren aus der Um-
gebung des Königs wurde auch der bekannte Gundling, an
dessen derben Spässen sich der sonst verständige und tüchtige,
um sein Volk hochverdiente, aber aller feineren Bildung er-
mangelnde Monarch zu belustigen pflegte, von Wolff's Gegnern
gewonnen, und durch dieses unsaubere Werkzeug wurde dem
Könige hinterbracht, was ein Lange und Strähler vielleicht
allerdings für eine richtige Consequenz des wolffischen Deter-
Wolff's Vertreibung aus Halle. I43.
nünismus halten mochten, was aber an sich selbst eine grobe
Unwahrheit war: Wolff behaupte, wenn einer von des Königs
grossen Grenadieren in Potsdam durchgehe, so habe der König
kein Recht, ihn zu bestrafen, weil er ja nur gethan habe, was
das Schicksal über ihn^verhängte. Damit war der Fürst an semer
empfindlichsten Seite getroffen; jetzt sah er auf einmal in Wolff^
einen Mann, der alle Grundlagen der Ordnung im Staat und
in der Armee untergrabe; und im frischen Zorn erliess er
am 8. November 1723 jenen berüchtigten Gabinetsbefehl,
durch welchen Wolff nicht blos entsetzt, sondern ihm auch
bei Strafe des Stranges geboten wurde, binnen 48 Stunden
Halle und die gesammten königlichen Lande zu räumen. Auch
Thümmig wurde abgesetzt, ein Königsberger Professor Fischer
des Landes verwiesen. Wolff's Professur erhielt der jüngere
Lange, die ausserordentliche^ welche Thümmig bekleidet hatte,
bekam Strähler.*) Die Lehren, von deren Verderblichkeit
man sich so plötzlich überzeugt hatte, sollten in Preussen mit
Stumpf und Stiel ausgerottet werden.
Diess war mehr], als Wolff^s Gegner gehofft, ja mehr, als
sie gewünscht hatten. Ihre Absicht war nicht dahin gegangen,-
dass Wolff abgesetzt, sondern dass er n^t seiner Lehrthätig-
keit und seinen Schriften auf die Mathematik und die Physik
eingeschränkt werde. Als statt dessen ein so weitgehender
und so gewaltsamer Ausbruch des königlichen Zornes erfolgte^
kamen einzelne von denen, die ihn veranlasst hatten, im ersten
Augenblick kaum weniger aus der Fassung, als derjenige,
welcher von demselben « zunächst getroffen wurde. Francke
zwar pries, wie wir bereits gehört haben, Gott für die wunder-
bare Erhörung seiner Gebete, und hielt am nächstfolgenden
Sonntag eine Predigt über das Evangelium von der Zerstörung
*) Doch hatte Lange selbst Strähler för die orden^che, seinen Sohn
nur für die ausserordentliche vorgeschlagen. Sowohl dieser Umstand, als
das sogleich anzuführende, widerlegt die Behauptung, dass Lange bei
seinem Auftreten gegen Wolff von der Absicht geleitet gewesen sei, seinen
Sohn an dessen Stelle zu bringen.
144 Wolff's Vertreibung aus Halle.
Jerusalems, worin von dem Wehruf über die Schwangeren und
von der Flucht im Winter auf Wolff's Frau und auf die da-
malige Jahreszeit eine erbauliche Nutzanw^dui^ gemacht
war. Aber Lange verlor beim Eintreffen des königlichen
Rescripts für drei Tage den Schlaf und die Esslust. Er fühlte
wohl, welchen Nachtheil dieser Sieg der Parthei bringen müsse,
die ihn mit solchen Mitteln erfochten hatte, und welches Licht
auf ihn selbst, als den Vorkämpfer dieser Parthei, fallen
werde. Es war daher ohne Zweifel mehr Berechnung, als
christliche Feindesliebe, dass nach Einlauf des Gabinetsbefehls
die Theologen selbst Wolff unter der Hand ihre Verwendung
anbieten liessen. Auch Wolff fasste die Sache nicht anders
auf. Er habe wohl gewusst, sagt er, und es sei ihm nachher
auch von Berlin aus bestätigt worden, worauf es abgesehen
gewesen sei: ihn zu einem Widerrufe zu bewegen und auf
Mathematik und Physik zu beschi*änken. Dazu hatte er aber
keine Lust, und seine persönliche Lage war auch nicht von
der Art, dass sie ihm solche Zugeständnisse hätte aufdringen
können. Er wies daher jenen Vorschlag mit Würde zurück,
■
verliess Halle schon zwölf Stunden nachdem ihm der Aus-
weisungsbefehl zugekommen war, und begab sich vorläufig
nach Kassel.
So hatten die Gegner der Philosophie füi* den Augenblidc
gesiegt. Aber ihrer Sache hätten sie keinen schlimmeren
Dienst leisten können. Die brutale Vertreibung des Philo-
sophen hatte die Wirkung, welche derartige Massregdn noch
immer gehabt haben. Dieses Veiüahren gegen einen der ersten
Oelehrten der Zeit machte in und ausser Deutschland ein
unglaubliches Aufsehen. Wer sich bisher nichts um Wolff
bekümmert hatte, dessen Augen wurden jetzt gewaltsam auf
ihn gezogen; seine Sache war durch die Mittel, welche man
gegen sie gebraucht hatte, mit der des Fortschritts, der Auf-
klärung, der wissenschaftlichen Freiheit identificirt: wer sich
nicht geradehin zu den Feinden der Wissenschaft, zum An-
hang der Pietisten zählen lassen wollte , der musste Wolff's
Parthei nehmen. Die Verhandlungen über den Inhalt, den
Wolff's Vertreibung aus Halle. 145
Werth, die Haltbarkeit) die Christlichkeit der wolffischen Phi-
losophie kamen jetzt erst recht auf die Tagesordnung: eine
Masse von Schriften für sie und gegen sie erschienen; ihr
Geschichtschreiber Ludovici konnte deren (a. a. Ö. I^ 179 flf.)
schon im Jahr 1737, ohne die Lehrschriften Wolflf 's und seiner
Schüler, über zweihundert zählen, von denen nur zwanzig
Strähler's Angriff auf Wolff vorangehen. Griff doch selbst
ein Schmid in Schmalkalden , Namens Joh. Val. Wagner, zur
Feder, um in Druckschriften die Sache dieser Philosophie
gegen Lange zu fuhren (a. a. 0. S. 320). In diesem lebhaften
und lang andauernden Streite war aber das wissenschaftliche
Uebergewicht ganz unverkennbar auf Wolff's Seite. Was er
wollte und lehrte, das war, auch wenn wir es nicht selten
ungenügend und einseitig finden müssen, doch jedenfalls nichts
willkührlich gemachtes; er hatte nicht allein die Ueberl^en-
helt eines klaren und festen Standpunkts und das allgemeine
Recht der Vernunft, sondern auch alle Bedürfiüsse seiner Zeit
fUr sich, er hatte an allen vorwärts drängenden Kräften seine
natürlichen Bundesgenossen. Die jüngere Generation stellte
sich in ganz Deutschland mit Vorliebe auf seine Seite; noch
ehe ein Jahrzehend seit seiner Vertreibung aus Halle ver-
flossen war, war sein Sieg in der öffentlichen Meinung ent-
schieden, und in der Folge beherrschte seine Philosophie die
Wissenschaft und den Geschmack ihres Zeitalters ein volles.
Menschenalter hindurch mit einer Macht, wie sie von den
späteren Systemen höchstens das kantische in ähnlicher Weise
gehabt hat. Wenn die despotische Massregel gegen den Phi-
losophen die Ausbreitung seiner Ansichten verhindern sollte,,
so konnte dazu kein unglücklicheres Mittel gewählt werden.
Auch persönlich hatte aber Wolff unter dem Schicksal,,
das ihn betroffen hatte, nicht auf die Dauer zu leiden. Scho»^
mehrere Monate vor seinem Abgang von Halle hatte ihm der
Landgraf Karl von Hessen-Kassel vortheilhafte Anerbietungen
machen lassen, um ihn für die Universität Marburg zu ge-
winnen. Noch früher hatte Peter der Grosse, der ihn bereits
im Jahr 1715 nach Russland zu ziehen gesucht hatte, die
ZeUer, Vortr&ge und Abhandl. XO
146 Wolff's Vertreibung aus Halle.
Unterhandlangen mit ihm emeaem und ihm die Direction
der neu zu errichtenden Akademie der Wissenschaften unter den
günstigsten Bedingungen anbieten lassen; und nachdem sich
diese Unterhandlungen längere Zeit hingezogen hatten, war
Wolff nicht abgeneigt, diesem Rufe zu folgen, als die hallische
Katastrophe eintrat. Auf die erste Nachricht von der letz-
teren dachte man in Dresden daran, sich des berühmten Ge-
lehrten sofort für Leipzig zu versichern. Es fehlte also Wolff
keinen Augenblick an der Gelegenheit zu einer neuen ehren-
vollen Stellung. Indessen glaubte er jetzt von ßussland ab-
sehen zu müssen, theils weil er nicht wusste, welchen Eindruck
der Vorgang in Halle dort machen würde, theils weil er keinen
Schritt thun wollte, der ihm als Flucht vor seinen Gegnern
ausgelegt werden konnte. Von den zwei deutschen Universi-
täten, welche sich ihm darboten, hätte er für seine Person
Leipzig vorgezogen. Aber die Unterhändler machten den
Fehler, ihm zunächst ungünstigere Bedingungen anzubieten,
als man ihm zu gewähren entschlossen war, und so entschied
er sich für Marburg, wo er von den Studii'enden mit Jubel,
von den neuen CoUegen freilich zunächst mit einem Protest
empfangen wurde, den zwei scharfe landesherrliche Rescripte
niederschlugen.
Die siebzehn Jahre, während deren Wolff an dieser Uni-
versität wirkte, sind ohne Zweifel als die glänzendste Periode
anzusehen, welche dieselbe überhaupt gehabt hat. Auch er
seinerseits hatte sich über die neuen Verhältnisse nicht zu
beklagen. Seine Vorlesungen fanden solchen Beifall, dass
hundert und mehr Zuhörer selbst auf einer so kleinen Uni-
versität, wie Marburg doch auch damals immerhin war, bei
ihm etwas ganz gewöhnliches waren.*) Von seinem Fürsten
und dessen Umgebungen wurde er mit einem Wohlwollen und
einer Hochschätzung behandelt, die er nicht genug zu rühmen
weiss. Seine ökonomische Stellung, gegen welche sich dc^r
*) Wolff an Beinbeck in BOsching's Beiträgen zu der Lebensgesch.
denkw. Pers. I, 73.
Wolff's YertreibttDg ans Halle. 147
Philosoph durchaus nicht gleichgültig verhielt, war, wenn wü*
den Unterschied der Zeiten in Betracht ziehen, glänzend zu
nennen : bei seiner Anstellung in Marburg war ihm ein Gehalt
von 1000 Thalem in Geld und Naturalien ausgesetzt worden;
sein Gesanunteinkommen berechnet er schon im Jahr 1724
auf 2000 Thaler jä&lich, obwohl er mit 500 Thalem reichlich
auskommen könne;*) im Jahr 1740 sogar nach Abzug seiner
Haushaltung auf 2000 Thaler; die CoUegien allein, bemerkt
er, ertragen ihm tausend Thaler, und könnten das doppelte
ertragen, wenn er in Einforderung des Honorars weniger saum-
selig wäre. Zu dieser günstigen äusseren Lage kam endlich
für ihn sein von Tag zu Tag steigender Euhm und Einfluss
in der wissenschaftlichen Welt, der ausserordentKdie Erfolg
seiner Schriften, die bewundernde Anerkennung, welche ihm
nicht blos von Gelehrten, sondern auch von Fürsten und
Staatsmännern, in und ausser Deutschland, in reichem Masse
gezollt wurde. Die Jahre, welche Christian Wolff in Marburg
zubrachte, sind im ganzen genommen vielleicht die glücklichste
Zeit seines Lebens, und er selbst dachte auch zeitlebens dort
zu bleiben, und wählte sich in diesem Gedanken im Jahr
1732, als ihm ein Sohn starb, an der Seite desselben in der
lutherischen Kirche zu Marbui'g die Grabstätte für sich und
seine Frau aus.
*) M. s. die 1860 von der Petersburger Academie herausgegebenen
Briefe von Chr. Wolff S. 25. — So hoch, wie oben angegeben, berechnet
er selbst bei Büsching a. a. 0. S. 63 ff. 72, bei Wuttke S. 131 u. ö.
seinen Gehalt. Das Anstellungsrescript, bei Gottsched a. a. 0. S. 33ff.,
nennt: 50Ö Thaler in Geld, 50 Scheffel Korn, 20 Viertel Gerste, 1 Viertel
Erbsen, 12 Viertel Hafer, „Heidochsen 1 Stück k 25 Thaler", 10 Hammel
k 1 Goldgülden, 2 Schweine ä 8 Eammergülden, IVs Centner Fische ä 8
Thaler, 4 Ohm Wein zu 11 Thaler, 1 Mass zu 18 Thaler die Ohm, nebst
freier Wohnung in dem neuen Observatorio, „wann es fertig"; zu der letz-
teren scheint es aber nicht gekommen zu sein, da er ihrer in den späteren
Verhandlungen nie erwähnt. — Für das folgende die Belege bei Büsching
a. a. 0. S. 64. 72 ff. 75, und bei Wuttke S. 171. 39 ff. 52 ff.
10*
148 Wolff's Vertreibung aus Halle.
Indessen kam doch mit der Zeit manches zusammen, was
den Philosophen eine Verändemng wünschen liess. Seine
Frau, eine Hallenserin, war nicht gerae in Marburg, und der
Gedanke,^ sie, wenn er sterbe, an diesem Orte zurücklassen zu
müssen, war ihm drückend. Dem einzigen Sohn, den er noch hatte,
stand in Hessen der Umstand entgegen, dass er lutherischer,
der Landeshen* und der grösste Theil des Volks refoimirter
Confession war. Dieser Sohn, schreibt er, müsste nach seinem
Tod in der Fremde herumirren, weil er hier wegen der Reli-
gion nichts werden könnte, als ein Advokat, der sich mit
Bauemprocessen plagen müsse, wozu er ihn doch nicht gern
erziehen möchte. WolfF selbst beschwerte sich, dass er in
Marburg nichts haben könne, was zu physikalischen Experi-
menten erfordert werde; und will er diess auch unter die
verborgenen Wege Gottes rechnen, die sich der Mensch ge-
fallen lassen müsse, so werden wir es doch natürlich finden,
dass er es zu ändern gewünscht hätte. Die Hauptsache war
aber wohl, dass er mit seinem Verhältniss zum Hofe mit der
Zeit nicht mehr recht zufrieden war. Dem Landgrafen Karl
war im Jahr 1730 der König Friedrich von Schweden gefolgt,
welcher das Land durch seinen Bruder Wilhelm als Statt-
halter regieren liess. Wiewohl es nun keiner von beiden an
Aufinerksamkeiten gegen den berühmten Philosophen fehlen
liess, vermisste dieser doch die Beweise persönlicher Hoch-
schätzung, an die ihn Landgraf Karl gewöhnt hatte ; er glaubte
zu bemerken, dass man ihn nur um der Dienste willen schätze,
die er durch seine Vorlesungen der Universität leiste , dass
sein Credit bei Hofe (an dem ihm nur zu viel lag) von dem
Mass seiner akademischen Arbeit abhänge. In dieser wünschte
er aber nachgerade sich einige Erleichterung gönnen zu dür-
fen; und als sich die Hoflfhung, nÄch Halle zurückkehren zu
können, nicht erfüllen wollte, hören wir ihn (10. Juni 1733)
unmuthig genug klagen : er werde sich wohl auf den hessischen
Bergen zu Tode steigen und in Marburg zu Tode arbeiten
müssen. Ja er war 1740 bereits auf dem Punkte, einen Ruf
Wolff's Vertreibung aus Halle. 149
nach Utrecht anzunehmen, als ihn ein unvorhergesehenes Ereig-
niss auf die für ihn ei*freulichste Weise in die frühere Heimath
zurückführte.
Bei Friedrich Wilhehn von Preussen hatte die üble Mei-
nung von Wolff, welche ihm 1723 seinen Cabinetsbefehl diktirt
hatte, noch längere Zeit angehalten. Noch im Jahr 1727
waren Wolflfs metaphysische und moralische Schriften aus-
drücklich unter die atheistischen Bücher gestellt worden, deren
Druck und Verkauf der König . bei lebenslänglicher Karren-
strafe verboten hatte, und es war streng untersagt worden,
über dieselben zu lesen. Aber trotz dieses Verbots wurde
nicht allein an den preussischen Universitäten wolffische Phi-
losophie vorgetragen, sondern auch in der nächsten Umgebung
des Königs hatte dieselbe höchst einflussreiche Gönner, wie
den Fürsten von Anhalt-Dessau, den Feldmai-schall von Grumb-
kow, den Staatsminister von Cocceji^ zu denen in der Folge
der frühere sächsische Minister Christoph von Manteuflfel, einer
von Wolff 's begeistertsten Verehrern, hinzukam ; vor allen an-
dern war es aber der Hofprediger Keinbeck, ein treuer An-
hänger Wolff 's, der schon früher das gewaltsame Verfahren
gegen ihn zu verhindern gesucht hatte, und der auch jetzt
das meiste zur Umstimmung des Königs beitiiig. Durch diese
Männer liess sich der Fürst überzeugen, dass man ihn früher
über Wolff getäuscht habe, und dass dieser Philosoph, weit
entfernt, religions- und sittengefahrliche Lehren vorzutragen,
vielmehr jeder preussischen Universität von höchstem Nutzen
sein würde. Diese Sinnesänderung des Königs war so voll-
ständig, dass er Wolff schon im Jahr 1733 den Antrag machen
liess, als Vicekanzler unter günstigen Bedingungen nach Halle
zurückzukehren. Indessen lehnte Wolff diesen Ruf ab, wie
er auch auf die Anträge, welche ihm gleichzeitig durch den
Freiherm von Münchhausen gemacht wurden, um ihn für die
neu zu gründende Universität Göttingen zu gewinnen, nicht
eingieng. Er war wohl damals Marburgs doch noch nicht so
überdrüssig, wie später, und der Gesinnung des Königs noch
150 Wolif's Vertreibimg aus Halle.
nicht SO sicher, um nicht einen neuen Umschlag in derselben
zu befiirchten. WirkUch gab sich auch Lange alle Mtthe,
einen solchen herbeizuführen; aber sein Angriff wurde von
Wolff's Freunden so vollständig abgeschlagen, dass statt dessen
Wolff's früher so streng verbotene Schriften den Candidaten
der Theologie ausdrücklich empfohlen wurden, nachdem ihr
Verfasser dem Könige den zweiten Band seiner pMlosophia
practica rniiversdUs gewidmet hatte. Auch den Gedanken,
ihn nach Preussen zu ziehen, gab der König nicht auf. Aber
doch fürchtete er nach diesem neuen Beweis von der Un-
versöhnlichkeit der hallischen Theologen, in Halle „würden
sich die Kerls gleich wieder bei die Köpfe kriegen;'' und
da überdiess für Halle eben kein Gehalt flüssig war, liess
er ihm jetzt (1739) eine Stelle in Frankfurt a. d. O. an-
bieten. Wolff war anfangs nicht abgeneigt, diesem Antrag
zu folgen; aber diessmal riethen ihm seine Berliner Freunde
selbst ab, wie sie ihm denn überhaupt nicht verbargen,
dass es auch jetzt mit Friedrich Wilhelm's Bemühungen für
die Wissenschaft nicht so glänzend aussehe, und dass dieser
seinem despotischen Verfahren gegen^ seine Univei*sitäten
nicht so vollständig entsagt habe, wie es Wolff aus der
Feme scheinen mochte; und in der That, wenn man sich
erinnerte, dass er noch vor wenigen Jahren seinen Spass-
macher, den Hofrath Morgenstern ^ zu Frankfurt in seiner
Gegenwart eine possenhafte Disputation hatte halten lassen,
und die Professoren gezwungen hatte, sich bei dieser Un-
würdigkeit zu betheiligen, so konnte man sich von seiner
Achtung vor der Wissenschaft unmöglich einen hohen Begriff
bilden. So zogen sich denn die Unterhandlungen in die
Länge, und Wolff war, wie bemerkt, schon im Begriff,
Deutschland zu verlassen , als Friedrich Wilhelm I. unver-
muthet, nach kurzer Krankheit, den 1. Juni 1740 starb.
Sein grosser Nachfolger war ein eifriger Leser imd Verehrer
der wolffischen Schriften, und er liess es eine seiner ersten
Segentenhandlungen sein, diesen Philosophen für das Unrecht
Wolff'8 Vertreibung aoB HaUe. 151
zu entschädigen, welches ihm früher in Preussen widerfahren
war. Erst vor wenigen Tagen hatte er, noch als Kronprinz,
die Widmung von Wolff's Naturrecht mit einem äusserst
schmeichelhaften Schreiben erwiedert: schon den 6. Juni
erfolgte der Befehl an Beinbeck, sich um Wolif Mühe zu
geben. „Denn ein Mensch, der die Wahrheit suche und
sie liebe, müsse unter aller menschlichen Gesellschaft werth
gehalten werden." Dass Wolff einer solchen Aufforderung
Folge leisten werde, war nicht zu bezweifeln. Einige Schwie-
rigkeit machte es nur, dass der König ihn in Berlin bei der
Akademie anzustellen wünschte. Dazu wollte sich aber Wolff,
in richtiger Würdigimg der Verhältnisse und seiner eigenen.
Begabung, nicht verstehen, und so gab denn Friedrich vor-
läufig nach, und genehmigte (4. Aug. 1740) seine Berufung
nach Halle, als erster Professor des Naturrechts und der
Mathematik, Yicekanzler und Geheimerath, mit einem Gehalte
von 2000 Thalern. Die Entlassung von seiner bisherigen
Stelle brachte noch eine Verzögerung, so dass Wolff erst
am 30. November 1740 Marburg verliess und am 6. December
^in Halle eintraf. Mit den lebhaftesten Beweisen der Dank-
barkeit und Verehiamg wurde er aus seinem bisherigen
Wirkungskreis entlassen, mit fürstlichen Ehren in dem neuen
empfangen. Und diese Ehrenrettung der Philosophie ver-
diente es, dass sie so gefeiert wurde. Wolff selbst zwar machte
bald die Erfahrung, dass es dem zweiundsechzigjährigen nicht
möglich sei, für seine akademische Wirksamkeit sich mit
alternden Kräften den Boden zurückzuerobern, von dem rohe
Gewalt den funfundvierzigjährigen verdrängt hatte; und aller
Kuhm und alle Ehren, die noch 14 Jahre lang sein Haupt
schmückten, konnten ihn für das schmerzliche dieser Er-
fahrung nicht entschädigen. Aber für die Sache der Philo-
sophie war Wolff's Rückkehr nach Halle ein glänzender
Triumph, und den Mächtigen der Erde kann sie zur augen-
fälligen Bestätigung der Wahrheit dienen, die sich immer
auf's neue bewährt, und immer auf's neue verkannt wird:
152 WolfF's Vertreibung aus Halle.
dass es nichts hilft, den Bedürfoissen der Zweiten und der
Völker sich gewaltsam entgegenzustemmen , dass das irrige
und verkehrte, an dem es freilich auch auf dem wissen-
schaftlichen Gebiete nie fehlen wird, nur durch die bessere
Einsicht selbst, nicht durch Lehrverbote, Verfolgimg und
Zurücksetzung widerlegt wird, und dass der Geist der Ge-
schichte noch immer die Werkzeuge gefunden hat, durch
welche er alles, was in der rastlos fortschreitenden Ent-
wickelung der Menschheit begi*ündet war, unfehlbar und zur
rechten Zeit durchsetzte.
7.
•
Johann Gottlieb Fichte als Politiker.
Die Geschiehte der letzten Jahrhunderte ist verhältniss-
mässig arm an Männern von jener Art, me sie das klassische
Alterthnm immerhin weit häufiger aufisuweisen hat : an wissen-
schaftlichen Grössen, welche zugleich durch die Kraft und
Tüchtigkeit ihres Charakters eine hervorragende Stellung ein-
nehmen und auf weitere Kreise nachhaltig eingewirkt haben;
und es gilt diess von dem deutschen so sehr als von irgend
einem unter den grossen neueren Kulturvölkern. In den
Helden der Reformation freilich haben wir die tiefste Ver-
schmelzung deutschen Geistes mit deutscher Gemüths- und
Willenskraft zu bewundem; aber durchgehen wir die Reihen
der nachfolgenden Gelehrten, Theologen und Philosophen, wie
wenige sind doch darunter, aus deren Leben und Schriften
uns das Bild einer über das gewöhnliche Mass hinausreichen-
den Persönlichkeit, eines grossartigen praktischen Wirkens
entgegenträte ! Rechtschafifenheit, Redlichkeit, Ehrenhaftigkeit
finden wir bei der Mehi*zahl wenigstens von denen, welche
nicht blos für gelehrte Handwerker, sondern ftlr wirkliche
Meister und Vertreter der deutschen Wissenschaft gelten
können; persönliche Liebenswürdigkeit, ächte Humanität, alle
Tugenden des Privatlebens bei vielen; nicht selten endlich
eine bewunderungswürdige Unverdrossenheit und Ausdauer,
eine Hingebung an den inneren Beruf, die sich durch keine
l54 Johann Gottlieb FichJ;e
Schwierigkeiten und Entbehrungen zurückschrecken lässt, eine
muthige, rücksichtslose Wahrheitsliebe, kurz alle die Charakter-
eigenschaften , welche der wissenschaftlichen Thätigkeit un-
mittelbar zu gute kommen und ihre Erfolge bedingen. Nur
Eines fehlt den meisten: der frische Blick in das Leben, der
Sinn für praktisches Wirken, jene Energie des sittlichen Trie-
bes, welche sich nie beim blossen Wissen beruhigt, für welche
sich jede Erkenntniss unmittelbar in einen Grundsatz und
jeder Grundsatz in ein Wollen umsetzt. Dieser Mangel ist
allerdings theÜs aus den allgemeinen Verhältnissen der neueren
Zeit theils aus den besonderen unseres Volkes wohl zu be-
gi-eifen : denn je reicher die theoretische Thätigkeit sich ent-
wickelt, je vollständiger nicht nur . die Wissenschaft überhaupt,
sondern irgend ein Bruchtheil der Wissenschaft die Kraft de»
Einzelnen in Anspruch nimmt, um so schwerer lässt sich die
Einseitigkeit des blossen Gelehrten vermeiden ; und je weniger
(wie diess bei uns bis vor kurzem der Fall war) die staatlichen
Zustände eines Volkes zur Betheiligung an dem Gemeinleben
Aufforderung und Gelegenheit bieten, um so sicherer wird in
den meisten die Fähigkeit und der Trieb, in's grosse zu wirken,
verkümmern, und statt der politischen Tugend, die in einem
lebensvollen Gemeinwesen jedem tüchtigen Menschen sich
ebenso naturgemäss anbildet, wie die Sprache und Sitte seines
Volkes, wird auch den Besten in der Regel nur jene Lauter-
keit und BechtschajSfenheit des persönlichen Charakters möglich
sein, welche an sich selbst freilich unschätzbar ist und die
innere Wurzel jedes sittlich gesunden Volkslebens bildet,
welche aber doch nie wirklich ersetzen kann, was dem Volks-
ganzen an politischer Grösse, und jedem Einzelnen an der aus
ihr hervorquellenden Kräftigung abgeht. Nur um so mehr
verdienen aber diejenigen unseren Dank und unsere Bewim-
derung, welche durch ihr Beispiel gezeigt haben, dass dieser
Bann sich durchbrechen lässt, und dass die durchschlagendste
Kraft des sittlichen Wollens mit einer gleich hohen Kraft des
wissenschaftlichen Denkens, eine die andere tragend, in Einem
und demselben Geiste zusammen sein kann; und selbst wenn
als Politiker. 15&
sich daran die weitere Bemerkung anknüpfen sollte, dass in
einer solchen Vereinigung jede von beiden Eigenschaften auch
an den Einseitigkeiten und Schroffheiten der anderen ntrtur-
gemäss theilnehme, würde uns diess an der Bedeutung der
Männer, in denen sie uns zur Anschauung kommt, nicht irre
machen dürfen.
Diese Verbindung wissenschaftlicher und sittlicher Grösse
und der dadurch bedingte allseitig anregende, den Willen und
den Verstand mit überlegener Kraft beheiTSchonde Einflus»
auf seine Umgebung ist es nun gerade, wodurch Johann
Gottlieb Fichte als eine so eigenthümliche und fast ein-
zige Erscheinung unter den deutschen Gelehrten dasteht Er
selbst hat seinen Namen zunächst in die Geschichte der Phi-
losophie mit unvertilgbaren Zügen eingeschrieben; und der
Gelehrte wird immer zuerst an diese Seite seiner Leistungen
denken, wenn von Fichte die Jlede ist. Aber für seine Zeit
noch viel wichtiger und an unmittelbarer Wirkung auf das
Ganze noch weit ergiebiger war die Thätigkeit, dui'ch welche
er sich an dem sittlichen und politischen Leben unseres Vol-
kes, an der Kräftigung des Naüonalgeistes , an der Erhebung
Deutschlands aus tiefem Falle betheiligt hat, und vielleicht
noch anziehender, als für den Philosophen der Denker, ist
für den Menschenkenner der Mann, für welchen seine Wissen-
schaft selbst nur der Ausdruck und der geistige Bückhalt
eines Charakters war, den wir den besten aller Zeiten unbe-
denklich an die Seite setzen dürfen. Es ist eine lohnende
Aufgabe, diesen Charakter in der Einheit seines Wesens dar-
zustellen, in der Grundrichtung und in den Umwandlungen
sdner philosophischen Ueberzeugung , in seinen politischen,
socialen und religiösen Bestrebungen, in seinem öffentlichen
und seinem Privatleben uns die Entwicklung und Erscheinung
Einer und derselben in Einem Gusse geformten Persönlichkeit
zu schildei-n. Die nachstehenden Blätter jedoch beabsichtigen
nur einen Beitrag für eine solche umfassendere Arbeit, indem
sie Fichte's politische Theorie nach ihren verschiedenen Phasen
156 Johann Gottiieb Fichte
in ihrem Zusammenhang mit dem Ganzen seiner Philosophie
übersichtlich darzustellen versuchen.
•Werfen wir zuerst einen raschen Blick auf den Mann
selbst und auf die Zeit, die ihn hervorgebracht hat. Die
Natur hatte Fichte, nach allem, was wir von ihm wissen, zwar
nicht mit sehr glänzenden, aber mit höchst tüchtigen Anlagen
ausgestattet, und die ersten Umgebungen seiner Kindheit hatten
ihre naturgemässe Entwicklung begünstigt. Schon als Knabe
zeichnete er sich durch einen lebendigen Geist, eine unge-
wöhnliche Auffassungskraft, ein vortreffliches Gedächtniss, einen
scharfen und klaren Verstand aus. Frühe äusserte sich bei
ihm die Neigung zu einsamem Nachsinnen und in sich gekehlter
Selbstbetrachtung. Ein offener und gerader, einfacher und
genügsamer Sinn, ein kräftig und fest angelegter Wille, ein
redliches frommes Gemüth war die Ausrüstung, mit welcher
ihn das väterliche Haus zum Gang durch's Leben entliess.
Wechselnde Schicksale zdtigten seinen Charakter; Noth und
Entbehrung, die Schule tüchtiger Männer, blieb dem unbe-
mittelten Sohn eines Dorfhandwerkers nicht erspart; er lernte
bei Zeiten seine Ueberzeugung sich selbst suchen, standhaft
für sie eintreten, um ihretwillen Zurücksetzung erdulden. In
dieser Kunst hat ihn auch sein späteres Leben immer wieder
geübt : als er seine Stelle in Jena daransetzte um seiner wissen-
schaftlichen Unabhängigkeit nichts zu vergeben, als er in der
Folge zu Berlin mitten unter den feindlichen Waffen seine
begeisternden Beden an die deutsche Nation hielt, da hatte
der Mann nur zu bewähren, was der Jüngling gelernt hatte.
Auch sein Studium diente ihm, wie es soll, zur Bildung des
Willens nicht minder, als des Vei-standes: durch die Klarheit
seines Erkennens wollte er die Kraft und die folgerichtige
Sicherheit des Handelns erringen; das Theoretische und das
Praktische war ihm in seinem tiefsten Grund Ein und dasselbe,
und er wusste sich keinen wahrhaften Fortschritt nach der
einen Seite ohne den entsprechenden auf der andern zu denken.
Das letzte Ziel seines Strebens ist die sittliche Befreiung des
Menschen durch die Wahrheit. Auf. die Macht der Wahrheit
als Politiker. 157
vertraut er unbedingt; wo nur die rechte Erkenntniss sei^
glaubt er, da mttsse das richtige Handeln sich nothwendig von
selbst einstellen; und wie er es als die erste Bedingung aller
ächten Sittlichkeit betrachtet, dass der Mensch sich der Wahr-
heit ohne Winkelzüge und Vorbehalt hingebe, so ist ihm
andererseits die Wahrheit nicht blos eine Sache des Yerstandes^
oder gar des Gedächtnisses, sondern eine belebende Kraft,.
welche man sich nur in der lebendigsten Selbstthätigkeit an-
eignen, nui- in unausgesetzter sittlicher Arbeit bewahren kann.
Nichts weiss er sich weniger zu denken, als einen müssigen
Besitz des Wissens, oder eine solche Ueberlieferung desselben^
bei der es als ein fertiges von Hand zu Hand gienge : der Mensch
besitzt nach ihm die Wahrheit nur, indem er sie sucht, indem
er sie immer neu aus sich erzeugt, und wenn es möglich wäre,
beides zu trennen, so würde er, wie Lessing, das Suchen ohne
Besitz einem Besitz ohne fortwährendes Suchen unbedingt vor-
ziehen. Auf dieser geistigen Lebendigkeit vor allem beruht
der ausserordentliche Erfqjg, welchen Fichte als Lehrer gehabt
hat: er will sein Wissen nicht als eine ausgeprägte Münze
weiter geben, sondern in seiner Bede selbst neu erzeugen;
seine Vorträge sind nicht Monologe, denen man zuhören kann,,
oder nicht, sondern ein fortwährendes Zwiegespräch des Philo-
sophen mit sich selbst, in welches er den Zuhörer unwillkühr-
lieh mit hereinzieht; dieser soll nicht die Resultate der
Forschung in gutem Glauben von dem Lehrer annehmen, son-
dern die Kunst des Forschens gemeinschaftlich mit ihm üben
und lernen, er soll in die Werkstätte seiner Gedanken hinein-
sehen, und die Arbeit des Meisters in geistiger Selbstthätigkeit
nachbilden. Und weil so sein Erkennen ein lebendiges ist,,
sa ist es auch immer auf's Leben bezogen ; denn ein Wissen,
welches nur in kräftigem Wollen ergriffen und behauptet
werden kann, wird sich, seinem natürlichen Zug folgend, immer
dem Gebiete der Willensthätigkeit mit Vorliebe zuwenden..
Wer es daher nicht vorher wüsste, dem würde schon Fichte's
wissenschaftlicher und persönlicher Charakter dafür bürgen,,
dass er die Fragen des. Rechts und des Staatslebens nicht
158 Johann Gotüieb Fichte
iremaehlässigt , und dass er auch auf diesem Felde den lei-
tenden Gedanken seines Lebens, die Idee der sittlichen Freiheit,
durchgeflüirt haben werde. Auch das aber könnte ein solcher,
falls am die Eigenthümlichkeit des Philosophen näher b^annt
wäre, zum voraus vermuthen, dass es bei diesem Bestreben
nicht ohne manche Schroffheit und Härte, nicht ohne befrem-
dende Paradoxieen, nicht ohne die Gewaltsamkeit des Idealisten
abgegangen sei, der die Wirklichkeit seinen Gedanken unter-
werfen, nicht diese von jener empfangen will. Was von allen
Dingen das schwerste ist, die Entschiedenheit der eigenen
Ueberzeugung mit der Anerkennung einer fremden, die Festig-
keit der Ginmdsätze mit der Berücksichtigung der Verhältnisse,
die Idealität des Philosophen mit dem praktischen Blicke des
Weltmanns in's Gleichgewicht zu setzen, das musste einem
Charakter, wie Fichte, doppelt schwer werden. Sein Vertrauen
zu seiner Wissenschaft ist nicht frei von Selbstüberhebung,
seine Kühnheit überspringt nicht selten die Schranken, welche
Natur und Geschichte der Macht des Menschen gesetzt haben ;
weil er nur die Wahrheit zu suchen sich bewusst ist, so zwei-
felt er auch nicht, dass das, was er findet, unumstösslich wahr
sei, dass alle denkenden Menschen zu seiner Anerkennung ge-
zwungen werden können; er fragt nicht nach der Möglichkeit
dessen, was ihm gut und zweckmässig scheint, sondern er f o r-
dert sie; er schliessf: diess ist nothwendig, also muss es
irgend einmal wirklich werden, diess ist von uns als noth-
wendig erkannt, also müssen wir an seine Verwirklichung
alles setzen. Für eine Zeit, die aus der Erschlaffung heraus-
gerissen werden muss, die zu einem Verzweiflungskampf um
die höchsten Güter Antriebe und Kraft braucht, für eine
solche Zeit sind so rücksichtslose, nicht rechts noch links
blickende Charaktere unbezahlbar, wie sie ihrerseits umge-
kehrt dieser Zeit bedürfen, um ihre ganze Grösse zu ent-
falten; mit der ungestümen Kraft ein gleiches Mass abwägender
Besonnenheit, mit der Kühnheit des Idealisten die Umsicht
des Staatsmanns zu verbinden, ist nur wenigen Lieblingen der
Gottheit verliehen.
als Politiker. 159
Dem Charakter, den wir soeben geschildert haben, brachte
nun seine Zeit die ergiebigsten StofiFe, die fruchtbarsten An-
regungen entgegen. Fichte's Jugend fällt in den Zeitraum,
welchen für Deutschland Friedrich der Grosse und Joseph IL
bezeichnen. Klopstock stand damals auf dem Gipfel seines
Ruhmes, Herder imd Goethe traten ihm eben zur Seite; an
Lessing's Kämpfen für die Geistesfreiheit hat sich in Fichte
der verwandte Sinn zuerst entzündet. Während er in Jena
Theologie studirte, lehrte in Halle Semler, das Haupt der
kritischen Schule. Um dieselbe Zeit (1781) liess Kant das
Werk ausgehen, welches der Philosophie eine neue Gestalt zu
geben bestimmt war: die Kritik der reinen Vernunft. In dem
gleichen Jahi*e kündigte Schiller in den Räubern der Welt
das neue Gestirn an, welches zunächst wie ein drohender
Komet am deutschen Dichterhimmel aufetieg. In Fichte's
Geburtsjahr, 1762, war Rousseau's „Gesellschaftsvertrag'', diese
Weissagung der französischen Revolution, erschienen. Als er
12 Jahre alt war, begann, als er 21 zählte, endigte der nord-
amerikanische Unabhängigkeitskrieg. Sein männliches Alter
fällt in die Jahre zwischen dem Anfang der Staatsumwälzung
in Frankreich und den deutschen Befreiungskämpfen. Es be<
darf nur eines flüchtigen Blickes auf diese Daten, um uns die
Zeit zu vergegenwärtigen, aus der Fichte hervorgieng, dieses
vorwärts drängende freiheitsdurstige Geschlecht, mit seinem
Misstrauen gegen alle Ueberlieferungen und Auktoritäten, mit
seinem Eifer für Aufklärung, Weltverbesserung und Menschen*
beglückung, mit seinen kühnen Entwürfen und seinen erbärm-
lichen Zuständen, mit seinem redlichen und ernsten, oft aber
auch so unerfahi*enen und nebelhaften Enthusiasmus, mit den
seltenen, in solcher Vereinigung nie dagewesenen Kräften,
über die es zu verfügen, den grossen Aufgaben, die es zu
lösen, den ungemeinen Hindernissen, die es zu überwinden
hatte.
Für eine Natur, wie Fichte, verstand es sich von selbst,
dass er sich in einer solchen Zeit nur auf die Seite des ent-
schiedensten Fortschritts stellen konnte. Aber weil er nicht
/"
160 Johann Gottlieb Fichte
blos ein freier, sondern zugleich ein wissenschaftlicher Kopf
war, so war es nicht minder nothwendig für ihn, dass er den
Fortschritt und die Freiheit zunächst in der Wissenschaft, in
der Philosophie suchte. Ihr warf er sich mit Zurücksetzung
seiner theologischen Fachstudien in die Arme. Aber auch
hier war es immer nur das grosse und durchgreifende, was
ihn anzog. Der erste Fühi-er, dessen Leitung er sich über-
liess, war Spinoza. Das festgefugte, in grossem Sinn entworfene
System dieses Denkers (dessen Lehren er sich aber doch nur
mit gewissen, ihm von Lessing und Leibniz an die Hand
gegebenen Modificationen anzueignen wusste), musste seinem
klaren, nach Einheit und Folgerichtigkeit strebenden Geiste
zusagen; die Rücksichtslosigkeit, mit der jener das Einzel-
wesen dem Ganzen zum Opfer brachte, stimmte zu der Ge-
diegenheit und Ganzheit seines eigenen Wesens; die uneigen-
nützige Hingebung des jüdischen Philosophen an die Gottheit,
die klassische Selbstlosigkeit seines Denkens, die hohe Reinheit
seiner Moral musste für ihn einnehmen. Und die Spuren
dieses Einflusses lassen sich auch später, und in allen Wen-
dungen der fichte'schen Lehre, deutlich erkennen. Aber Eines
fehlte ihm bei Spinoza, dessen er vor allem bedurfte: die
Freiheit. In jenem pantheistischen Systeme, wo sich alles
mit mathematischer Nothwendigkeit aus Eiöem obersten Grund
entwickeln soll, fand die freie Selbstbestimmung keinen Raum.
So Hess Spinoza eines seiner tiefsten Bedürfhisse unbefriedigt.
Eben diesem Bedürihiss kam aber die Lehre auf's voUstän-^
digste entgegen, welche damals von Königsberg aus ihren
Eroberungszug durch die wissenschaftliche Welt begann, die
kantische Philosophie. Und nicht allein dieses: Kant hatte
alle Standpunkte und Ergebnisse der philosophischen Ent-
wicklung seit einem Jahrhundert mit genialem Geiste zusam^
mengefasst, um sie durch einander theils zu ergänzen theils
zu vernichten; er hatte eine radikale Umwälzung des philo-
sophischen Bewusstseins nicht blos gefordert, sondern in gründ-
licher, durch langjährige Gedankenarbeit gereifter Forschung:
vollzogen; und indem er so aus der bisherigen Philosophie das
als Politiker. 161
Resultat zog, und sie eben dadurch auf einen neuen Stand-
punkt erhob, stellte er zugleich allen Bedüi-ßiissen und Be-
strebungen seiner Zeitgenossen, ihrem ganzen Neueioings- und
Verbesserungsdrange, die vollständigste wissenschaftliche Be-
friedigung in Aussicht. Die Herrschaft seines Systems konnte
in jener Zeit nicht ausbleiben, weil dieses Systenr eben nur
in Gedankenfoim aussprach, was die Zeit selbst im inneraten
bewegte. Das Losungswort der Zeit war die Aufklärung:
der Mensch soll nichts für wahr halten, von dessen Wahrheit
er sich nicht durch eigene Prüfung überzeugt hat. Das gleiche
verlangt Kant in der gründlichsten Weise für die Philosophie :
wir sollen keine Vorstellung annehmen, deren Ursprung wir
nicht geprüft, wir sollen den Aussprüchen unserer eigenen
Vernunft keinen Glauben schenken, ehe wir die Natur unseres
Erkenntnissvermögens untersucht, seine Tragweite und seine
Grenzen festgestellt haben. Der Drang der Zeit gieng auf
freie Selbstbestimmung in allen Gebieten : keine wissenschaft-
liche, religiöse oder poütische Auktorität sollte anerkannt
werden, ehe der Anerkennende selbst ihr die Vollmacht aus-
gestellt hatte, keine Ordnung geduldet, welche die Gesellschaft
sich nicht frei gegeben hatte. Kant sagt uns, dass eben dieses
das allgemeinste Gesetz unserer Natur sei; dass alles, was in
unser Bewusstsein eintritt, die ganze Erscheinungswelt, nur
durch uns selbst, durch die eigene Thätigkeit des anschauenden
und begreifenden Geistes die Gestalt erhalte, in der es sich
uns darstellt. Die Zeit begehrte ein klares , begreifliches,
praktisch nutzbares Wissen, sie wollte von unverstandenen
Dogmen, von einer unfruchtbaren Metaphysik nichts hören.
Kant leistete ihi- den Dienst, diesen Hang theoretisch zu recht-
fertigen ; alle Metaphysik, erklärte er, ist Träumerei, alle
angeblichen Belehrungen über die übersinnliche Welt sind eine
Täuschung ; unser Wissen erhält seinen Inhalt nur aus der
Erfahrung, die Erfahrung aber beruht auf der Wahraehmung»
und wahrnehmen können wir nur* in den Formen , an welche
die Natur unser Wahrnehmungsvermögen geknüpft hat: die
Dinge sind uns immer nur in sinnlicher Fonn, nur als Er-
Zeller, Vorträge and Abhandl. W
162 Johann Gottiieb Fichte
scheinungen gegeben, von dem Ding an sich können wir nichts
wissei^. Der Ruf der Zeit galt der' Freiheit. Kant erkannte
im frefien Willen das eigentliche Wesen des Menschen, das
einzige, was ihm die übersinnliche Welt aufschliesse, was ihm
das Dasein eines Gottes und die Fortdauer nach dem Tode
verbürge; nach allgemein gültigen Freiheitsgesetzen, nicht
nach sinnlichen Antrieben zu handeln, aus seiner Vernunft
heraus sich selbst zu bestinmien, nicht von der Naturgewalt
der niederen Triebe sich bestimmen zu lassen, darin besteht
nach ihm einzig und allein seine Aufgabe und seine Würde.
Es begi-eift sich, wenn ein solches System einen Fichte so
gewaltig ergriflF, dass er sich ihm bald gänzlich in die Arme
warf; und auch später noch, als er sich in mancher Beziehung
andere Wege gesucht hatte und bei seinen Zeitgenossen sogar
in den Ruf des Mysticismus gekommen war, hegte er gegen
den Urheber desselben eine solche Verehrung, dass er in
einer Vorlesung aus seinem letzten Lebensjahr (Werke IV,
570) die Weissagung über den Geist, der in alle Wahrheit
leite, nach seiner keck umdeutenden Weise, durch keinen
anderen vollkommener, als durch Kant, erfüllt findet. Zugleich
begreift es sich aber auch, dass Fichte nicht allzu lange bei
Kant stehen blieb, sondern bald eine Vollendung der Philo-
sophie suchte, zu welcher Kant den Grund gelegt hatte. Kant
hatte gezeigt, dass die Dinge uns nur so erscheinen, wie sie
uns nach der Natur unseres Erkenntnissvermögens erscheinen
müssen; aber dass es wirklich von uns verschiedene Dinge
seien, die uns erscheinen, dass unseren Vorstellungen von der
Aussenwelt etwas reales zu Gninde liege, hatte er nicht be-
zweifelt. Aber mit welchem Rechte, fragt Fichte, sollen wir
diess voraussetzen? Wenn wir nicht wissen können, was die
Dinge an sich, ausser unserer Vorstellung, sind, woher können
wir wissen, dass solche Dinge an sich sind? Gegeben sind
uns nur unsere Vorstellungen, d. h. nur gewisse Bestimmungen
unseres Bewusstseins ; wie sollen wir von diesem rein inner-
lichen zu einem äusseren, einer von unserem Vorstellen unab-
hängigen Welt kommen, wie könnte uns eine solche ihr Dasein
r .
als Politiker.
163
beweisen? Sie beweise es uns, hatte Kant gesagt, durch die
Thatsache, dass sich unsere Wahrnehmungen uns unwillkühr-
lich, als ein gegebenes, aufdi-ängen. Allein diese Thatsache,
antwortet Fichte, erlaubt auch eine andere Erklärung. Warum
könnte nicht die Nothwendigkeit , welche jene Vorstellungen
uns aufdrängt, welche sie uns als ein gegebenes erscheinen
lässt, in unserer eigenen Natur liegen? Ja muss sie nicht
in ihr und in ihr allein liegen, wenn die Gmndeigenthümlich-
keit unseres Wesens, die Selbstbestimmung und Selbstthätigkeit,
gewahrt sein soll? Kann etwas in uns und für uns sein,
was nicht durch ims gesetzt wäre? Wagen wir also den
letzten vollendenden Schritt, lassen wir die Voraussetzung eines
von uns selbst verschiedenen Dinges ganz fallen, begreifen
wir alle unsere Vorstellungen als Erzeugnisse unseres eigenen
Geistes, erkennen wir in allem Wirklichen nur die Ei*scheinung
des Ich, welches die Dinge als die Bedingung seines Selbst-
bewusstseins selbst hervorbringt, eben desshalb aber mit seiner
unendlichen schöpferischen Kraft über alles Gegebene über-
gi*ei{t, und sich in freiem sittlichem Handeln als die Macht
über die Dinge bethätigt. Durch solche Gedanken wurde der
kantische Kriticismus von Fichte überschritten und zu einem
kühnen und schroffen Idealismus fortgebildet, — so kühn und
schroff, dass er selbst es auf dieser kahlen Höhe nicht für
die Dauer aushielt, ohne zu schwindeln. Nachdem er jenen
Idealismus etwa acht Jahre mit der vollen Entschiedenheit
seines Wesens vertreten hatte, begann er ihn wesentlich um-
zugestalten. Hatte er bisher ohne genauere Bestimmung von
dem Ich geredet, welches die ganze Welt als seine Erschei-
nung erzeuge, so fasste er jetzt die Frage schärfer in's Auge,
wie sich jenes unendliche Ich zu dem „empirischen Ich",- zu
der Einzelpersönlichkeit verhalte, welche in einen bestimmten
Punkt des Raumes und der Zeit gestellt, diese Welt als Be-
dingung ihres eigenen Daseins vorfindet; und bald überzeugte
er sich, dass jener Grund aller Ei-scheinung .nicht Ich zu
nennen sei, dass er vielmehr als das Urwesen, oder die Gott-
heit, dem Gegensatz von Ich und Nichtich, von Subjekt und
11*
164 Johann GotÜieb Fichte
Objekt, schlechthin vorangehe^ Aber wie er selbst niemals
zugegeben hat, dass er damit seinem früheren Standpunkt
untreu geworden sei, so ist auch wirklich diese Aenderung
seines Systems, wenn man genauer zusieht, doch nicht so
durchgreifend, als man zunächst glauben möchte. Denn fort-
während hielt er daran fest, dass die Aussen weit nur im
Wissen und für das Wissen Realität habe, dass der religiösen
und philosophischen Weltbetrachtung Gott allein für ein Wirk-
liches, alles andere, ausser Gott, in seiner Besonderheit gar
nicht als ein Seiendes gelten könne ; . womit zwar die Gottheit
an die Stelle des unendlichen Ich gesetzt, aber nach wie vor
der Eine unendliche Geist für das einzig reale erklärt war.
Fortwährend hatte er daher auch keinen Sinn für die Natur
und die Naturforschung, sondeni als die einzige wahrhafte
Offenbarung des Ewigen erschien ihm das geistige und sitt-
liche Leben des Menschen; und wenn er dieses jetzt auf den
Gedanken der Gottheit und die religiöse Hingebung an die
Gottheit gründen will, so liegt doch auch diess von seinen
frühereu Grundsätzen nicht so weit ab: hier und dort ist die
Forderung doch immer die, dass der Mensch handle, und dass
er aus der Erkenntniss seines ewigen Wesens heraus handle.
Ich durfte diese Auseinandei-setzung über Fichte's philo-
sophisches System nicht umgehen, weil erst von hier aus auf
seine politischen Ideen das volle Licht fällt. Ist der Geist
die schöpferische Macht, welche die Erscheinung hervorbringt,
so muss er sich als solche auch in der äusseren Erscheinung
bewähren; ist die freie That das erste und letzte, aus dem
selbst die Natur stammt, so wird noch viel mehr verlangt
werden müssen, dass der Mensch seine sittliche Welt mit
Freiheit sich selbst schaffe. Die Sittlichkeit wird auf diesem
Standpunkt nicht in der Zurückziehung aus der Sinnenwelt
gesucht werden können, sondern in ihrer Beherrschung durch
die Freiheit; das sittliche Streben wird sich nicht auf das
Innere des Menschen beschränken, in der sittlichen Idee wird
unmittelbar der Trieb liegen, sich auszubreiten und in der
Welt durchzusetzen; und je höher nun hier die Ansprüche
*
al3 Politiker. 165
gespannt sind, je weniger ihnen daher die Wirklichkeit ent-
spricht, um so stärker wird der Reiz, dieser verkehrten Welt
die wahre, den bestehenden Zuständen das politische Ideal
entgegenzusetzen. Ein Philosoph, wie Fichte, konnte sich der
Politik nicht entschlagen , und er konnte in der Politik nur
Idealist sein.
Dieser Gegensatz des Ideals gegen die Wirklichkeit tritt
uns bei Fichte als die Triebfeder seiner schriftstellerischen
Thätigkeit auf diesem Felde gleich zu Anfang entgegen. Seine
zwei ei-sten politischen Schriften*) sind Gelegenheitsschriften,
und ihr Inhalt ist die Forderung und Vertheidigung politischer
Reformen. Durch beide geht noch etwas von dem Geist, in
dem Schiller zwölf Jahre zuvor seine Räuber geschrieben hatte,
etwas von dem Tone französischer Gonventsreden. Wie es in
diesen gewöhnlich war, gegen die „Tyrannen" im allgemeinen
zu donnern — und Tyrann hiess ja jeder Regent — , so wirft
Fichte in seiner „Zurückforderung der Denkfreiheit" die Fürsten,
als ob einer nothwendig sein müsste, wie der andere, alle
zusammen , um über alle bald mit stürmischer Leidenschaft,
bald im Tone der schneidendsten Geringschätzung sich zu
ergehen. „Nein, ihr Völker, ruft er aus (W, W. VI, 6), alles
alles gebt hin, nur nicht die Denkfreiheit. Immer gebt eure
Söhne in die wilde Schlacht, um sich mit Menschen zu würgen,
die sie nie beleidigten, entreisst euer letztes Stückchen Brod
dem hungernden Kinde und gebt es dem Hunde des Günst-
lings — gebt alles hin; nur dieses vom Himmel abstammende.
Palladium der Menschheit, dieses Unterpfand, dass ihr noch
ein anderes Loos bevorstehe , als dulden , tragen und zer-
knirscht werden, — nur dieses behauptet." Und wenn er
unmittelbar darauf die Miene annimmt, als ob er die Fürsten
*) Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europen's, die
sie bisher unterdrückten. Eine Rede. Heliopolis, im letzten Jahre der
alten Finstemiss (1793). Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publi-
kums über die französische Revolution 1793. Beides jetzt im 6. Band von
•
Fichte's Werken.
166 Johann Gottlieb Fichte^.
entschuldigen wolle, dass sie nicht anders sind, so lautet diese
Entschuldigung verletzender, als die heftigste Anklage. „Hasst
eure Fürsten nicht, sagt er, euch selbst solltet ihr hassen.
Eine der ersten Quellen eures Elendes ist die, dass ihr von
ihnen und ihren Helfern viel zu hohe Begriffe habt." Wie
weise sie sich auch in ihrer Politik, dem Erbstück halbbar-
barischer Jahrhunderte, dünken mögen: „das könnt ihr sicher
glauben, dass sie von dem, was sie wissen sollten, von ihrer
eigenen wahren Bestimmung, von Menschenwerth und Menschen-
rechten, weniger wissen, als der ununterrichtetste unter euch".
Woher sollten sie es auch erfahren, sie, für die man eine
eigene, von der allgemeinen himmelweit verschiedene Wahi*-
heit hat, „sie, deren Kopfe man von Jugend auf mühsam
die allgemeine Menschenform nimmt, und ihm diejenige ein-
presst, in welche allein eine solche Wahrheit passt"? „Wie
sollten sie, wenn sie es auch erführen, je Kraft haben, es zu
begreifen? sie, deren Geiste man künstlich durch eine er-
schlaffende Sittenlehre, durch frühe Wollüste, und wenn sie
für diese verstimmt sind, durch späten Aberglauben seine
Schwungkraft raubt." „Man ist versucht, fügt er mit bitterem
Hohn bei, ein stets' fortdauerndes Wunder der Fürsehung an-
zunehmen, wenn man in der Geschichte doch so ungleich mehr
Mos schwache als böse Fürsten antrifft; und ich wenigstens
rechne den Fürsten alle Laster, die sie nicht haben, für
Tugenden an, und danke ihnen für alles das Böse, das sie
mir nicht thun." Die ungerechte Allgemeinheit und über-
treibende Herbheit dieser Anklagen — ungerecht und über-
trieben selbst in den damaligen Zuständen, welche doch mit
unsern jetzigen keine Vergleichung aushalten — konnte nicht
glänzender widerlegt werden, als dadurch, dass ihr Urheber
unmittelbar darauf von einem deutschen Fürsten — freilich
einem Karl August — als Professor nach Jena berufen wurde ;
und diese Universität hatte den hochherzigen Schritt ihres
fürstlichen Beschützers nicht zu bereuen; denn Fichte mehr,
als irgend einem anderen, hätte sie es zu verdanken, dass sie
als Politiker. 167
in den letzten zwölf Jahren vor der unglückseligen Schlacht
auf ihren Höhen ihre höchste Blüthe erlebt hat.
Auch dem Philosophen würde man aber unrechtthun, wenn
man ihn nur nach solchen einzelnen Aeusserungen beurtheilen
wollte. Schon die Schrift über die französische Revolution,
so wenig es an vernichtend scharfer Polemik darin fehlt,
trägt doch in der Hauptsache das Gepräge einer ruhigen
wissenschaftlichen Untersuchung; es handelt sich in ihr weit
weniger um die Vertheidigung dessen, was geschehen ist, als
iHn die Feststellung der Grundsätze, nach denen in jedem
ähnlichen Fall geuiiheilt werden müsse. Fichte will nach-
weisen^ dass ein Volk das Becht habe, seine Staatsverfassung
zu ändern, und sie nöthigenfalls auch einseitig zu ändern;
dass der Adel sich nicht beklagen könne, wenn man ihm seine
Privilegien , die Kirche , wenn man ihr ihren zeitlichen Besitz
nehme. Für diesen ^weck untersucht er das Wesen und den
Urspning der staatlichen Vereinigung, und er findet dasselbe
mit Rousseau in dem Gesellschaftsvertrag. Jeder Mensch ist
von Natur schlechthin sein eigener Herr, jede Abhängigkeit
von andern kann sich nur auf seine freie Einwilligung, nur
auf einen Vertrag gründen. Diesen Standpunkt hält Fichte
in der genannten Schrift mit solcher Ausschliesslichkeit fest,
dass er selbst die elterliche Gewalt nur aus einem freiwilligen
Akt herzuleiten weiss:, das Kind gehört, wie er meint (a. a.
0. W. W. VI, 139 flf.), den Eltern, weil sie sich seiner zuerst
bemächtigt haben, um die gemeinschaftlichen Ansprüche der
Menschheit an dasselbe und ihre Pflichten gegen dasselbe zu
übernehmen; ja es würde, wie er beifügt, aus demselben
Grunde, nach dem Rechte der ersten Besitzergreifung, der
Geburtshelferin gehören, wenn nicht diese nur im Auftrag der
Eltern handelte. Wenn so selbst die erste und natürlichste
Verbindung zwischen Menschen auf eine willkührliche Hand-
lung zurückgeführt wird, so wird diess von jeder späteren und
künstlicheren in verstärktem Mass gelten müssen: der Staat
kann nur durch einen Vertrag zu Stande kommen und niemand
ist ihm gegenüber zu etwas verbunden, wozu er sich nicht
I
168 Johann Gottlieb Fichte
durch einen Vertrag verbinden kann. Jeder Vertrag kann
aber, wie Fichte damals noch irriger Weise annahm, nicht
blos durch Uebereinkunft der Partheien, sondern auch einseitig
von einer derselben aufgelöst werden, wenn sie nur die andere
für etwaige Nachtheile entschädigt ; denn da er nur auf ihrem
übereinstimmenden Willen beruhe, meint der Philosoph, so
höre er auf, zu existiren, wenn diese Uebereinstimmung aufhöre.
Auch der Staatsvertrag könne mithin von jedem Betheiligten
in jedem beliebigen Augenblicke gekündigt werden, und auf
dieses Recht zu verzichten, einen Staatsvertrag und eine Ver-
fassung für unabänderlich zu erklären, sei rechtlich unmöglich.
Dem Zweck aller staatlichen Verbindung würde ein solches
Versprechen ohnedem schnurstracks zuwider laufen. Denn
dieser Zweck sei in letzter Beziehung kein anderer, als die
Kultur zur Freiheit; ein solcher Zweck vertrage sich aber mit
einer unveränderlichen Staatsverfassung weder dann, wenn
diese Verfassung selbst ihn verfolge, noch wenn sie ihn ver-
hindere. Im letzteren Fall versteht sich diess von selbst ; aber
auch im ersteren lässt es sich, wie Fichte glaubt, nachweisen.
Denn in demselben Mass, wie sich die Menschheit der wirk-
lichen sittlichen Freiheit annäherte, würde die staatliche Für-
sorge für dieselbe entbehrlich, und könnte das Ziel je völlig
erreicht werden, so wäre kein Staat und keine Staatsverfassung
mehr nöthig. Wie man daher die Sache ansehen mag: Ver-
fassungsänderungen, und auch einseitige Verfassungsänderungen,
sind nicht allein zulässig, sie sind selbst nothwendig, kein Volk
kann darauf verzichten, weil es auf seine freie Selbstbestim-
mung, auf seinen Fortschritt zur Freiheit nicht verzichten
kann, und hätte eines darauf verzichtet, so wäre dieser Ver-
zicht null und nichtig, weil er unveräusserliche Menschenrechte
beträfe, die man durch keinen Vertrag aufgeben oder verlieren
kann. Wer allerdings mit einer Verfassungsänderung nicht
einverstanden ist, den kann man, nach Fichte's eigenen Grund-
sätzen, nicht zwingen, dass er sich ihr unterwirft; aber eben-
sowenig kann er die, welche sie verlangen, nöthigen, sie zu
unterlassen ; in einem solchen Fall bleibt nur übrig, dass jeder
als Politiker. 169
von beiden Theilen seinen eigenen Weg gehe, und den anderen
auf dem seinigen ungestört lasse: mögen sich die, welche in
dem alten Staat bleiben wollen, so gut sie können, darin ein-
richten, nur sollen sie andere nicht hindern, neben ihrem alt-
väterischen Schloss ein Staatsgebäude nach eigenem Geschmack
und Bedürfioiss aufzuführen. Fichte hat an diesem Ausweg
auch noch später, in seinem Naturrecht, festgehalten, und der
Vertragstheorie bleibt wirklich kein anderer übrig; dass el-
aber praktisch möglich sei, dass zwei oder mehrere Staaten
in demselben Räume beisammen sein könnten, ohne sich bei
jeder Bewegung zu stören und sich schliesslich zu zerstören,
diess freilich hat Fichte durch die Beispiele von angeblichen
Staaten im Staat, die er anführt (a. a. 0. 149 ff.), der Juden,
des Militärs, des Adels und des Klerus, entfernt nicht bewiesen.
Die Einseitigkeit seiner Voraussetzungen bringt sich eben hier
in unmöglichen Folgesätzen an den Tag.
Ihn selbst jedoch stört diese Schwierigkeit nicht; er sieht
nicht, dass gerade seine Veriragstheorie jede Vearfassungs-
änderung, über die nicht alle Staatsbüiger übereinstimmen,
also überhaupt jede Verfassungsändemng , unmöglich machen
würde ; er hält sich an das, wie er glaubt, durch seine Beweis-
führung gesicherte Ergebniss, und fragt nun weiter, was sich
im Fall einer Verfassungsänderung für die bisher bevorzugten,
was sich insbesondere für die Stände ergebe, welche im
Feudalstaat die grössten Vonechte besessen und durch seinen
Untergang am meisten gelitten hatten, den Adel und den
Klerus. Nach allem bisherigen lässt sich zum voraus erwarten,
dass er sich auch hier im Princip auf die Seite der Revolution
stellen werde.. Gesetzt auch, es seien gewissen Volksklassen
in einem Staatsvertrag besondere Begünstigungen eingeräumt,
so kann diess nach Fichte doch immer nur auf Widerruf ge-
schehen sein, denn das Recht, seine Verträge auch einseitig
wieder aufzuheben, ist ihm zufolge ein unveräusserliches
Menschenrecht, das Versprechen, seinen Willen über den
Gegenstand des Vertrags nicht zu ändern, wäre ein Ver-
sprechen, seine Einsichten nicht zu vermehren und zu vervoll-
^ k
170 Johann Gottlieb Fichte
kommnen; sobald daher der unbegünstigtere Bürger bemerkt,
dass er durch den Vertrag mit dem begünstigten übervortheilt
sei, steht es ihm frei, den nachtheiligen Vertrag aufzuheben.
Hiemit ist die Frage im Grundsatz entschieden. Indessen ist
Fichte damit nicht zufrieden. Er führt aus, dass zwischen
den privilegirten Klassen und dem Volke *gar kein wirkliches
Vertragsverhältniss bestehe, dass die Rechte und Verbindlich-
keiten aus einem solchen Vertrage sich nicht vom Vater auf
den Sohn forterben , könnten , dass die Vorrechte der Privile-
girten, wenn man sie im einzelnen prüfe, auf unrechtmässiger
Usurpation und grundlosen Ansprüchen beruhen. Er unter-
sucht die Entstehung des Adels , um zu zeigen, dass die Vor-
züge der Geburt nur allmählich durch Unwissenheit, Anmassung
und Missbrauch herbeigeführt worden seien, dass sie aber in
unserer Zeit keinen Boden mehr haben, dass der Adel als
solcher keine Rechte gewähre, ja dass selbst sein Dasein
lediglich vom Willen des Staats abhänge. Er wendet sich
ebenso gegen die Kirche, um ihre politischen Ansprüche zu
prüfen, und wählend er die Orthodoxie seiner Zeit mit der
ätzendsten satyrischen Lauge übergiesst, *) gewinnt er seiner-
*) Hier ein Beispiel. „Unseren heutigen Eiferern für die Aufrecht-
haltung ihres reinen alleinseligmachenden Glaubens", sagt F. S. 258,
„muss ich eine Lehre gehen, die den Yerdruss reichlich ersetzt, den
ihnen die Durchlesung dieses Kapitels verursachen könnte. Wenn sie
ihren Glauben dadurch zu behaupten suchen, dass sie etwa die abenteuer-
lichsten Sätze aufgeben und ihn der Vernunft näher zu bringen suchen,
so ergreifen sie ein Mittel, das geradezu gegen ihren Zweck läuft." Damit,
meint er, werde nur der Zweifel auch gegen das beibehaltene erregt, und
indem das System abgekürzt werde, werde seine Prüfuiffe und üebersicht
erleichtert „Geht den umgekehrten Weg: jede Ungereimtheit, die in An-
spruch genommen wird, beweiset kühn durch eine andere, die etwas grösser
ist; es braucht einige Zeit, ehe der erschrockene menschliche Geist -wieder
zu sich selbst kommt, und mit dem neuen Phantome, das anfangs seine
Augen blendete, sich bekannt genug macht, um es in der Nähe zu unter-
suchen: läuft es Gefahr, so spendet ihr aus dem unerschöpflichen Schatze
eurer Ungereimtheiten ein neues; die vorige Geschichte wiederholt sich,
und so geht es fort bis an's Ende der Tage. Nur lasst den menschlichen
als Politiker, 171
seits, wie sich nicht anders erwarten liess, das Ergebniss, dass
sich der Staat um die Kirche nicht im geringsten zu kümmern,
und die Kirche beim Staate schlechthin nichts zu suchen habe.
„Die Kirche", sagt er, „hat ihr Gebiet in der unsichtbaren
Welt und ist von der sichtbaren ausgeschlossen; der Staat
gebietet nach Massgabe des Btirgervertrages in der sichtbaren
und ist von der unsichtbaren ausgeschlossen." Fällt jemand
vom Glauben der Kirche ab, so mag ihn diese ausschliessen,
oder wenn er Lehrer ist, absetzen, sie mag ihn, falls sie diess
vor ihrem Gewissen verantworten kann, verdammen und ver-
fluchen, mag ihn des Himmels verweisen und ihn in die Hölle
gefangen setzen, mag auch etwa Scheiterhaufen enichten, auf
denen jeder sich verbrennen könne, der gern verbrannt sein
will , um selig zu werden ; aber die Macht des Staats darf sie
nicht gegen ihn brauchen, und physische Gewalt nicht gegen
ihn ausüben* Der Staat umgekehrt mag staatsgefährliche
Lehren verbieten, aber er hat kein Recht zu gebieten, was
jemand glauben und lehren soll: das Gebiet des Staats und
der Kirche ist gänzlich geschieden. Was aber die irdischen
Güter betrifft, durch deren Besitz sich die Kirche ein Dasein
in der sichtbaren Welt gegeben hat, so meint Fichte, diese
seien ihr immer nur bedingungsweise tiberlassen: wer ihr
etwas schenke, der thue diess nur, um ihre himmlischen Güter
dafür zu bekommen; wenn er nicht mehr glaube, dass diess
der Fall sein werde, oder wenn seine Erben diess nicht glau-
ben , • so sei der Vertrag , den sie mit der Kirche geschlossen
haben, aufgehoben, denn der Schenkende habe ebendamitjede
Bürgschaft für die Erfüllung der Bedingung , an die er die
Geist nicht zum kalten Besinnen kommen, nur lasst seinen Glauben nie
ungeübt; und dann trotzt den Pforten der Hölle, dass sie eure Herrschaft
überwältigen/' Man würde übrigens dieser wahrhaft lessingischen Stelle
zu nahe treten, wenn man sie als blosse Ironie fasste. Fichte's Kath ist
ja auch in neuerer Zeit vielfach mit bestem Erfolge befolgt worden, und
dass diess nicht immer Einfalt, sondern auch Politik war, dafür kann
man gutstehen.
^ 172 Johann Gottlieb Fichte
Schenkung geknüpft hatte, verloren; ja streng genommen
könnte jeder die Kirchengtiter als herrenloses Gut an sich
nehmen, da eine Anstalt aus der unsichtbaren Welt keine
Kechte in der sichtbaren besitzen könne, und wenigstens
dem jeweiligen Inhaber eines Kirchenguts müsste jedenfalls
das Recht zustehen, es zu behalten, und allen, die aus einer
. Kirche austreten, das Recht, ihren Antheil an dem gemein-
samen Vermögen zurückzufordern. — Eine weitere Fortsetzung
der „Beiträge", worin wohl noch manche ähnliche Punkte
erörtert worden wären, ist unterblieben.
Es ist nun hier nicht meine Aufgabe, diese Ansichten zu
prüfen ; ich habe weder das wahre darin zu vei-theidigen, noch
ihre Blossen aufzudecken, ich hatte sie nur als bezeichnende
Aeusserungen des Philosophen zu berichten. Ihr Urheber selbst
hat fortwährend an ihrer Berichtigung und Vervollständigung
gearbeitet. Die grossen Fragen des Staatslebens und der
Gesellschaft haben ihn bis zu seinem Tode beschäftigt, und
eine Reihe von Vorlesungen und Schriften bezeichnet die
Stufen, welche seine politische Theorie hiebei durchlaufen hat.
Zu einem durchaus befriedigenden Abschluss ist sie nicht ge-
kommen; aber es ist ein Beweis seiner philosophischen Rast-
losigkeit und Spürkraft, dass er die Hauptgesichtspunkte ^ aus
denen sich sein Gegenstand betrachten Hess, nach und nach
vollständig herausgearbeitet hat; wie es andererseits für seine
Neigung zu vorzeitigem Abschliessen und einseitiger Durch-
führung seiner Untersuchungen Zeugniss ablegt, dass er die-
selben nicht gleichzeitig zui* Einheit zu verknüpfen, sondern
sie nur nacheinander, den einen durch den andern zurück-
drängend, hervorzuheben gewusst hat. Wenn nämlich dem
Staat überhaupt eine dreifache Aufgabe obhegt: der Rechts-
schutz, die Sorge für das materielle Wohl, die Förderung der
Sittlichkeit und der Bildung, so hat Fichte zuerst die erste
von diesen Aufgaben einseitig in's Auge gefasst, und den Staat
auf den Zweck einer Rechtsanstalt beschränkt; in der Folgie
trat für ihn die zweite so entschieden in den Vordergrund,
dass er eine socialistische Organisation der Arbeit verlangte;
/
als Politiker. 173
in dem letzten Abschnitt seines Lebens endlich erscheint ihm
die Volkserziehung als die wichtigste und wesentlichste Be-
stimmung des Staates, und im Zusammenhang damit tritt auch
das nationale Element, welches er früher veniachlässigt hatte,
in den Mittelpunkt seines politischen^ Strebens. Wir haben
die Ansichten des Philosophen durch diese ihre Entwickelungs-
formen etwas genauer zu verfolgen.
Auf dem ersten Standpunkt treffen wir Fichte nicht allein
in den bisher besprochenen Schriften, sondern auch in der
„Grundlage des Naturrechts'^ vom Jahr 1796 (Werke 3. Bd.).
Der Staat entsteht auch nach dieser Dai'stellung durch einen
Vertrag, welchen die Einzelnen, nach natürlichem Recht voll-
kommen unabhängig, mit einander schliessen. Dieser Vertrag
ist nothwendig, weil nur durch ihn, und somit nur im Staate,
überhaupt ein Rechtszustand möglich ist; denn nur durch ihn
ist dem Einzelnen für das rechtliche Verhalten aller andern
eine Bürgschaft gegeben ; so lange aber diese Bürgschaft fehlt,
ruht ihnen gegenüber die rechtliche Verpflichtung, da diese
immer nur unter der Bedingung der Gegenseitigkeit gilt. Der
Zweck und Inhalt des Staatsbtirgervertrags ist demgemäss die
gegenseitige Sicherung und nur diese; sie ist der gemeinsame
Wille der Staatsbüi^er , jedes andere Interesse dagegen, alles
was ihren Privatvortheil und ihre persönlichen Neigungen be-
trifft, ist ihr Einzelwille, und es ist insofern ganz richtig, wenn
Rousseau zwischen der volonte gSn&ale und der volonte de tous
unterscheidet: jene entsteht aus dieser nur dadurch, dass die
selbstischen Einzelwillen in dem Wollen des gemeinen Besten
und des allgemeinen Rechts sich ausgleichen, und sie ist nur
da vorhanden, wo dieses gewollt wird ; wenn auch alle Staats-
bürger in ihren egoistischen Zwecken zusammenträfen, so hätte
man doch immer nur eine Gesammtheit übereinstimmender
Einzelwillen, noch keinen Gemeinwillen. Es ist diess die
Ansicht vom Staate, welche durch Locke und das englische
Staatswesen empfohlen, durch Rousseau allgemein geworden
war, und fiii' welche um dieselbe Zeit auch Kant in seiner
Rechtslehre, und Wilhelm v. Humboldt in seinen „Ideen"
176 Johann Gottlieb Fichte
um die Organe, durch welche das Volk sein Recht ausübt,
und die Bedingungen, an welche die Wii'ksamkeit dieser Or-
gane zu knüpfen ist. Es könnte jemand so fest, wie nur
Fichte, überzeugt sein, dass die letzte Quelle aller staatlichen
Gewalt im Volk liege, und er könnte doch über die Verthei-
lung dieser Gewalt, über die Rechte und die Stellung der
Begierung, eine ganz andere Ansicht haben; er könnte zugeben,
dass das Volk als ganzes nie Rebell sei, aber er könnte fragen,
ob denn die Regierung und ihre Anhänger nicht auch mit zum
Volk gehören, ob daher die Erhebung der Masse gegen die
Regierung wirklich eine Handlung des ganzen Volkes und
nicht vielmehr nur der Kampf eines Theils mit einem Theil
sei; er könnte selbst ganz abgesehen von allen principiellen
Bedenken das fichte'sche Ephorat schon desshalb verwerfen,
weil es ein durchaus unpraktischer Vorsehlag ist: denn ent-
weder mQsste es die Revolution peimanent machen, oder wenn
es diess nicht wollte, hätte es einer kräftigen Regierung gegen-
über nicht die mindeste reale Macht in Händen. Und dieses
letztere Bedenken hat Fichte selbst später (Nachg. Ww. H,
632) veranlasst, seinen Vorschlag zurückzunehmen. In seinem
Naturreebt jedoch ist er von demselben so befriedigt, dass er
allen übrigen Verfassungsfragen nur einen untergeordneten
Werth beilegt, und je nach den Umständen diese oder jene
Kegierungsform zulässig findet , wenn nur durch ein Ephorat
für ihre Beaufsichtigung gesorgt sei. Selbst die Erbmonardiie
erklärt er bei einem unvollkommenen Stand der politischen
Bildung für zulässig, ja für rathsam; für den vollkommenen
Staat allerdings hat er sie fortwährend bestritten, weil in
diesem der höchste Verstand herrschen solle, der höchste
Verstand aber nicht forterbe*) — womit aber freilich wieder
eine verwickelte Frage sehr einfach abgemacht ist, und die
entscheidenden politischen Gründe, welche in den meisten
Ländern die Erbmonarchie unentbehrlich machen, unbeachtet
gelassen sind.
*) Wie er noch i. J. 1813 (WW. IV, 451. 457) sf«t
als PoHtiker. 177
•
Auch sonst hat Fichte die politische Theorie, die wir so
eben kennen gelernt haben, in seiner späteren Zeit nur theil-
weise verlassen. So hat er namentlich die Lehre vom Staats-
vertrag nie au|gegeben, und in eben der Stelle, worin er den
Vorschlag eines Ephorats zuiUckzieht, erklärt er doch zugleich,
die ßechtsprincipien , die dabei zu Grunde liegen, seien ganz
richtig. Selbst das Becht der Revolution, das er früher be-
hauptet hatte, hat er nicht ausdrücklich zurückgenommen,
wiewohl er in der Folge einräumt (Nachg. WW. n, 634) : ehe
nicht eine gänzliche Umkehiiing mit dem Menschengeschlecht
vorgehe, sei mit Sicherheit anzunehmen, dass Revolutionen
statt eines XJebels ein anderes und gewöhnlich ein noch grös-
seres herbeiführen. Dagegen sehen wir ihn seine Ansicht
über die Aufgabe und Bestimmung des Staats allmählich er-
weitem, und im Zusammenhang damit auch über die Mittel
zur Erfüllung dieser Aufgabe neue Vorschläge bei ihm auf-
tauchen.
Schon in seinem NatuiTecht vom J. 1796 hatte Fichte
der socialen Frage besondere Aufmerksamkeit zugewendet.
Den ersten Bestandtheil des Staatsvertrags soll ja der Eigen-
thumsvertrag bilden. Indem nun der Philosoph das Wesen
dieses Vertrags genauer untersucht, kommt er zu der Ansicht :
der Zweck alles Eigenthums sei der, leben zu können; die
Erreichung dieses Zweckes sei im Eigenthumsvertrag garantirt ;
es sei mithin Giimdsatz jeder vernünftigen Staatsverfassung:
jedermann soll von seiner Arbeit leben können. Durch diesen
Grundsatz wird schon hier die vorausgesetzte Beschränkung
des Staats auf den Rechtsschutz durchbrochen: während der
Rechtsschutz nur in einer negativen Thätigkeit, in der Ver-
hinderung der Rechtsverletzung besteht, wird dem Staat durch
denselben eine positive Fürsorge für die Erhaltung der Ein-
zelnen zur Pflicht gemacht. Das Mittel dazu ist eine Ver-
theilung der Arbeit, welche halb an die ältere Zunftverfassung,
halb an neuere socialistische Theorieen erinnert. Jeder Staats-
bürger soll ein bestimmtes Geschäft treiben, das ihn ernährt,
dafür wird er aber auch so weit gegen Concurrenz geschützt.
Zeller, Vortr&ge und Abhandl. 12
178 Johann Gottlieb Fichte
dass er sich durch seine Arbeit ernähren kann, und wenn er
diess nicht kann, muss ihm soviel gegeben werden, dass er
zu leben hat: der Anne erhält, wie Fichte glaubt, durch den
Staatsbürgervertrag ein absolutes Zwangsrecht auf Unter-
stützung. Andererseits hat der Staat das Recht und die
Pflicht, die Arbeit zu beaufisichtigen , die Zunftmeister zu
prüfen, ihre Zahl für jedes Handwerk zu bestimmen, das
Gleichgewicht zwischen Rohproducten und Fabiikaten durch
Beschränkung oder Beförderung ihrer Erzeugung herzustellen,
einen höchsten Preis für die unentbehrlichen Lebensbedürfnisse
festzusetzen, das Recht des Testirens zu beschränken u. s. w.
Kui-z, es wird schon hier eine staatliche Bevormundung der
Arbeit verlangt, welche mit dem hohen Mass von politischer
Freiheit, das der Philosoph fordert, einen grellen Conti-ast
bildet.
Noch viel weiter geht er aber vier Jahre später in seinem
„geschlossenen Handelsstaat" (1800. WW. HI, 387 ff.). Das
Eigenthumsrecht — davon geht er hier aus — besteht nicht
in dem Recht auf den ausschliessenden Besitz einer Sache,
sondern in dem ausschliessenden Recht auf eine bestimmte
fi^eie Thätigkeit, ob sich nun diese auf eine bestimmte Sache
beziehe oder nicht. Ein Eigenthum findet daher nur im Ver-
hältniss zu andern Menschen statt, und alles Eigenthumsrecht
hat seinen Rechtsgrund lediglich in einem Vertrag aller mit
allen, wodurch jedem die ihm ausschliesslich angehörige Sphäre
seiner Thätigkeit bestimmt wird. Ein Vertrag aber ist immer
nur unter der Bedingung der Gegenseitigkeit verbindlich.
Diess muss auch vom Eigenthumsvertrag gelten: nur derjenige
ist verbunden, fremdes Eigenthum zu achten, der selbst ein
Eigenthum besitzt, denn nur um seinen Antheil am Ganzen
zu erlangen und zu erhalten, verzichtet jemand auf seine
natürlichen Ansprüche an das Eigenthum aller andern, der
Staat kann daher dem Eigenthum der Einzelnen nur dann
rechtlichen Schutz gewähren , wenn er jedem ein Eigenthum,
eine ausschliessliche Berechtigung zu einer gewissen Sphäre,
garantirt hat; und diese Eigenthumsvertheilung ist nur dann
als Politiker. I79
eine gerechte , wenn sie nach dem Gesetz völliger Gleichheit
erfolgt, wenn allen die gleiche Möglichkeit gewährt wird, sich
durch Arbeit Annehmlichkeit des Lebens zu verschaffen.
Deingemäss verlangt nun Fichte von dem Vemunftstaat die
durchgefiihrteste Organisation der Arbeit. Für jeden einzelnen
Erwerbszweig soll genau festgesetzt werden, wie viele sich ihm
widmen dürfen; es sollen ebenso die Preise aller Produkte
und Fabrikate vom Staat festgestellt werden; und für alle
diese Anordnungen soll der Grundsatz massgebend sein, dass
für die gleiche Ai*beit der gleiche Preis bezahlt wird, dass
alle bei gleicher Anstrengung gleich viel von den Genüssen
des Lebens müssen erwerben können. Weil aber diese Ein-
richtung voraussetzt, dass das Gesammtvermögen des Staats
keinen ihm unbekannten und von ihm unabhängigen Schwan-
kungen unterworfen sei, so soll sich jeder Staat gegen alle
andern merkantilisch schlechthin abschliessen, und aller Handel
mit dem Ausland soll einzig und allein durch den Staat be-
trieben werden; und damit auch die Summe der umlaufenden
Werthzeichen sich gleich bleibte, will Fichte, nach dem Vorbild
Lykurg's und Plato's, ein eigenes Landesgeld einführen, das
im Ausland nicht angenommen wird — eine Angabe, die
einzelne neuere Staaten bekanntlich mit ihrem Papiergeld auf's
glücklichste gelöst haben.
Das auffallende und unausführbare dieser Vorschläge, die
er auch später wiederholt hat*), wird uns nicht abhalten
dürfen, das Verdienst ihres Urhebers anzuerkennen. Fichte
ist einer der ersten, wenn nicht der erste, welcher in Deutsch-
land die sociale Frage ernstlich in Angriff genommen hat.
«
Wer uns aber eine wissenschaftliche oder praktische Aufgabe
zum Bewusstsein bringt, dem müssen wir auch dann dankbar
sein, wenn ihm selbst ihre Lösung noch nicht gelungen sein
sollte. Eben diess ist es ja, was den geistreichen Menschen
vom gewöhnlichen unterscheidet, dass wir aus den Irrthümern
des einen in der Regel mehr lernen als aus den Wahrheiten
*) Vorlesungen von 1812. Nachg. WW. H, 528 ff. 542 ff.
12*
180 Johann GotÜieb Fichte
des andern; weil diese In-thtimer eben nicht aus willkührlichen
Einfällen, sondern aus der Wahrnehmung wirklicher Schwie-
rigkeiten entspringen, die der Scharfeichtige entdeckt, während
die meisten an ihnen vorbeigehen, und weil uns auch ein
verfehlter Lösungsversuch, von einem denkenden Kopf ange-
stellt und folgerichtig durchgeführt, mittelbar, durch Aufdeckung
eines falschen Weges, auf den richtigen hinweist. Sodann
lässt sich nicht läugnen, dass sich Fichte's Socialismus, bei
^1 seinen Mängeln , doch immer noch weit gesunder und be-
sonnener zeigt, als die meisten von den späteren socialistischen
Systemen. Diese gehen in der Regel von der Voraussetzung
ans, dass das Eigenthum ein angeborenes Menschenrecht sei,
und sie schliessen nun aus der natürlichen Gleichheit aller
Menschen, nach natürlichem Recht sollten alle Einzelnen gleich
viel Eigenthum haben. In Wahrheit ist aber jedes Eigenthum,
ohne Ausnahme, Erzeugniss der Arbeit: selbst was mir vor
den Füssen liegt, wird mein Eigenthum erst, wenn ich es auf-
hebe. Der Mensch hat daher von Hause aus gar kein Eigen-
thum, sondern nur die Fähigkeit, sich Eigenthum zu erwerben,
und aus der natüi-lichen Rechtsgleichheit aller Menschen folgt
nicht, dass allen gleich viel Besitz zukommt, sondern nur, dass
allen in gleicher Weise das Recht zusteht, sich zu erwerben,
was sie ohne Verletzung fremden Eigenthumsrechts erwerben
können. Das Eigenthum selbst dagegen muss nothwendig
ebenso ungleich sein, als die Kraft, die Geschicklichkeit, der
Fleiss, die Sparsamkeit und das Glück der Einzelnen, und
diese Ungleichheit muss in demselben Mass zunehmen, wie
die gesellschaftlichen Zustände sich verwickeln, und wie das
angesammelte und sich forterbende Eigenthum, das Kapital,
zur gewerblichen Macht wird. Diess hat Fichte frühzeitig
erkannt. Schon in der Schrift über die französische Revo-
lution (S. 121) bemerkt er: „dass alle Menschen auf einen
gleichen Theil Landes rechtlichen Anspruch haben und dass
der Erdboden zu gleichen Portionen unter sie zu vertheilen
sei, wie einige französische Schriftsteller behaupten, würde
nur dann folgen, wenn jeder nicht blos das ^ueignungs- sondern
als Politiker. 181
das wirkliche Eigenthumsrecht auf den Erdboden hätte. Da
er aber erst durch Zueignung vermittelst seiner Arbeit etwas
zu seinem Eigenthum mache, so sei klar, dass der, welcher
mehr arbeitet, auch mehr besitzen dürfe, und dass der, welcher
nicht arbeitet, rechtlich gar nichts besitze." Er verlangt dess-
halb auch vom Staat nicht, dass er allen seinen Bürgern den
gleichen Besitz, sondern nur, dass er allen die gleiche Gele-
genheit zum Erwerb verschaffe. Auch diese Forderung ist
nun freilich unbegründet." Es ist unrichtig, dass das Eigen-
thumsrecht auf einem Vertrag beruhe, da vielmehr jeder
Eigenthumsvertrag jenes Recht schon voraussetzt. Es ist
daher auch unrichtig, dass das Eigenthumsrecht erst im Staat
entstehe, solidem der Staat findet es ebenso, wie die ün ver-
letzlichkeit der Person und der Verträge, als ein natürliches
Recht der Einzelnen vor, das er nicht zu schaffen, sondeni
nur zu ordnen und zu beschützen hat. Es ist endlich un-
richtig, dass das Eigenthum in dem ausschliessenden Recht
auf eine bestimmte freie Thätigkeit bestehe, es besteht viel-
mehr nur in dem Recht zum ausschliesslichen Gebrauch einer
bestimmten Sache: das Eigenthumsrecht des Schusters auf
sein Leder besteht nicht darin, dass kein anderer Schuhe
machen darf, sondern darin, dass er sie nicht aus diesem
Stück Leder machen darf. Ebendamit verlieren auch alle
die Folgerungen, welche Fichte aus seinen Voraussetzungen
ableitet, ihi-e Beweiskraft: sein ganzes socialistisches Gebäude
ermangelt einer naturrechtlichen Grundlage. Dass seine Vor-
schläge ohnedem in; jeder Beziehung unausführbar sind, dass
sie allen gesunden volkswirthschaftlichen Grundsätzen wider-
sprechen, dass sie einen Staat wirthschaftlich und moralisch
zu Grunde richten, und ihn vorher noch in ein Zwangsarbeits-
haus und eine unerträgliche Polizeianstalt verwandeln müssten,
liesse 'Sich leicht zeigen. Nur um so näher liegt aber die
Frage, was einen so scharfen Denker die Unhaltbarkeit seiner
Voraussetzungen imd die Unmöglichkeit seiner Ergebnisse,
was einen so freisinnigen Mann das despotische seiner Vor-
schläge übersehen liess. Die Antwort wird uns theils durch
182 Joliann Gottlieb Fichte
die Persönlichkeit des Philosophen, theils durch sein System
an die Hand gegeben. Durch j ene: denn in Fichte's Charakter
liegt überhaupt, wie schon früher bemerkt wurde, ein Zug von
Unduldsamkeit und Herrschsucht; je fester er von der Wahr-
heit seiner Ideen überzeugt ist, um so weniger kann er einen
Widerspruch dagegen ertragen, um so lieber möchte er sie
als allgemeines Gesetz, durch die Staatsmacht, durchführen;
sein Liberalismus trägt, wie der gleichzeitige der französischen
Revolution, das entschiedene Gepräge der Gewaltsamkeit, er
gilt nicht dem Einzelnen, sondern dem Ganzen, nicht den
Personen, sondern der Idee, und er bedenkt sich desshalb
nicht, die Personen zu dem, was ihm als vemunftnothwendig
erscheint, zu zwingen. Durch dieses: denn ein Idealismus,
wie der seinige, ist immer despotisch: die Bedingungen der
Wirklichkeit sind für ihn nicht vorhanden, die Individuen
haben dem System gegenüber kein Recht; Fichte verfährt in
seiner Theorie aus ähnlichen Gründen absolutistisch, wie Plato,
mit dem er auch wirklich theilweise schon durch seinen So-
cialismus, und durch spätere Vorschläge noch vollständiger
zusammentriflft. Was die vorliegende Frage im besonderen
betrifft, so kommt in den Härten ihrer Lösung zunächst der
Widerspruch zum Vorschein, in welchen sich Fichte durch
seine mangelhaften Bestimmungen über das Wesen und die
Aufgabe des Staats verwickelt. Von der Voraussetzung aus-
gehend, dass der Staat nicht mehr sei, als eine Vereinigung
zum Rechtsschutz, kommt er in der Folge zu der üeber-
zeugung, er habe sich auch mit der Fürsorge für die Inter-
essen seiner Angehörigen zu befassen. Weil er sich aber doch
zugleich von jener Voraussetzung nicht loszumachen weiss,
macht er nun die Interessen selbst zu Rechten und verlangt
von dem Staate, dass er ihre Befriedigung ebenso erzwinge,
wie er die Achtung der Rechte zu erzwingen verpflichtet und
befugt ist. Es sind wenige anscheinend unverfängliche Sätze,
aus denen sein Socialismus sich entwickelt, und eben darin
liegt das belehrende seiner Theorie, dass sie uns in ihrer
Folgerichtigkeit und ihrer streng wissenschaftlichen Haltung
als PoKtiker. 183
die Punkte, auf deren richtige Fassung es hier ankommt, und
die möglichen In-wege deutlicher, als die meisten verwandten
Ausführungen, erkennen lässt.
So weit aber Fichte in derselben thatsächlich über die
Beschränkung des Staats auf den Rechtsschutz hinausgeht, so
zeigt sich doch seine Staatslehre , so weit wir bis jetzt sind,
ihrem Umfang nach in doppelter Hinsicht unvollständig ; darin
nämlich, dass er die idealen Aufgaben so wenig, als die natio-
nalen Bedingungen des Staatslebens beachtet. Noch in den
Vorlesungen über die Gnmdzüge des gegenwärtigen Zeitalters,
welche er im Winter 1804/5 in Berlin hielt (WW. Vü, 166 f.),
erklärte Fichte: „die höheren Zweige der Vemunftkultur, Re-
ligion, Wissenschaft, Tugend, können nie Zwecke des Staates
werden," weil sie in ihrem Wesen unabhängig von ihm seien,
und er seinerseits, in seiner Eigenschaft als zwingende Gewalt,
sich darauf einrichte, vollständig mit seinen eigenen Mitteln
auszukommen. Und in denselben Vorlesungen (S. 212) ant-
wortet er auf die Frage: wie es denn nun gehen solle, wenn
ein Staat durch seine Fehlgriffe sich zu Grunde richte: „Ich
frage zurück: welches ist denn das Vaterland des wahrhaft
ausgebildeten christlichen Europäers? Im allgemeinen ist es
Europa, insbesondere ist es in jedem Zeitalter derjenige Staat
in Europa, der auf der Höhe der Kultur steht. Jener Staat,
der gefährlich fehlgreift, wird mit der Zeit freilich untergehen,
demnach aufhören, auf der Höhe der Kultur zu stehen. Aber
eben darum, weil er untergeht und untergehen muss, kommen
andere, und unter diesen Einer vorzüglich herauf, und dieser
steht nunmehr auf der Höhe, auf welcher zuerst jener stand.
Mögen dann doch die Erdgebomen, welche in der Erdscholle,
dem Flusse , dem Berge , ihr Vaterland erkennen , Bürger des
gesunkenen Staates bleiben ; sie behalten, was sie wollten und
was sie beglückt: der sonnenverwandte Geist wird unwider-
stehlich ungezogen werden und sich hinwenden, wo Licht ist
imd Recht. Und in diesem Weltbürgersinne können wir dann
über die Handlungen und Schicksale der Staaten ims voll-
kommen beruhigen, fOr uns selbst und unsere Nachkommen,
184 Johann GotÜieb Fichte
bis an das Ende der Tage." Wir finden also in jenem Jahr
noch bei Fichte zwei von den bezeichnendsten Zügen des da-
maligen Zeltgeistes beisammen : einerseits jene niedrige Ansicht
vom Staate, welche die höheren geistigen und sittlichen Inter-
essen von seinem Wirkungskreis ausschliesst : andererseits jene
weltbtirgerliche Geringschätzung der Nationalität und des Vater-
landes, welche uns bei mehreren von den ersten Geistern aus
unserem Volke in einer für uns so befremdenden Weise ent-
gegentritt, und eben nur aus den trostlosen politischen Zu-
ständen und der allgemeinen Ertödtung des öffentlichen Lebens
in jener Zeit sich begreifen lässt.
Was den Philosophen über diese doppelte Beschränktheit
hinausführte, war der Drang der Noth und die Schule der
Erfahrung. Als sein Volk vom Feinde bedrängt war, da fühlte
er, dass das Vaterland noch etwas anderes sei, als diese Erd-
scholle, und als der preussische Staat unter der Wucht des
Eroberers zusammenzubrechen drohte, da wurde ihm klar,
dass er noch eine höhere Aufgabe habe, und dass ihm durch
andere Mittel geholfen werden müsse, als durch Gewerbe-
polizei und Bechtspflege. Kaum ein Jahr nach jenen kosmo-
politischen Aeusserungen, als der Krieg des Jahrs 1806 unheil-
drohend heraufzog, hören wir es ihn aussprechen*), dass es
gar keinen Kosmopolitismus überhaupt geben könne, dass
vielmehr in der Wirklichkeit der Kosmopolitismus nothwendig
Patriotismus werden müsse; denn wer daran arbeiten wolle,
dass der Zweck des menschlichen Daseins in der Menschheit
verwirklicht werde, der müsse zunächst in der eigenen Nation
an seiner Verwirklichung arbeiten ; die eigene Nation aber sei
(wie Fichte schon hier auf's wärmste und naehdiiicklichste
ausführt) für den Deutschen nur die deutsche, es gebe keinen
besonderen preussischen Patriotismus, soddern nur einen deut-
schen. Als dann der Krieg wirklich ausbrach, erbot er sich,
die preussische Armee in's Feld zu begleiten, um al» Redner
*) In dem ersten der zwei Gespräche über den Patriotismus, welches
im JuH 1806 geschrieben ist; Nachg. Werke lU, 228 f. 232 f.
als Politiker. 185
auf die Gemüther zu wirken. Nachdem endlich das Waffen-
glück gegen Preussen entschieden hatte, schloss er sich der
Flucht des Hofes nach Königsberg an, und gieng später nach
Kopenhagen, um nicht unter französischer Herrschaft in Berlin
leben zu müssen. In der Folge musste er sich doch dazu
entschliessen ; aber er kam nicht, um sich dem Sieger zu
unterwerfen, sondern um ihn zu bekämpfen; er glaubte das
sicherste Mittel zur Wiederherstellung des Vaterlandes zu
kennen, und wie bei ihm immer Erkenntniss und Entschluss
Eins war, so beschloss er, sofort und auf jede Gefahr hin an
seine Verwirklichung Hand anzulegen. Während Berlin noch
vom Feinde besetzt war, im Winter 1807/8, hielt er vor einer
zahlreichen Zuhörerschaft, von französischen Aufpassem be-
lauert, jene „Reden an die deutsche Nation", welche als die
erste offene Aufforderung zur Erhebung aus dem Unglück mit
ihrer männlichen Kühnheit weit über die Grenzen seines Hör-
saals und selbst Preussens hinaus eine elektrische Wirkung
hervorbrachten. Dass sie der Sieger nicht verhindert und den
muthigen Redner nicht verfolgt hat, könnte als ein Wunder
erscheinen ; es war aber wohl die bekannte napoleonische Ver-
achtung gegen die Ideologen, welche diese Vorträge über Ver-
besserung der Erziehung, wie sie der Moniteur nannte, unge-
fährlich erscheinen liess. Mochten die Deutschen nach ihrer
Weise Metaphysik treiben; für das Reich des Weltbezwingers,
schien es, sei davon nichts zu befüi*chten.
In diesen Reden macht nun Fichte den obenbezeichneten
doppelten Fortschritt, dass er die höheren Bildungszwecke,
und dass er die Nationalität in sein Staatsideal mitaufoimmt.
Und zwar fällt beides jetzt für ihn schlechthin zusammen.
Der Staat muss sich die sittliche Bildung zum höchsten Zweck
setzen, weil nur durch sie Deutschland geholfen werden kann,
und Deutschland muss wiedergeboren werden, weil sonst alle
wahrhafte Bildung in der Welt aussterben würde. Noch drei
Jahre zuvor, in den Vorlesungen über die Grundzüge des
gegenwärtigen Zeitalters, hatte Fichte von seiner Zeit ein
sehr unvörtheilhaftes Bild entworfen. Er hatte sie in ihrer
186 Johann Gottiieb Fichte
selbstgefälligen und selbstsüchtigen Aufklärung als das Mittel-
glied zwischen zwei Welten bezeichnet, der des dunkeln Ver-
nunftinstinkts und derjenigen der selbstbewussten Freiheit;
als die Epoche der BefL*eiung, nicht allein von der äusseren
Auktorität, sondern auch von der Botmässigkeit des Vernunft-
Instinkts und der Vernunft überhaupt in jeglicher Gestalt;
als das Zeitalter der absoluten Gleichgültigkeit gegen alle
Wahrheit und der völligen Ungebundenheit ohne einigen Leit-
faden; als den Stand der vollendeten Sündhaftigkeit (WW.
Vn, 18). Die neuen Vorlesungen eröffiiet er mit der Erklä-
rung (ebd. 264 f.): sein Zeitalter mache mehr, als irgend ein
anderes, Riesenschritte. Der Zeitabschnitt, den er vor drei
Jahren geschildert, sei in Deutschland (er sagt nur : „irgendwo")
vollkommen abgelaufen und beschlossen. Die Selbstsucht habe
hier durch ihre vollständige Entwicklung sich selbst vernichtet,
indem sie darüber ihr Selbst und dessen Selbständigkeit ver-
loren habe. Erheben könne sich Deutschland aus diesem Zu-
stand lediglich unter der Bedingung, dass ihm eine neue Welt
aufgienge und zwar eine solche, die der herrschenden Gewalt
unvemommen bliebe. Diese neue Welt und ihren wahren
Eigenthümer vrill er seinen Zuhörern, und in ihnen allen
Deutschen ohne Unterschied, zeigen, und die Mittel zu ihrer
Erzeugung angeben. Er will sein Volk von dem Schmerz
über den erlittenen Vei-lust zu klarer Besonnenheit und Be-
trachtung erheben, er will es lehren, sich durch diesen Schmerz
zum Ent&chluss und zur That anspornen zu lassen; er will
ihm die Wahrheit als unumstossliche Ueberzeugung einprägen,
dass kein Mensch und kein Gott und keines von allen im
Gebiete der Möglichkeit liegenden Ereignissen ihm helfen
könne, sondern dass es selber allein sich helfen müsse, wenn
ihm geholfen werden solle. In glühenden Worten wendet er
sich an alle Deutsche, welchem Stamme sie angehören : an die
Alten, wie an die Jungen, an die Geschäftsmänner, die Ge-
lehrten, die Fürsten, die Bürger; er beschwört sie, einen
letzten und festen Entschluss zu fassen, zu wählen zwischen
der Knechtschaft und der Freiheit, der Ehre und der Schande ;
als Politiker.
187
zu handeln, als ob jeder einzelne allein da sei und alles allein
thun müsse, nicht von der Stelle zu gehen, ehe die Gewissheit
des dereinstigen Sieges gewonnen sei. Wenn unser Volk dieses
Entschlusses fähig sei und den rechten Weg einschlage, dann,
ist er überzeugt, werde nicht allein Deutschland sich wieder
erheben, sondern es werde überhaupt eine neue Weltzeit, ein
besseres Zeitalter für die Menschheit anbrechen. So wird ihm
gerade die tiefste Erniedrigung seines Volkes zum Anlass der
stolzesten Hoffiiung ; wie sich den Propheten des alten Bundes
an die Zeiten des äussersten öffentlichen Unglücks die höchsten
Erwartungen knüpften, so ist auch in ihm der Glaube an das
Vaterland so unüberwindlich, dass ihm gerade seine politische
Vernichtung zum Beweis einer sicher bevorstehenden Wieder-
geburt dienen muss, in der von Deutschland das Heil der
Welt ausgehe.
Näher stützt sich dieser Glaube auf die Ueberzeugung,
dass die Sache der Menschheit unmöglich verloren sein könne,
dass sie ihre geschichtliche Bestimmung erreichen müsse, so
gewiss ein Gott sei und in der Geschichte regiere. Diess
veimöge sie aber nur durch ächte Bildung, und eine solche
könne von keinem andern Volk ausgehen, als dem deutschen.
Die Deutschen allein — auf diese etwas zweifelhafte Deduk-
tion gründet Fichte den Anspruch, welcher ihm in Wahrheit
natürlich als patriotisches Postulat vor aller Deduktion fest-
steht — sie allein unter allen neueren Kulturvölkern haben
ihre Sprache rein aus sich selbst und ihrem gemeinsamen
Volksleben heraus stetig entwickelt, alle romanischen Stämme
haben die ihrige erst durch Uebertragung einer fremden, und
zwar einer selbst schon halb abgestorbenen Sprache erhalten ;
jene „reden eine bis zu ihrem ersten Ausströmen aus der
Naturkrait lebendige", diese „eine nur auf der Obei-flä^che
sich regende, in der Wurzel aber todte Sprache" (WW. Vn,
325). Zwischen beiden findet daher in Betreff ihrer ganzen
Bildung und Denkart, deren wichtigster Träger und Vermittler
die Sprache ist, gar kein Vergleich statt. Nur bei den Deut-
schen greift die Geistesbildung in's Leben ein, bei den andern
188 Johann Gottlieb Fichte
geht jedes von beiden seiBen Gang für sich fort. Jenen ist es
mit aller Bildung rechter eigentlicher Ernst, diesen ist sie ein
genialisches Spiel; diese haben Geist, jene zum Geiste auch
noch Gemüth; jene treiben alles mit redlichem Fleiss und
Ernst, diese lieben es, sich im Geleise ihrer glücklichen Natur
gehen zu lassen; bei jenen ist das Volk im Ganzen bildsam,
und alle Bildung ist volksthümlich , bei diesen scheiden sich
die gebildeten Stände vom Volke und machen es zum blinden
Werkzeug ihrer Pläne (S. 327 flf.). Nur bei den Deutschen
findet sich noch Ursprünglichkeit und Liebe zur Freiheit, nur
bei ihnen Glaube an Freiheit und an ein ewiges ^Fortschreiten
unseres Geschlechts: alle ursprünglichen Menschen, wenn sie
als Volk betrachtet werden, sind das Urvolk, das Volk schlecht-
weg, sind Deutsche. Alle dagegen, die sich darein ergeben,
ein zweites und abgestammtes zu sein, ein blosser Anhang
eines ursprünglicheren Lebens, ein vom Felsen zurücktonender
Nachhall einer schon verstummten Stimme, alle diese sind
Fremde und Ausländer. „Was an Geistigkeit und Freiheit
dieser Geistigkeit glaubt und die ewige Fortbildung dieser
Geistigkeit durch Freiheit will, das, wo es auch geboren sei
und in welcher Sprache es rede, ist unsers Geschlechts, es
gehört uns an und es wird sich zu uns thun. Was an Still-
stand, Bückgang und Girkeltanz glaubt, oder gar eine todte
Natur an das Ruder der Weltregierung setzt. (ein Hieb gegen
Schelling und die Naturphilosophie), dieses, wo es auch ge-
boren sei, und welche Sprache es rede, ist undeutsch und
fremd für uns , und es ist zu wünschen , dass es je eher je
lieber sich gänzlich von uns abtrenne" (S. 374 flf.). Es wäre
übel angebracht, hier mit dem Philosophen über die geschicht-
liche Richtigkeit seiner Behauptungen zu rechten: das gehört
gerade zu seiner eigensten Natur, dass er sich bei dem ge-
schichtlichen als solchem nicht beruhigt, sondeiii jedes gegebene
zur Darstellung eines allgemeinen Begriffs idealisirt; es hiesse
die Bedüi-fiiisse jener Zeit verkennen, wenn man einem Fichte
oder Arndt oder sonst einem von ihren Gesinnungsgenossen
die nationale Selbstüberhebung vembeln wollte, die sich in
als Politiker. 189
ihren Schriften ausspricht: unser Volk hatte es in der That
nöthig, dass es sich für mehr hielt, als es war, dass es nach
dem höchsten griff und das grösste sich zutraute, wenn es
sich aus der tiefsten Entwürdigung auch nur zu dem erheben
wollte, was es ohne alle Frage sein konnte. Und hiefOr dient
auch Fichte seine hohe Ansicht von den Deutschen. Weil das
deutsche Volk das einzige wahrhafte KultuiTolk ist, weil Ur-
sprünglichkeit und Freiheit, wahre Geistesbildung und Sitt-
lichkeit, ächte Religiosität und Wissenschaft nur bei ihm zu
finden sind, ist das Schicksal der Menschheit an sein Schicksal
gebunden, und so unfehlbar die Menschengeschichte ihrem
5Sel entgegenschreitet, so unfehlbar muss das Volk erhalten
bleiben, das sie allein auf diesen Weg führen kann. Das
Mittel zu seiner Erhaltung wird aber nur in dem liegen
können, woiin seine Grösse und sein eigenthümlicher Vorzug
überhaupt liegt. Die allgemeinste und planmässigste Ent-
wicklung der deutschen Eigenthümlichkeit , die Heranbildung
des ganzen Volkes zur Freiheit, zur Selbstthätigkeit, zur Sitt-
lichkeit, zu wahrhafter Erkenntniss und zu einem auf klarer
Erkenntniss ruhenden Handeln — mit Einem Wort, eine
durchgi-eifende , von festen philosophischen Gnindsätzen ge-
leitete, planmässige Nationalerziehung der Deutschen ist das
Heilmittel, welches Deutschland aus den Fesseln der Fremd-
herrschaft, unser ganzes Geschlecht aus der Gefahr des Ver-
wildems und Vorkommens erretten soll. — Die Philosophie,
welche Fichte dieser Volkserziehung zu Gninde gelegt wissen
will, ist natürlich seine eigene; denn wie er in Kant den
Begründer der wahren Philosophie verehrt, so ist er über-
zeugt, dass er selbst der einzige sei, der Kant verstanden
und sein Werk im rechten Sinn fortgesetzt habe; und wie er
nun die praktische Bedeutung und Wirkung der Philosophie
stark zu überschätzen gewohnt ist, so scheut er sich nicht,
von jener allein wahren Lehre zu versichern, dass sie „die
Schöpfung erst geendet, die Menschheit auf ihre eigenen Füsse
gesetzt und sie von aller Bevormundung durch das Ungefähr
190 Johann Gotdieb Fichte
mündig erklärt habe''*). Den richtigen pädagogischen Stand-
punkt aber, sich immer an die Selbstthätigkeit des Zöglings
zu wenden, nichts bei ihm durch mechanisches Anlernen, alles
durch Anwendung und Entwickelung seiner eigenen Kräfte zu
bewii'ken, hat zuerst, wie Fichte glaubt, Pestalozzi gefunden»
Fragen wir weiter, wie sich Fichte's Forderung in einem
Volke durchführen lasse, so verlangt der Philosoph hiefiir
eine durchgreifende Verdrängung der Familienerziehung durch
die öffentliche. Als ihr letztes Ziel endlich und ihre unaus-
bleibliche Folge betrachtet er eine Herrschaft des Lehrstandes,
deren bestimmtere politische Form (Wahlmbnarchie oder Ari-
stokratie) ihm selbst zu überlassen sei. Es sind diess ähn-
liche Vorschläge , me die der platonischen Bepublik. Auch
hier soll ja dem drohenden Untergang eines Volkes durch
die Erziehung auf wissenschaftlicher Grundlage vorgebeugt
werden; für diesen Zweck wird alle Staatsgewalt den Philo-
sophen in die Hand gegeben , und mit 'dem Familienleben
wird auch die Familienerziehung aufgehoben. Soweit der pla-
tonische Idealismus in seinem wissenschaftlichen Charakter
von dem fichte'schen abliegt, so nahe berührt er sich mit ihm
in seinen politischen Ideen. Doch sind Fichte's Vorschläge
theils an sich selbst massvoller als die platonischen, theils
wird auch ihre Verwirklichung nicht von Zwang oder gewalt-
samem Umsturz, sondern von der allmählich wirkenden Kraft
der Ueberzeugung erwartet. In diesem Sinne war es, dass
sich Fichte für die Stiftung der Berliner Universität begeisterte,
zu deren eifirigsten Förderern er gehört hat : ein neues besseres
Geschlecht sollte herangebildet, das deutsche Volk sollte durch
Wissenschaft und Erziehung verjüngt werden; dann erst^
glaubte Fichte, sei auf einen erfolgreichen Kampf gegen seine
Unterdrücker zu hoffen. Die Generation, der er selbst an-
gehörte, gab er verloren, nur für die kommende Zeit wollte
er zu bessei*en Zuständen den Giund legen.
*) Gespr. üb. Patriot Nachg. WW. m, 231. AehnHches findet sich
aber sowohl m den Beden an die deutsche Nation als anderwärts öfters»
als Politiker. 191
Es war ein Glück für Deutschland, dass das Schicksal,
gegen unser Volk gütiger als gegen .die Griechen, mit seiner
politischen Wiederherstellung nicht gewartet hat, bis die Ideen
des Philosophen verwirklicht wären. Fichte selbst hat zwar
diese Ideen nie aufgegeben; diess hielt ihn aber natürlich
keinen Augenblick ab^ sich an dem Befreiungskampf des Jahres
1813 mit der vollen Entschiedenheit seines Wesens zu be-
theiligen. Auch durch persönliche Dienstleistung wünschte er,
wie i. J. 1806, sich nützlich zu machen, indem er das Haupt-
quartier als Feldprediger begleitete; doch wui-de dieses Aner-
bieten diessmal so wenig, wie früher, angenommen. Um so
mehr suchte er, soweit der Kriegsdienst noch eine Zuhörer-^
Schaft übrig gelassen hatte , durch Vorlesungen zu wirken , in
denen er nach seiner Weise die augenblickliche Lage aus all-
gemeineren Gesichtspunkten zu betrachten, die nothwendigen
Entschlüsse durch deutliche Begriffe zu befestigen, die Be-^
geisterung über sich selbst aufzuklären und durch diese Selbst-
erkenntniss zu veredeln sich bemühte. In den Vorträgen
„über die Staatslehre oder das Verhältniss des Urstaates zum
Vemunftreiche" (Sommer 1813) werden nicht blos die früheren
Gedanken über Nationalerziehung und Staatsverfassung, über
das Ziel der Geschichte und die Bestimmung unseres Volkes
(wie theilweise schon firiiher in der Kechtslehre von 1812)
wiederholt, sondern sie werden auch durch Untersuchungen,
welche sich unmittelbar auf die Zeitlage beziehen, erweitert.
Fichte spricht über gerechten und unrechtmässigen Krieg; er
erkennt als einen gerechten allein den Volkskrieg, in dem es
sich um die Erhaltung und die höchsten Güter einer Nation
handelt; er fordert, dass in einem solchen Kiiege schlechthin
alles geopfert, dass er von jedem Einzelnen und von dem
Ganzen mit Anspannung aller Kräfte, als ein Kampf auf Leben
und Tod, ohne Friede oder Vergleich geführt werde. Er
spricht mit tiefer Verachtung von jener erbärmlichen Schwäche^
welche früher Preussens jähen Fall herbeigeführt hatte; er
verlangt, dass man die Charakterkraft und die Hülfsmittel
des Feindes nicht unterschätze, dass man sich ihm gegenüber
I
«
192 Johann GoUlieb Fichte
auf die äussersten Anstrengungen gefasst mache. Napoleon
ist ihm der Mann , in dem alles böse , gegen Gk)tt und Frei-
heit feindliche, was seit Beginn der Zeit von aUen Tugend-
haften bekämpft worden, in dem aber auch alle Kraft des
Bösen zusammengedi'ängt ist. Er ist eine Ruthe in der Hand
Gottes, aber freilich nicht dazu, „dass wir ihr den entblössten
Rücken hinhalten, um vor Gott ein Opfer zu bringen, wenn
«s recht blutet, sondern dass wir dieselbe zerbrechen" (WW.
IV, 417 ff.). Alle Bestandtheile menschlicher Grösse sind in
ihm: der klarste Verstand, der unerschütterlichste Wille,. die
vollkommene Kenntniss der Nation, über die er sich der
Herrschaft bemächtigt hat. Er wäre der Wohlthäter und
Befreier der Menschheit geworden , wenn auch nur eine leise
Ahnung ihrer sittlichen Bestimmung in seinen Geist gefallen
wäre; jetzt ist er ihre Geissei. Von Einer grossen Leiden-
schaft beherrscht, setzt er alles für seine Herrschaft ein; alle
Schwächen der Menschen werden seine Stärke: wie ein Geier
schwebt er über dem betäubten Europa, lauschend auf alle
falschen Massregeln und Schwächen, um flugschnell herab-
zustürzen und sie sich zu Nutze zu machen. Die Schwächen
anderer Herrscher wandeln ihn nicht an; sein Leben und
alle Bequemlichkeit desselben setzt er daran: er will Herr
der Welt sein , oder nicht sein. Auf beschränkende Verträge
lässt er sich nicht ein, Ehre und Treue sind für ihn nicht
vorhanden; es giebt nichts, was ihm Einhalt thun kann, als
eine Stärke, die der seinigen überlegen ist. Was bisher
gegen ihn aufgetreten ist, hatte einen bedingten Willen, blos
berechnende Klugheit; zu besiegen ist sein absoluter Wille
nur durch einen absoluten Willen, seine Begeisterung für die
Hen-schaft nur durch die stärkere für die Freiheit (S. 426 flf.).
So schildert Fichte den Gegner, und wer möchte läugnen,
dass die Schilderung zutrifft? So fasst er die Aufgabe des
grossen Kampfes auf, und man wird ihm zugestehen müssen,
dass er sein Ziel begriffen, dass er männlich dafür mitge-
wirkt hat. Sein Ende sollte er nicht erleben. Fichte's Gattin
ward bei der Pflege von Verwundeten, zu der er selbst sie
als Politiker. 193
ermuntert hatte, vom Lazarethfieber ergiiflfen. Sie genas,
aber sie übertrug die Krankheit auf ihren Mann, der ihr
am 27. Jan. 1814 erlag. Einen seiner letzten lichten Augen-
blicke hatte die Nachricht von Blüchers Eheinübergang und
dem raschen Vordringen der Verbündeten in Frankreich ver-
schönert. Er starb, wie sein Geistesverwandter Schiller, in
voller Manneskraft und mit Plänen für bedeutende Arbeiten
beschäftigt: er hatte das 52. Lebensjahr noch nicht vollendet.
Aber fast möchte man das Geschick preisen, dass es ihm die
Täuschungen det nächstfolgenden Periode erspart hat, dass
er davon verschont blieb, die Früchte der heiTliehsten Volks-
erhebung von dem Unverstand vergeudet, von der Erbärm-
lichkeit und der Selbstsucht vergiftet zu sehen; dass er die
bittere Erfahrung nicht machen dui-fte, welche so manche
von den Besten in Deutschland in einer traurigen Zeit der
Keaktion gemacht haben: für die reinste und vollste Hin-
gebung an die vaterländische Sache mit Kränkung und Ver-
folgung belohnt zu werden; dass er die Schmach nicht er-
lebte, das kühne Manifest der Freiheitskriege, die Reden an
die deutsche Nation, auf dem Schauplatz ihres Ruhmes ge-
ächtet, seinen Namen neben dem Schleiermachei-s auf die
Liste der Uebelgesinnten gesetzt zu wissen. Nachdem er für
sein Volk und für die Menschheit gelebt hatte, ist er noch
in der Blüthezeit der vaterländischen Begeisterung in ihrem
Dienste gestorben.
Sein philosophisches System ist schon längst von jüngeren
und reiferen Leistungen überholt Auch seine politischen
Theorieen werden so, wie er sie aufgestellt hat, keinen An-
hänger mehr zählen. Aber noch lange Jahre wird man auch
da, wo man ihm widersprechen muss, und vielleicht da gerade
am meisten, von ihm lernen können, und wenn der Schrift-
steller je vergessen werden könnte, wäre immer noch der
Mann werth, dass sein Andenken stets auf's neue aufgefrischt
.werde. Die Menschen sind selten, welche das Gute so un-
verfälscht und kräftig wollen, wie Fichte; welche so ganz im
Aether der Idee leben, die Bergluft der Freiheit so rein
Zeller, Vorträge und Abhandl. ]^3
' - : .j:i'^jß
' '*
I
194 Johann Gk>ttlieb Fichte als Politiker.
athmen; welche sich einer Sache so rückhaltslos hinzugeben,
so rastlos in ihrem Dienst zu arbeiten, so furchtlos für sie
einzustehen die Willensstärke besitzen. Mit einem solchen in
Berührung zu treten, darf niemand bereuen, und wer immer
ihn unbefangen auf sich wirken lässt, der wird schliesslich,
wenn er von innerer Noth oder von äusserer Gewalt bedrängt
ist, mit den Worten des Dichters dankbar und gekräftigt aus-
rufen können: „Weg die Fessehi! Deines Geistes hab' ich
einen Hauch verspürt".
8.
Friedrich Schleiermaoher.
Zum zwölften Febroar.
Der zwölfte Februar hat zweimal in diesem Jahrhundert
der deutschen Wissenschaft Männer von epochemachender
Grösse geraubt. Den 12. Februar 1804 starb Immanuel
Kant; an demselben Tage, dreissig Jahre später, Friedrich
Schleiermacher. Der eine ist der Beformator unserer
Philosophie, der andere der unserer Theologie ; und beide sind
diess auf analogem Wege geworden, und nehmen zu ihren
Vorgängern und Nachfolgern eine analoge Stellung ein. Wie
Kant die Philosophie seiner Zeit z\nschen der leibniz-wolffi-
schen Metaphysik und dem englisch-französischen Empirismus
getheilt fand, so fand Schleiermacher die Theologie zwischen
Supranaturalismus und Rationalismus getheilt. Wie jener den
Streit der philosophischen Standpunkte auf kritischem Wege, —
durch Bestimmung der Grenzen, innerhalb deren jeder von
beiden berechtigt sei, und des Beitrags, den jeder für unser
Erkennen leiste, — zu schlichten suchte: so sehen wir auch
diesen bemüht, die richtige Mitte zwischen Supranaturalismus
und Rationalismus, zwischen der „mystischen" und der „em-
pirischen" Auffassung des Christenthums , zwischen „Doketis-
mus" und „Ebjonitismus", „Manichäismus" und „Pelagianismus"
zu finden, indem er untei-sucht, inwieweit jedes von diesen
13*
r
196 Friedrich Schleiermacher.
Elementen berechtigt , in welcher Weise und in welchem Mass
es durch das entgegengesetzte zu beschränken und zu er-
gänzen sei. Wie aber bei Kant diese kritische Scheidung
und Verknüpfung der philosophischen Piincipien dadurch be-
dingt ist, dass er sie auf das menschliche Selbstbewusstsein^
als ihre einheitliche Wurzel, zurückführt, so erkannte Schleier-
macher in dem religiösen Bewusstsein die Quelle, auf welche
alle dogmatischen Vorstellungen und Standpunkte zurückzu-
führen sind , die Norm , an dey ihre Wahrheit und Geltung
zu messen ist Auch daiin gleichen sich endlich die beiden
Männer, dass ihre geschichtliche Bedeutung weit über die
Grenzen ihrer Systeme und Schulen hinausgeht. Wie Kant's
ächteste Schüler nicht diejenigen gewesen sind, welche beim
kantischen Eriticismus als solchem stehen blieben, sondern
die, welche ihn über sich hinaus fortbildeten, nicht die Schulze,
Jacob , Kiesewetter u. s. w., sondern die Reinhold, Fichte,
Schelling und Hegel: so ist auch Schleiermacher nicht von
denen am gründlichsten verstanden worden, und er hat nicht
durch die am bedeutendsten gewirkt, welche an den Formeln
seiner Dogmatik festhielten, sondern weit mehr durch die-
jenigen, welche diese mit aller Schärfe geprüft, die Wider-
sprüche in seinem System aufgedeckt, die unvereinbaren Be-
standtheile desselben zersetzt, seinen Buchstaben durch seinen
Geist widerlegt, und ebendamit auch seinen Geist weiter, als
Schleiermacher selbst es vermocht hatte, entwickelt haben.
Und wie Kant nicht blos die Philosq)hie, sondern di^ -ganze
Bildung des deutschen Volkes, sein wissenschaftliches, sitt-
liches und religiöses Leben, mit neuen geistigen Kräften be-
fruchtet hat, so geht auch Schleiermachers Einüuss so wenig,
als der Werth imd Gehalt seiner Persönlichkeit, in seinem
dogmatischen System auf.
Schleiermacher war nicht allein der grösste Theologe,
welchen die protestantische Kirche seit der ßeformationszeit
gehabt hat; nicht allein der Kirchenmann, dessen grosse Ge-
danken über die Vereinigung der protestantischen Bekennt-
nisse, über eine fi-eiere Kirchenverfassung, über die Rechte
Friedrich Schleiermacher. 197
der Wissenschaft und der religiösen Individualität trotz alles
Widerstandes sich durchsetzen werden, und eben jetzt aus
tiefer Verdunklung sich auf's neue zu erheben begonnen haben;
idcht allein der geistvolle Prediger, der hochbegabte, tief
wirkende, das Herz durch den Vei-stand imd den Verstand
durch das Herz bildende Religionslehrer: Schleiermacher war
auch ein Philosoph, der ohne geschlossene Systemsform doch
die fruchtbarsten Keime ausgestreut hat; ein Alterthumsfor-
«eher, dessen Werke für die Kenntniss der griechischen Philo-
sophie von epochemachender Bedeutung sind; ein Mann end-
Mch, der an der staatlichen Wiedergeburt Preussens und
Deutschlands redlich mitgearbeitet, der im persönlichen Ver-
kehr auf unzählige anregend, erziehend, belehrend eingewirkt,
der in vielen ein ganz neues geistiges Leben wach gerufen hat.
Eine so vielseitige Individualität lässt sich noch weniger,
als jede andere, mit einer allgemeinen Formel, welche es auch
sei, umfassen: sie lässt sich nur geschichtlich, aus der Ge- ,
sammtheit der Bedingungen, unter denen sie sich entwickelt
hat, verstehen.
Was uns nun an dieser Individualität vor allem entgegen-
tritt, das ist eine in ihrer Art einzige Verbindung entgegen-
gesetzter und scheinbar widersprechender Eigenschaften. Neben
einer vielseitigen Empfänglichkeit eine haarschaii ausgeprägte
EigenthümUchkeit ; neben einem tiefen, leicht erregbaren und
feinen, allem, was den Menschen ergreifen kann, offenstehenden
Gefühl ein eindringender, zersetzender Verstand; neben einer
lebendigen, wannen, oft fast überschwänglichen Begeisterung
€ine immer wache, selbstbewusste, jeden Schritt seines inneren
Lebens begleitende Reflexion; neben einer rastlosen, viel-
geschäftigen Beweglichkeit ein fest zusammengefasster , mit
ruhiger Sicherheit in sich beharrender Wille. Wir müssen
annehmen, dass diese Eigenschaften schon ursprünglich in
Schleieimachers Natur angelegt waren, auch noch ehe er sie
durch die Arbeit und Erfahrung seines Lebens zum Charakter
entwickelt hatte ; wogegen ihm manche sonstige Begabung ohne
Zweifel von Anfang an in geringerem Masse verliehen war.
' 19g Friedrich Schleiermacher.
Um z. B. ein Dichter oder ein Künstler zu werden, hätte er
mit einer reicheren Fülle der anschauenden Phantasie, mit
mehr Unmittelbarkeit und weniger Beflexion ausgerüstet sein
müssen ; so wie er war , konnte er wohl wissenschaftliche und
rednerische, aber keine dichterischen Kunstwerke hervorbringen.
Zu dieser Naturanlage kommen sodann die mannichfachen
Einwirkungen der Lebens- und Bildungsverhältnisse , die
Schleiermacher durchlief. Die verständige Liebe seiner Mutter^
die strenggläubige und doch von der kantisch^n Philosophie
nicht unberührt gebliebene Denkwelse des Vaters, die sitt-
liehe Tüchtigkeit beider konnte schon in dem Knaben einen
guten Grund legen. Die Brüdergemeinde, der er von Hause
aus angehörte, und deren Erziehungsanstalten ihn beim ersten
Beginn des Jünglingsalters aufnahmen, hat auf die Entwicke-
lung seines religiösen Gefühls so nachhaltig eingewirkt, dass
er selbst nodi in späteren Jahren sich als einen „Hermhuter
.höherer Ordnung" bekennen konnte; zugleich lernte er aber
auch hier durch eigene schwere Erfahrung die Fesseln kennen,
in welche eine engherzige, weltscheue Frömmigkeit einen
höher strebenden Geist schlägt. Dass er diese Fesseln zer-
sprengte , dass sich bald nach dem Beginn seines neunzehnten
Lebensjahres sein Austritt aus der Biildergemeinde entschied,
diess hatte er nächst dem eigenen Nachdenken hauptsächlich
den Anregungen zu verdanken, mit welchen das klassische-
Alterthum seinen empfänglichen Geist befruchtete; und auch
füi- seine weitere Entwickelung waren die Alten, und Plato
vor allen, dem er in so mancher Hinsicht wahlverwandt ist,
von der eingreifendsten Bedeutung. Dazu kamen weiter die
neueren Philosophen, Leibniz und Spinoza, imd späterhin
Schelling, Kant, Fichte und Jacobi, während er gleichzeitig
als Theolog den kiitischen Geist eines Lessing und Semler in
sich aufnahm. In der Folge -^ seit dem Jahre 1797 — trat
er mit F. Schlegel und den Freunden desselben in einen Ver-
kehr, dessen Spuren nicht blos in dem hervortreten, was an
Schleiermachers ethischer und religiöser Weltansicht romantisch
zu nennen ist, sondern auch in dem Ernst, mit dem er die
Friedrich Scbleiermacher. 199
VeriiTungen der Eomantik in sich selbst niedergekämpft, und
ihre phantastischen Neigungen durch klare Verständigkeit
überwunden hat. Nehmen wir dazu die wissenschaftlichen
Studien des Theologen, die Anfordeioingen und Bückwirkungen
des Predigtamts, welchem sich Schleiermacher von Anfang an
aus eigenem Bedürfhiss, mit Liebe und Eifer gewidmet hat;,
schlagen wir auch jene vielen und theilweise sehr engen per-
sönlichen Verbindungen nicht zu gering an, die er namentlich
mit geist- und gemüthvoUen Frauen unterhielt, so werden
wir uns eine ungefähre Voi-stellung von den Bildungsstoflfen
machen können, welche der vielseitige Mann in sich ver-
arbeitet, von den Elementen, deren vereinigte Wirkung ihn
gezeitigt hat.
Hier soll jedoch dieser Bildungsprocess *) nicht weiter
verfolgt, sondern es soll nur der Versuch gemacht werden, in
kurzen Zügen ein Bild seiner wissenschaftlichen Eigen|-
thümlichkeit und seines Systems zu entwerfen.
In den ersten Zug dieses Bildes werden sich nun auch
diejenigen leicht finden, welche bisher Schleiermachers wissen-
schaftliche Bedeutung nur von weitem beachtet haben. Nie-
mals hat Schleiermacher die religiöse und theologische Grund-
lage seiner Bildung verlassen oder verläugnet. In jener Zeit
der Zweifel, da er sich unter inneren Wehen von der Brüder-
gemeinde und der überlieferten Dogmatik losrang, dachte er
allerdings daran, sich dem Lehrfach zu widmen, wenn sich
seine Ueberzeugungen nicht änderten; aber Theologie wollte
er doch studiren, schon um mit sich selbst in's reine zu kom-
men, und als er sie studirt hatte, fand er keinen Grund, sich
etwas anderes als die Predigerthätigkeit zu wünschen. A1&
er in Berlin mit der Jüdin Henriette Herz in täglichem Ver-
kehr stand und für F. Schlegel schwärmte, war er Prediger
an der Charite; kurz vor den Briefen über die Lucinde er-
*) Der uns jetzt im ersten •Theil von Dilthey's Leben Schleier-
machers, so weit diess überhaupt möglich war, nach den urkundlichsten
Quellen sorgfältig dargelegt ist.
200 Friedrich Schleiermacher.
schien von ihm ein Band Predigten, und mitten aus seiner
romantischen Periode heraus schrieb er die Reden über die
Religion, mit der ausgesprochenen Absicht, die Gebildeten des
Jahrhunderts zur Frömmigkeit zurückzuführen. Diese Fröm-
migkeit war nun allerdings damals weniger positives Christen-
thum, als philosophische Mystik ; oder genauer : das Christliche
darin hatte sich auf die elementare Gestalt des Gefühls zu-
rückgezogen, es war ein Christenthum ohne Dogmatik, und
selbst der Mittelpunkt des späteren schleiermacher'schen Sy-
stems, die Person Christi, ist dem Redner noch keineswegs
unentbehrlich. Das wesentliche im Christenthum ist ihm hier
erst die Idee, dass alles Endliche einer höheren Vermittelung
bedürfe, um mit der Gottheit zusammenzuhängen; von Christus
dagegen heisst es, er habe sich nie für den einzigen Mittler
ausgegeben, nie verlangt, dass man um seiner Person willen
seine Idee annehme, sondern umgekehi-t um dieser willen auch
jene; und demgemäss erklärt denn auch Schleiermacher folge-
richtig, wer von demselben Hauptpunkte mit Christus ausgehe,
der sei ein Christ, möge er auch historisch seine Religion aus
sich selbst oder von irgend einem andern ableiten; ob dem
Einzelnen Christus als Mittler genüge, oder ob er Heilige als
solche neben ihn stelle, oder sich selbst oder diess und jenes
für sich zu Mittlern erkläre, — das Princip sei acht christlich,
so lange es frei sei. So wird auch von den „heiligen Schriften"
gesagt, sie seien Bibel geworden aus eigener Ki-aft, aber sie
verbieten keinem anderen Buche, auch Bibel zu sein oder zu
werden. Und von dem Christenthum im ganzen wird ver-
sichert, es begehre durchaus nicht, die einzige Gestalt der
Religion in der Menschheit zu werden, es verschmähe diese
beschränkende Alleinherrschaft, es würde gern andere und
jüngere , wo möglich kräftigere und schönere Gestalten der
Religion neben sich hervorgehen sehen. Aber dennoch sind
diese Reden nicht allein vom Geist der Frömmigkeit, sie sind
auch vom Geist des Christenthum« durchdrungen. Hat auch
die Person Christi hier noch nicht die gleiche Bedeutung für
Schleiermacher gewonnen, wie später, so ist es doch im übrigen
Friedrich Schleiermacher. 201
nicht schwer, die leitenden Gedanken seiner Dogmatik schon
in den Reden zu erkennen: das absolute Abhängigkeitsgefühl,
den Gegensatz der Sünde und Gnade, die allgemeine Erlösungs-
bedürftigkeit, die Nothwendigkeit der religiösen Gemeinschaft,
den Determinismus und zugleich den Universalismus der Er-
wählungslehre. Schleiermacher ist selbst in seiner romantischen
Periode wesentlich Theolog imd zwar christlicher Theolog.
Seine Theologie hat aber freilich einen anderen Charakter
als die der gewöhnlichen Theologen. Die Religion , so wie er
sie auffasst, hat es nicht mit einem besonderen Gebiete neben
anderen zu thun; die Beziehung des Menschen zur Gottheit
betrifft nicht blos einen Theil seiner Lebensthätigkeiten , so
dass sie andere ausser sich hätte, sondern das Ganze: alle
gesunden Gefühle sind religiöse, alles, was der Mensch thut,
und alles, was ihm widerfährt, kann und soll unter den reli-
giösen Gesichtspunkt gestellt werden, seine ganze Persönlich-
keit soll vom Geist der Frömmigkeit durchdrungen, eben
desshalb aber auch schlechterdings nichts, was in den Bereich
seines persönlichen Lebens fällt, vom Gebiet der Religion aus-
geschlossen sein. Der Gegensatz des Religiösen und Nicht-
religiösen, des Geistlichen lind Weltlichen, des Christlichen
und Nichtchristlichen liegt nach Schleiermacher nicht in den
Gegenständen, sondern nur in der Art, wie wir sie behandeln,
und nur der Mangel an wahrer Frömmigkeit, nur eine un-
fi-omme Engherzigkeit kann uns einzelnes als ein solches
erscheinen lassen, was mit unserem religiösen Leben in keinem
Zusammenhang stände und einer religiösen Auffassung un-
würdig oder unfähig wäre. Auch der Theolog wird sich daher
nicht darauf beschränken dürfen, sein besonderes Fach als
ein besonderes zu betreiben; seine höhere Aufgabe wird viel-
mehr gerade darin bestehen, dass er die Religion, in richtiger
Erkenntniss ihres Wesens, in alle Beziehungen des mensch-
lichen Lebens einführe; dass er alles Wirkliche in ihrem Lichte
betrachte; dass er die religiöse Idee zu einer umfassenden
Weltanschauung entwickle. Die Theologie darf sich, mit
Einem Wort, auf diesem Standpunkt mit der sonstigen Wissen-
202 Friedrich Schleiermacher.
Schaft und Bildung nicht blos nicht in Widerspruch setzen,
sondern sie muss dieselbe auf's umfassendste in sich auf-
nehmen ; und hat sie es zunächst freilich nur mit dem reli-
giösen Leben zu thun, gehören insofern philosophische, natur-
wissenschaftliche, philologische, historische Untersuchungen als
solche nicht in ihren Bereich, so darf doch dem Theologen
keines von diesen Gebieten fremd bleiben, weil er sonst un-
möglich der Aufgabe genügen könnte, alles Menschliche
religiös zu behandeln : nur die vielseitigste Bildung macht eine
Theologie, wie sie Schleiermacher verlangt, möglich.
Diese Grundsätze wurzeln tief in Schleiermachers Natur
und Entwicklung. Ein so beweglicher, ftür die mannichfaltigsten
Anregungen so empfänglicher Geist konnte sich nicht in der
herkömmlichen Weise auf ein Fachstudium beschränken; eine
so einheitlich angelegte, so fest in sich geschlossene Indivi-
dualität konnte ebensowenig die verschiedenen Bildungselemente^
welche sie in sich au&ahm, zusammenhangslos neben einander
liegen lassen, ohne sie auf einen bestimmten inneren Einheits-
punkt zu beziehen. Dass aber dieser Einheitspunkt für ihn
die Religion war, dass er dieser „Virtuose der Frömmigkeit **
wurde, der er gewesen ist, dafür wirkte sein ganzer Bildungs-
gang mit seiner Naturanlage zusammen. War er doch gerade
in den entscheidenden Jahren des Uebergangs vom Knaben
zum Jüngling Zögling einer Gemeinde, welche alles in der
Welt, kleines und grosses, aus religiösen Gesichtspunkten zu
betrachten und unmittelbar auf den göttlichen Willen zurück-
zuführen gewohnt war, in welcher das religiöse Gefühlsleben
mit einseitiger Innigkeit gepflegt wurde; war ihm doch später
dui-ch seine Theologie und sein Predigtamt fortwährend die
Aufforderung gegeben, an allem die religiösen Beziehungen
hervorzukehren. Schleiermacher ist der religiösen Weltansicht,
welche ihn in seiner Jugend beherrscht hatte, auch als Mann
treu geblieben, aber er hat sie weit über die Schranken hinaus
erweitert, innerhalb deren er sich damals bald so beengt fühlte.
Die Religion blieb ihm eine Sache des Gefühls, wie sie ihn
zuerst in der Gestalt eines fi-ommen Gefühlschristenthums tiefer
Friedrich Schleiennacher. 203^
ergriflfen hatte ; aber statt sich auf den engen Kreis der hei-m-
hutischen Theologie zu beschränken, schloss sich sein religiösem
Gefühl mit der umfassendsten Empfänglichkeit der Welt auf,
um sich von allem zu nähren, was sich ihm grosses und schönes
darbot. Er fuhr fort, alle Dinge und alle Lebenserfahrungen
der religiösen Auffassung zu unterwerfen, wie er es als Herrn-
huter gethan hatte; aber jetzt nicht mehr, indem er den
fremdartigen Masstab einer positiven Dogmatik an sie anlegte»
sondern indem er mit freiem Sinn gerade in ihrer eigenthüm-
lichen Natur ihre religiöse Bedeutung erkannte. Er wollte
Christ sein, aber eben nur indem er Mensch sei: das Christ-
liche war ihm nicht mehr ein besonderes neben dem allge-
mein Menschlichen, sondern dieses selbst in seiner höchsten
Vollendung. Ebendamit erweiterte sich aber seine Theologie
zur Philosophie, und es waren ihm nicht allein für sein theo-
logisches System, sondern auch unmittelbar für sich selbst,
und insbesondere für die Reinigung, die Erweiterung und die
Stärkung seines religiösen Lebens, die allgemein wissenschaft-
lichen Untersuchungen unentbehrlich, denen er einen so be-
deutenden Theil seiner Geisteskraft gewidmet hat.
Wollen wir nun etwas genauer auf Schleiermachers Phi-
losophie eingehen, so müssen wir vor allem die verschieden-
ai-tigen Bestandtheile unterscheiden, die sich in ihr durch-
dringen. So viel auch die Philosophip dem seltenen Mann zu
verdanken hat: ihm selbst war sie doch weder die einzige
noch die höchste Lebensaufgabe. Für ihn handelte es sich
weit weniger darum, ein philosophisches System aus Einem
Guss zu gestalten, als sich selbst durch Philosophie zu bilden,,
und eine wissenschaftliche Grundlage für seine Theologie zu
gewinnen: er ist als Philosoph Eklektiker, wenn auch einer
der geistreichsten und selbständigsten Eklektiker, die es ge-
geben hat. Näher sind es drei oder vier Elemente, die seiner
philosophischen Weltansicht zu Grunde liegen.
Zuerst jener Pantheismus, der unserem Theologen
schon frühe , trotz aller Protestationen , den Vorwurf des Spi-
nozismüs zugezogen hat. Und der Sache nach nicht mit Un-
V
204 Friedrich Schleiermacher.
recht, so viel Missverstand auch im einzelnen mitunterlief,
^ott und die Welt sind nach Schleiermacher nur vei*schiedene
Ausdrücke für den gleichen Werth: Gott ist das Eine gegen-
satzlose Wesen aller Dinge ; dasselbe Wesen, in der Gesammt-
heit der Erscheinungen sich darstellend, ist die Welt; und es
kann desshalb weder Gott ohne die Welt, noch die Welt ohne
Gott gedacht, es kann auf keiner von beiden Seiten etwas
anderes, als die unabänderliche Nofhwendigkeit des Absoluten,
angenommen werden. Gott ist nicht ein allmächtiger Wille
ausser und über der Welt, der nach freiem Belieben in sie
eingreift, er ist nur das unendliche Wesen der Welt selbst;
Schleiermacher hat nicht blos die Mehrheit göttlicher Eigen-
schaften, nicht blos die Unterschiede des Wissens und Wollens,
des Könnens und des VoUbringens , des Möglichen und des
Wirklichen für Gott geläugnet: er hat in der Persönlichkeit
Gottes auch die Grundvoraussetzung des gewöhnlichen Theis-
mus, mit einer für jeden, der sehen will, unverkennbaren
Bestimmtheit bestritten.*) Er glaubt auch an keine zeitliche
Weltschöpfung, also überhaupt an keine Weltentstehung; er
glaubt nicht, dass der göttliche Wille den Naturzusammenhang
durch Wunder durchbreche, oder der menschliche durch seine
Freiheit über das Gesetz der Naturnothwendigkeit sich erhebe;
«r erwartet von der Vorsehung keine Abänderung des Welt-
laufes, weil sie eben nur das Naturgesetz selbst ist, und er
bestreitet aus diesem Grunde z. B. die Meinung, als ob das
Gebet eine andere Wirkung haben könnte, als die innere auf
das Gemüth des Betenden; er kennt, als Philosoph, keine
Fortdauer des Einzelnen nach dem Tode, und beim Verlust
seines liebsten Freundes weiss er der trostbedürftigen Witwe
*) Eine eingehende Erörterung über diesen Punkt der schleiennacher'-
schen Theologie findet sich in meiner Abhandlung : Erinnerung an Schleier-
machers Lehre von der Persönlichkeit Gottes, Theol. Jahrb. I, 263 ff.
Unter den seitdem erst bekannt gewordenen Aeusserungen des Theologen
vgl. m. namentlich die in dem Brief an Jacobi in Schleierm. Leben in
Briefen ü, 844.
-_r^ i-c
Friedrich Schleiermacher. 20^
(seiner späteren Frau) nur zu sagen, dass es keinen Unter-
gang für den Geist gebe , das persönliche Leben aber sei ja,
nicht das Wesen des Geistes, es sei nur eine Erscheinung^
Es ist nach Schleiermacher Ein unverbrüchliches Band des
Naturzusammenhanges , das alles umschliesst ; der Einzelne ist
nur ein Moment dieses Ganzen ; jedes ist so, wie es an seinem
Ort im Ganzen sein muss, und jedes wirkt so, wie es wirken
muss; von Einem Punkt aus entwickelt sich alles mit unbe-
dingter Nothwendigkeit, und auch das, was uns hässlich, ver-
derblich und schlecht scheint, kann im Weltganzen nicht fehlen r'
die UnvoUkommenheiten des Einzelnen gehören zur Vollkom-
menheit des Ganzen, die unendliche Ursächlichkeit Gottes
kann nur in der unendlichen Mannichfaltigkeit der endlichen
Dinge sich darstellen, die eben desshalb alle Stufen der Voll-
kommenheit, von der niedrigsten bis zur höchsten, einnehmen
müssen; nur aus den vielen verschiedenen Tönen entsteht die
Harmonie des Universums, und keiner von ihnen kann fehlen,.
keiner anders sein, wenn die Welt das sein soll, was sie ist,
die mangellose Oflfenbarung der göttlichen Vollkommenheit.
Es ist diess allerdings nicht reiner Spinozismus, denn das
spihozistische ist bei Schleiermacher vielfach gemildert, belebt
und idealisirt, und es haben auch bei der Bildung dieser
Ansichten noch andere Factoren mitgewirkt: einerseits der
religiöse Vorherbestimmungsglaube der reformirten Dogmatik
und der ergebungsvolle Vorsehungsglaube der Hermhutery
andererseits die ästhetische Weltanschauung der Griechen,
deren hauptsächlichster Ausleger für Schleiermacher Plato ge-
wesen ist, und das leibmzische System, in das ihn schon wäh-
rend seiner Studienzeit Eberhard einführte, mit seiner Lehre
von der prästabilirten Harmonie aller Dinge, der Nothwendig-
keit alles Geschehens und der Vollkommenheit der Welt, in
der diese Nothwendigkeit sich verwirklicht. Aber die Grund-
gedanken gehören unläugbar Spinoza, oder, wenn man lieber
will, der Weltansicht an, welcher unter den neueren Denkern
Spinoza zum schärfsten und rückhaltlosesten Ausdruck ver-
helfen hat.
r-^^:
^06 Friedrich Schleiermacher.
Mit diesem Pantheismus verknüpft sich nun aber bei
Schleiermacher ein zweites Element, welches nach Ursprung
und Charakter von jenem weit abliegt, — der kantische
Xriticismus. Er selbst sagt uns in den Briefen, dass er
Xant eifrig studirt habe, und auch wenn er es uns nicht sagte,
würde ein Blick auf seine Schiiften, und namentlich auf seine
„Dialektik" uns davon überzeugen. Was in diesen Vorlesun-
gen über die Entstehung unserer Vorstellungen und die Gren-
zen unseres Wissens gesagt ist, das lautet so kantisch, dass
«ich neuerdings hieran sogar die schiefe Behauptung ansdüies-
sen konnte, Schleiermacher sei in der Hauptsache nichts an-
deres, als ein Kantianer. „Vermittelst der Sinnlichkeit, hatte
Kant gesagt, werden uns Gegenstände gegeben, durch den
Verstand werden sie gedacht, alles Denken aber muss sich
jzuletzt auf Anschauungen, mithin auf Sinnlichkeit beziehen '';
und er hatte hieraus geschlossen, dass uns von dem unsinn-
lichen Wesen der Dinge, oder dem „Ding an sich", keiije
Vorstellung möglich sei; denn gegeben seien uns die Dinge
immer nur, wie sie sich unserer sinnlichen Anschauung dar-
stellen, mithin als Erscheinung: nur an der Erscheinung habe
daher unser Denken einen Inhalt; sobald wir dagegen über
die Erscheinung hinausgehen , bewegen wir uns nur in leeren
Begriffen, von denen wir nie wissen können, ob und wie viel
ihnen Sein entspreche. Ganz ähnlich erklärt Schleiermacher
in der Dialektik, es seien in allem Denken zwei Functionen
zu unterscheiden: die organische und die intellectuelle ; jene
liefere den Denkstoff, diese die Denkform, jene bringe die
Mannichfaltigkeit der sinnlichen Eindrücke, diese die Einheit,
Sonderung und Bestimmung; keine von beiden könne aber
die andere entbehren, und wie die Mannichfaltigkeit der Em-
pfindung ohne den bestimmenden Gedanken ein verworrenes
Chaos wäre, so wäre der Gedanke ohne die Empfindung eine
leere Einheit, eine Form ohne Inhalt. Und wie Kant hieraus
gefolgert hatte, dass sich das Ueb ersinnliche nicht erkennen
lasse, so folgert Schleiermacher das gleiche in Betreff der
Gottheit. Denn auch unsere höchsten Begriffe führen uns nie
Friedrich Scbleiennacher. 207
über das Gebiet des gegensätzlichen Seins hinaus, aus dessen
Beobachtung sie ursprünglich herstammen; versuchen wir da-
gegen das zu denken, was über allen Gegensätzen liegt, so
verliere unser Denken allen Inhalt und alle Bestinmitheit.
Um die Gottheit zu denken, müssten wir den einheitlichen
Grund alles Seins denken, eben diess können wir aber nicht,
weil alle unsere Vorstellungen auf der Erfahinmg ruhen, die
uns immer nur ein besonderes^ getheiltes, endliches zeige.
Das gleiche gilt aber nach Schleiermacher auch von dem
Willen, welcher uns bei Kant die intelligible Welt öffiien sollte,
die unserem Denken verschlossen sei. Wie sich^eses immer,
zwischen Gegensätzen bewegt, so befindet sich auch jener,
nach Schleiermachers Bemerkung, immer im Zustand streitiger
^ Wollungen". Wir werden also ebenso auch über das wirk-
liche Wollen zu dem einheitlichen Grund desselben hinaus-
getrieben. Hier müssen wir endlich auch für die Zusammen-
gehörigkeit des Seins mit dem Wollen den letzten Grund
suchen. Alles drängt uns so nach dem tiefsten Grund aller
Dinge, nach der Gottheit hin, und doch vermögen wir sie
weder in unserem Denken noch in unserem Wollen wirklich
zu ergreifen.
Es ist nicht schwer, den Widerspruch wahrzunehmen, in
welchen sich Schleiermacher hiemit verwickelt. Wenn Kant
das unsinnliche Wesen der Dinge, oder das „Ding an sich"
für unerkennbar gehalten hatte, so hatte er sich dabei wohl
gehütet, irgend etwas positives über dasselbe auszusagen. Er
hatte es für einen blos problematischen oder Grenzbegiiff
erklärt, mit dem wir eben nur den Punkt bezeichnen, über
den uns unsere Vernunft nicht hinausführe. Anders Schleier-
macher. Dass die Gottheit für uns unerkennbar, ein Ding
an sich sei, diess schliesst er nicht einfach aus der Analyse
unseres Erkenntnissvermögens als solcher, sondern aus der
Beschaffenheit der Begriffe, welche es uns liefert; er sagt
nicht : in dem Gebiete unseres Denkens findet sich der Gottes-
begriff nicht vor, sondern er sucht zu zeigen, dass unsere
höchsten Begriffe der Gottesidee nicht entsprechen. Indem
208 Friedricli Schleiermacher.
er also läugnet, dass wir einen Begriff von Gott haben, setzt
er zugleich, als Masstab seines Urtheils, einen bestimmten
Gottesbegriff voraus. Und so haben wir ja auch gesehen, dass
es eine sehr ausgesprochene Gottesidee, die spinozistische, ist,
welche er seiner Theologie zu Grunde legt.
Wie weiss er nun aber diesen Widerspruch zu lösen , wie
den Verzicht auf eine spekulative Gotteserkenntniss mit seiner
eigenen theologischen Spekulation zu vereinigen ? Die Antwort
liegt für ihn in der eigenthümlichen Bedeutung, welche er
der Persönlichkeit beilegt. Wie er selbst eine scharf und
fest ausgeprägte Individualität war, so nimmt auch in seinem
System die Persönlichkeit eine beherrschende Stellung ein;
wie er in sich selbst das verschiedenartigste zur persönlichen
Lebenseinheit verknüpfte, so ist es auch hier die Persönlich-
keit, welche die auseinanderstrebenden Elemente seiner Welt-
ansicht zusammenhält; wie er aber für sein persönliches Da-
sein, je vielseitiger es sich ausbreitet, nur um so mehr, in der
frommen Anlehnung an ein Höheres und der sittlichen Unter-
ordnung unter ein allgemeines Gesetz den festen Halt sucht,
so kennt auch sein System keine Persönlichkeit, welche nicht
eine Erscheinung des unendlichen Geistes, und welche nicht
ebendesswegen den ihr eingeborenen Keim des Göttlichen zur
sittlichen That und zum Charakter zu entwickeln bestimmt
wäre. Jede Person ist eine eigenthümliche und ursprüngliche
Darstellung der unendlichen Vernunft, ein nothwendiges Er-
gänzungsstück zur vollkommenen Anschauung der Menschheit,
ein Compendium der ganzen menschlichen Natur, ja des Uni-
versums. Es kann daher nicht von uns gefordert werden,
dass wir unsere Individualität unterdrücken, sondern nur, dass
wir sie in ihrem eigenthümlichen Wesen frei ausgestalten,
dass wir das werden, was wir sind. Andererseits aber
können wir diess nur, sofern wir dem Beruf treu bleiben, den
unsere Stellung im Weltganzen uns anweist; denn der Einzelne
ist das, was er ist, immer nur dadurch, dass er an diesen Ort
des Ganzen gestellt ist, und dass die Kräfte des Ganzen in
dieser bestimmten Richtung in ihm wirken. Seiner individuellen^
Friedrich Schleiermacber. 209 '
Natur folgen und dem allgemeinen Gesetz folgen, bedeutet
für Schleiermacher eins und dasselbe, und gerade das ist der
grosse Vorzug seiner Ethik-, gerade darauf beruht nicht zum
geringsten Theil auch seine fruchtbare Wirkung als Prediger
und Religionslehrer, dass er die Rechte der Individualität im
vollen* Mass anerkennt, ohne doch darum der Strenge der
sittlichen Anforderung das geringste zu vergeben, dass er bei
dem entschiedensten Widerspruch gegen* allen Eudämonismus
doch zugleich weit entfernt ist , mit Kant an alle unter-
schiedslos den gleichen Masstab anzulegen, dass er das Sitten-
gesetz in die Individualität einzuführen, diese mit jenem zu
durchdringen, dass er die Sittlichkeit nicht als abstractes
Gebot, sondern als lebendige Kraft, nicht als eine Unter- .
drückung der Natur, sondern als ihre Verklärung durch den
Geist zu fassen weiss. Man wird in dieser starken Betonung
der Persönlichkeit neben dem Einflusg eines Leibniz und
Lessing, eines Fichte und Jacobi, auch den Charakter
der romantischen Schule nicht verkennen. Dabei wird man
allerdings nicht übersehen, wie hoch sich Schleiermacher dui'ch
den Ernst seiner Grundsätze und durch die wissenschaftliche
Strenge seines Verfahrens über die meisten von den Wort-
führern der Romantik erhebt; und man wird zur Erklärung
dieser Vorzüge neben seiner eigenen Tüchtigkeit auf alle die
Elemente hinweisen dürfen, welche ihn vor einer einseitigen
Subjektivität zu bewahren geeignet waren: die tiefe Frömmig-
keit, die ihn beseelte, die grossartige Selbstlosigkeit Spinoza^s,
die Strenge der kantischen und fichte'schen Moral, den klas- •
sischen Geist der griechischen Ethik. Welche hohe Stellung
aber doch der Persönlichkeit in seinem System zukommt,
diess zeigt sich vor allem an de; engen und unmittelbaren
Beziehung, welche er ihr zum Gottesbewusstsein anweist.
In der Persönlichkeit nämlich und im persönlichen Selbst-
b^wusstsein ist nach Schleiermacher das gegeben, was er am
Denken vermisste, ein Organ, um das Unendliche zu ergreifen.
Weder in unserem Wissen noch in unserem Thun können
wir uns desselben bemächtigen, denn beide bewegen sich in
ZeU«r, Vorträge und Abhandl. 24
210 Friedrich Schleiermacher.
GegensätzeB , das böchste Sein aber und das höchste Wissen
ist seblecfathin einfach. Nur unsere Fei'sönlichkeit selbst, nur
inkt unseres Wesens, «elcher alle Seiten
napft, ist das unmittelbare Abbild und
-Stellung des unendlichen Wesens, das
ieios die Gegens&tze desselben in sich
daher in diese tiefete Wurzel unseres
zurückgehen, schauen wir in ihr das
s ursprünglich gegeben im unmittelbaren
- im GefOhl, und eben desshalb muss
slich Sache des Gefühls sein, weil wir
t in ein unmittelbareB Verhältniss zu
Ut jene gefOhlsmässige Auffassung der
nhleiermachers EigenthQmlichkeit so tief
ner ganzen Theologie ihren Charakter
mzen seines Systems ihre wissenschaft-
Dass aber freilich gerade hier ein wunder
nn audi er selbst sich nicht ganz ver-
wir auch nicht untersuchen, ob die
ausschliesslich, wie unser Theolog an-
)esdiränkt ist, wollen wir auch manche
icken, die sich hier aufdrängt, so muss
lelbst zugeben, dass das, was er das
wuBstsein oder Gefühl nennt, in der
ein vorkomme, dass wir uns unseres Ich
immer uur in einer bestimmten Thätig-
mmten Zustand bewusst werden, dass
igiöses Gefühl nie für sieh allein einen
. in seinem wirklichen Vorkommen von
nie> getrennt sei, dass wir nicht den
en, das Gottesbewusstsein zu isoliren,
loses Brüten zu gerathen, dass wir es
1 dem frischen und lebendigen Bewusst-
Auch diese Bestimmung ist allerdings
inem solchen, welcher sich die Gottheit
ihne die Welt, und die Beligion nicht
Friedrich ScUeiennacher, 211
getrennt von dem sonstigen Leben des Menschen zu denken
weiss; aber fbr die obige Ableitung des religiösen Gefühls ist
sie höchst gefährlich. Denn wenn wir den Begiiff der Gott-
heit in unserem Denken desshalb nicht sollen vollziehen kön-
nen, weil es nie aus dem Gebiete der Gegensätze herauskomme,
■
so müsste das gleiche auch von unserem Gefühl gelten; auch
in ihm soll ja das Gottesbewusstsein immer nur an einem
besonderen zum Vorschein kommen, welches ebendamit auch
ein gegensätzliches sein muss. Soll es andererseits an einem
solchen Gottesbewusstsein genügen, welches den Grund alles
Seins an einem anderen ergreift, so haben wir dieses auch in
unseren Begriffen. Wir haben demnach das Absolute in dem
einen Fall nicht mehr und nicht weniger, als in dem andern,
und Schleiermacher selbst giebt diess zu, wenn er in der
Dialektik (S. 152 f.) die Behauptung zurückweist, dass die
Religion in dieser Beziehung ttber der Philosophie stehe.
YoUkommenheit und UnvoUkommenheit , sagt er, seien in
beiden gleich vertheilt, nur nach verschiedenen Seiten, und
der Philosoph bleibe desshalb nicht zurück, weil er wolle, was
ein anderer (der Religiöse) nicht habe. — So bedenklich aber
dieses Zugeständniss auch sein mag: für Schleiermachers
Theologie und für seine ganze Weltansicht ist die Bestimmung,
dass die Religion ausschliesslich Sache des Gefühls sei, von
der eingreifendsten Wichtigkeit Denn nur dadurch wird es
ihm möglich, ihr Gebiet von dem wissenschaftlichen in der
Art zu scheiden, dass er der historischen und philosophischen
Kritik volle Freiheit lassen kann, ohne für die Religion selbst,
für das fromme Gefühlsleben, von ihr zu fürchten; nur darin
liegt für ihn die Rechtfertigung jener freien Universalität,
welche die Religion an keinen einzelnen Gegenstand, an keine
bestimmte Form oder Formel gebunden sieht, sondern jedes
gesunde Gefühl und alles, was ein gesundes Gefühl in uns
hervorrufen kann, in ihren Bereich mit aufnimmt; und wenn
es allerdings zu eng war, sie auf's Gefühl zu beschränken,
80 wird doch dieser Mangel weit überwogen durch das Ver-
dienst, dass es Schleiermacher zuerst wieder, und klarer, als
14*
* --/""^
y
212 Friedrich Schletermacher.
irgend einer vor ihm, zum allgemeinen Bewusstsein gebracht
hat, um was es sich in der Religion eigentlich handelt, und
worin auch die Bedeutung aller religiösen Vorstellungen und
Handlungen in letzter Beziehung zu suchen ist: nicht in einem
Wissen und nicht in einem Thun als solchem, sondern nur in
ihrer Wirkung auf das menschliche Gemüth.
An diese Grundbestimmung schliesst sich nun das meiste
von dem, was Scfaleiermachers religionsphilosophisches und
theologisches System auszeichnet, folgerichtig genug an. Das
religiöse Gef&hl ist GelQihl einer absoluten Abhängigkeit, denn
wie könnte sich der Mensch einer Macht gegenüber, welche
ihn selbst und alle Dinge mit unabänderlicher Nothwendigkeit
beherrscht, anders als abhängig fbhlen? und was bleibt über-
haupt für ein ursprüngliches, mit der Persönlichkeit gegebenes,
Gefühl anders übrig? denn da wir in jedem Gefühl eines
Zustandes, eines Bestimmtseins inne werden, so wird ein Ge-
fühl, das als ursprünglich jeder Selbstthätigkeit vorangeht,
nur das reine Bestimmtwerden, die schlechthinige Abhängigkeit
zum Inhalt haben können. Ebenso wird, wenn wir uns in
der Gottheit den Gegenstand dieses GefQhls vorstellen, der
leitende Gesichtspunkt in dem Begriff der unendlichen Macht,
der „schlechthinigen Ursächlichkeit*' lii^en Müssen; denn aus
der Analyge des absoluten Abhängigkeitsgefühls lässt sich
keine andere Bestimmung ableiten, und dem schleiermacher-
sehen Spinozismus würde keine andere entsprechen, während
ihm zugleich seine kritischen Bedenken gegen die Möglichkeit
einer objektiven Gotteserkenntniss verbieten, von der abso-
luten Ursächlichkeit zu der absoluten Substanz Spinoza's oder
zu irgend einer anderen spekulativen Aussage über die Gott-
heit fortzugehen. Wenn daher unser Theolog in seiner Dog-
matik die ganze Gotteslehre in den Gedanken der schlecht-
hinigen Ursächlichkeit auflöst, wenn er alles, was darüber
hinausgeht, jede Unterscheidung göttlicher Eigenschaftep, jede
„Personification** der Gottheit, als eine subjektive Zuthat ab-
weist, wenn er erklärt, dass die Gottesidee selbst nur das
imbestimmte „Woher unseres absoluten Abhängigkeitsgefühls^,
Friedrich Schleiermacher. 213
d. h. nur die unendliche Ursache bezeichne, von der wir uns
schlechthin bestimmt fühlen, wenn er aber andererseits an
dieser Abhängigkeit auf's allei*strengste festhält, und weder
kleines noch grosses, weder freie noch natürliche Ursachen
irgendwie von ihr auszunehmen weiss, so werden wir uns diess
nach allem bisherigen vollkommen erklären können.
Fragen wir weiter, wie die Religion im Menschen ent-
steht, so liegt einerseits ihre Wui-zel, nach Schleiermacher,
unmittelbar in der menschlichen Persönlichkeit selbst; und
insofern widerspricht er der supranatm-alistischen Vorstellung,
als ob sie nach Ui'sprung und Inhalt etwas übernatürliches
und übervemünftiges sein könnte. Andererseits aber hat sich
die religiöse Anlage in jedem selbstthätig und auf eigenthüm-
liehe Weise zu entwickeln : es giebt keine natürliche Beligion,
sondern nur eine positive. Was sich aber entwickelt, das ist
immer theilweise noch unentwickelt und daher entwickelungs-
bedürftig : das religiöse Leben wird mithin in jedem gegebenen
Augenblick nur unvollständig entwickelt sein, es wird sich in
jedem neben dem Theil seines Wesens, der vom religiösen
Gefühl durchdrungen ist, auch solches finden, das dieser Durch-
dringung noch widerstrebt; oder wie diess Schleiermacher
später theologisch ausgedrückt hat: es wirkt in jedem neben
der Gnade auch die Sünde; und da die Sinnlichkeit in ihrer
EntWickelung dem höheren Leben voraneilt, da das reUgiöse
Gefühl auch bei der normalsten Entwickelimg nur allmählich
der sinnlichen Gefühle sich bemächtigt, so ist zu sagen, der
Mensch stehe zuerst unter der HeiTSchaft der Sünde und erst
nachher unter der der Gnade. Um so nöthiger wird es ihm
dann aber sein, dass sein religiöses Leben durch andere ge-
weckt, genährt, zur Allgemeinheit erweitert werde , und daher
dieser, hohe Werth der religiösen Gemeinschaft für
unseren Theologen. Gerade weil die Beligion als Sache des
Gefühls das individuellste ist, bedarf sie am meisten der Er-
gänzung durch ein Gemeinleben. Wie ist aber eiii solches,
wie ist eine religiöse Mittheilung überhaupt möglich? Nicht
in derselben unmittelbaren Weise, wie diess z. B. bei der
214 . Friedrich Schldermacher.
wissenschafüichen Mittheilung der Fall ist. Gedanken lassen
sich aussprechen, Gefühle lassen sich nur darstellen. Alle
religiöse Mittheilung und Lebensgemeinschaft beruht darauf^
dass der Einzelne durch die Darstellung seiner Gefühle andere
anregt, analoge Gefühle in sich zu erzeugen. Oder wie
Schleiermacher dafür auch sagt: alle religiöse Mittheilung
beruht auf Offenbarung; denn nur dieses, die Darstellung des
Individuellen, nicht eine übematürliche Mittheilung, versteht
er unter der Offenbarung. Im besonderen wird aber von
einer Offenbarung da zu sprechen sein, wo einzelne vermöge
der überwiegenden Kräftigkeit ihres religiösen Lebens einen
grösseren oder kleineren Kreis von Empfänglichen um sich
versammeln, wo sie durch ihre Selbstdarstellung andere an-
regen, ihr religiöses Gefühl in der von jenen vorgebildeten
eigenthümlichen Richtung zu entwickeln, wo es sich, mit !E!inem
Wort, um die Stiftung einer neuen Religion oder Religionsform
handelt. Die religiöse Eigenthümlichkeit des Retigionsstifters
ist der Typus, welcher dem von ihm begründeten Gemeinwesen
seinen Charakter aufprägt. Wie verschieden aber auch diese
Gemeinschaften an Werth und Vollkommenheit, und wie man-
nichfaltig innerhalb derselben die Abstufungen sein mögen,
welche sich in dem religiösen Leben der Einzelnen finden :
sofern es doch immer ein religiöses Leben ist, sofern sich
darin etwas in der menschlichen Natur angelegtes, eine an
und für sich nothwendige Beziehung des Menschen zum Ewigen
verwirklicht hat, hat jeder Einzelne und jedes Gemeinwesen
einen eigenthümlichen ihm zugemessenen Antheil an der Wahr-
heit ; und da nun ferner auch das nicht zufällig ist, wie dieser
Antheil für den Einzelnen ausfällt, da jeder das ist und leistet,
was er an dieser Stelle des Ganzen sein und leisten kann,
da es unmöglich ist, dass jemand im Zusammenhang des
Ganzen anders sein könnte, als er ist, so haben wir uns auch
in religiöser, wie in jeder anderen Beziehung bei der Wirk-
lichkeit schlechthin zu beruhigen, die Welt als Ganzes und
alles einzelne darin in seinem Verhältniss zum Ganzen für
voDkommen zu halten. Mit anderen Worten: es giebt keine
Friedrich Schleiermacher. 215
von Gott verworfenen, sondern nur erwäWte, und wenn nicht
alle zu der gleichen Seligkeit erwählt sind, wenn die Stufen-
reihe der Frömmigkeit und der Seligkeit so unendlich ist,
wie die des Seins, so gehört diese Mannichfaltigkeit gleichfalls
zur Vollkonajnenheit der Welt, und auch darüber kann sich
keiner beschweren, dass er gerade auf diese Stufe gestellt ist;
denn dieser Einzelne ist er nur an diesem Orte: „wenn er
an die Stelle eines, andern träte, und der andere an die seinige,
so wäre dieser jener und jener dieser, und es hätte sich nichts
geändert."
Ich habe im vorstehenden Christi und des Christenthums
nicht erwähnt, und doch habe ich einen grossen Theil von
Schleiermachers christlicher Glaubenslehre seinen Grundzügen
nach dargestellt. Was er als Theolog zu diesen religions-
philosophischen Ansichten hinzugethan hat, das ist nur die
eigenthümliche Anwendung, welche von denselben auf's Christen-
thum und seinen Stifter gemacht wird. Die christliche Religion
zeichnet sich vor allen andern dadurch aus, dass in ihr das
Princip einer in's unendliche fortwachsenden» religiösen Ver-
vollkommnung gegeben ist ; und da wir nun diesen ihren Vorzug
als Christen nur von dem ßeligionsstifter herleiten können,
so muss dem letzteren eine wirklich unbegrenzte religiöse
VoDkommenheit zugeschrieben, er muss als dieses geschicht-
liche Individuum zugleich in religiöser Beziehung urbildlich
gesetzt werden. Einen Beweis dieser Sätze hat Schleiermacher
nicht gegeben und nicht einmal ernstlich versucht: sie sind
für ihn eine religiöse Voraussetzung, ein Postulat seines christ-
lichen Bewusstseins. Wie es mit der wissenschaftlichen Be-
rechtigung dieses Postulats steht, soll hier nicht weiter erörtert
werden; es ist diess von anderen zur Genüge geschehen, und
es ist hier gerade di8 bedenkliche Lücke aufgezeigt worden,
welche den Zusammenhang des Systems durchlöchert, und die
Absicht seines Urhebers, das Christliche zugleich als ein durch-
aus natürliches ei*scheinen zu lassen, die Unzerreissbarkeit des
Naturzusammenhangs auch in der positiven Dogmatik fest-
zuhalten, vereitelt. Um so leichter begreift sich aber diese
■1
VI
216 Friedrich Schleiermacher.
Voraussetzung bei ihm selbst. Das Ghristenthum war einmal
für ihn die Quelle seines religiösen Lebens , der Grund , von
dem er ausgieng ; er wollte nicht als Philosoph eine Vemunft-
religion suchen, sondeni nui* die positive mit Hülfe der Philo-
sophie sich erklären, sie mit der Natur des Menschen und
mit der Wissenschaft unserer Zeit in Einklang bringen, ihr
inneres Wesen möghchst rein herausstellen; die christliche
Frömmigkeit ist füi- ihn ein höchstes und letztes, das Ghristen-
thum die vollkommene Religion. Dann ist aber nothwendig
auch sein Stifter das Urbild religiöser Vollkommenheit; denn
wenn die Religion überhaupt etwas schlechthin eigenthümliches
ist, wenn auch in jeder gemeinsamen Glaubensweise nur die
religiöse Individualität ihres Stifters sich fortsetzt, so wird
jene Vollkommenheit, welche das Ghristenthum von allen an-
deren Religionen unterscheidet, nur aus der persönlichen VoU-
konmienheit seines Stifters sich erklären lassen. Jede Religion
ist so, wie die Pei-sönlichkeit , aus der sie hervorgeht, deren
innerstes Wesen sich in ihr darstellt; giebt es eine vollkom-
mene Religion, §o wird diese nur das Werk einer religiös voll-
konmienen, urbildlichen Persönlichkeit sein können.
Von dieser Voraussetzung aus entwickelt sich nun Schleier-
machers theologische Ansicht in der Richtung weiter, welche
durch diesen Anfang gegeben war. Christus ist unser reli-
giöses Urbild; aber diess ist auch das einzige, dessen wir
bedürfen; wir haben daher kein Recht, mehr in ihm zu sehen,
als den vollkommenen Menschen, wir düifen nicht die wider-
spruchsvolle Vorstellung des Gottmenschen auf ihn anwenden,
keine übernatürliche Entstehung seiner Persönlichkeit voraus-
setzen, nicht durch die Wunder der evangelischen Geschichte
unsem Glauben mit unserer Wissenschaft in einen unauf-
löslichen Streit bringen. Christus ist det schöpferische Urheber
unseres religiösen Lebens, deijenige, welcher die eigen thüm-
lichen Vorzüge der christlichen Gemeinschaft begründet, dem
Gottesbewusstsein in derselben zur ungehemmten Entwicklung
verhelfen hat; er ist insofern der Erlöser: alle religiöse Voll-
kommenheit des Christen ist als sein Werk zu betrachten, ist
Friedrich Schleiermacher. 217
eine Wirkung der Gnade; alles, was ausser Zusammenhang
mit ihm sich entwickelt, erscheint in religi<yser Hinsicht un-
YoUkommen und gebunden, steht unter der Herrschaft der
Sünde. Aber die erlösende Thätigkeit Christi ist etwas durch-
aus naturgemässes ; so wenig die menschliche Natur durch
einen angeblichen Sündenfall in übernatürlicher Weise ver-
schlimmert worden ist, ebenso wenig wird sie durch die Er-
lösung übernatürlich geheilt ; sondern wie überhaupt ein Mensch
auf andere religiös einwirkt, durch seine Selbstdarstellung, so
auch Christus auf die Menschheit; es ist hier an keine stell-
vertretende Genugthuung, an kein Strafleiden, an nichts von
alledem zu denken, wodurch die alte supranaturalistische Dog-
matik die Versöhnung bedingt glaubt; Christus hat in Rede
und That seine urbildliche Persönlichkeit zur Anschauung ge-
bracht, andere haben sie in sich nachgebildet, und es ist so
eine Lebensgemeinschaft entstanden, welche fortwährend von
ihr beseelt ist ; diess allein ist nach Schleiermacher das wesenf-
liche, alles andere wird als „magisch^ beseitigt. Aus diesem
Grunde ist nun die erlösende Einwirkung Christi für uns durch
die Kirche vermittelt: nicht als ob diese mit übernatürlichen
Kräften oder mit einer unbedingten Auktorität über den
Glauben ihrer Mitglieder ausgerüstet wäre, sondern nur dess-
halb , weil in ihr allein das Bild Christi lebendig fortgepflanzt
und auf die Einzelnen übertragen werden kann. Andererseits
bedarf aber die Kirche selbst einer Norm, an welcher sie ihr
Christusbild fortwährend berichtigt, damit es nicht durch den
Einfluss der menschlichen Meinungen in's Schwanken gebracht
werde ; und daher bei Schleieimacher die normative Auktorität
der neutestamentlichen Schriften. Wenn endlich aus der Kirche
so wenig, als aus der Menschheit, jemals alle unreinen Ele-
mente verschwinden werden, wenn die Erscheinung mit der
Idee, die sichtbare Kirche mit der unsichtbaren nie schlechthin
zusammenfallen wird, wenn auch die Voi-stellung von einer
jenseitigen Vollendung der Kirche sich nicht widerspruchslos
vollziehen lässt, so hat doch die Kirche eben an der Person-
* ^'
n
218 Friedrich Schleiermacher.
lichkeit ihres Stifters die BOrgschaft ihrer fortschreitenden
Vervollkommnung: der Geist Christi, der als christlicher Qe-
' meingeist in ihr wohnt, führt sie in alle Wahrheit, das religiöse
^ Leben der Menschheit feiert in ihr seine höchste Vollendung.
Auch hier wird freilich die Kritik mancherlei Bedenken
nicht unterdrücken können. Man kann bezweifeln, ob Christus,
selbst seine Urbildlichkeit eingeräumt, nach Schleiermachers
Voraussetzung wirklich der Erlöser sein könnte, ob er wirklich,
seiner eigenen Darstellung zufolge, das religiöse Leben der
Gläubigen schöpferisch erzeugt, oder nicht vielmehr blos das
in ihnen liegende durch sein Vorbild erweckt und leitet; ob
wir daher ein Recht haben, mit dem Theologen die göttliche
Gnade an Christus und die christliche Kirche zu binden, und
den Gegensatz , der Wiedergeborenen und Un wiedergeborenen,
der Verworfenen und Erwählten, doch wieder in eine Welt-
ordnung einzuführen, von der er selbst uns gesagt hat, dass
es in ihr nicht Gefässe der Ehre gebe und Gefasse der Unehre,
dass vielmehr alles an seinem Ort recht und gut sei. Man
kann es unbegreiflich finden, dass die Kirche das Bild Christi
rein sollte bewahren können, ohne es aus ihrem eigenen zu
erweitern oder zu verändern. Man kann fragen, wie denn
die pei*sönliche Einwirkung Christi seine Schüler so voUkommep
reinigen konnte, dass den Männern, welche doch auch Schleier-
macher nicht für Heilige hält, eine mangellose Darstellung
seines Bildes möglich wurde? und ob man seine Augen nicht
geflissentlich verschliessen muss, um auf diese Ableitung das
normative Ansehen von Schriften zu gründen, welche doch
grösstentheils gar nicht von unmittelbaren Schülern Christi
verfasst sein wollen, und von denen in der Wirklichkeit, aller
Wahrscheinlichkeit nach, nur eine einzige (und gerade eine
solche, die Schleiermacher für unächt hält) von einem der-
selben verfasst ist. Man kann es als einen Widerspruch er-
kennen, wenn Schleiermacher als Dogmatiker die Auktorität
jener Schriften beweist, und als Kritiker manche derselben
auf's freieste behandelt. Man kann an den G^waltthätigkeiten
Friedrich Schldennacher. 21d^
V
Anstoss nehmen, welche sich der Theolog nicht selten als
Ausleger erlaubt hat, um das neue Testament mit seiner
Dogmatik in Einklang zu bringen; man kann sich wundem,
wie leicht ein Mann, dessen kritisches Auge sonst so scharf
ist, über die Zweifel hinwegkommt, von denen sein Lieblings-
buch, das Johanneische Evangelium, bedroht ist ; wie in seiner
Behandlung der evangelischen Geschichte mit den fruchtbarsten
Gedanken und den feinsten Wahrnehmungen eine für uns
späteren oft fast unbegreifliche Yerkennung des natürlichen und
geschichtlich wahrscheinlichen Hergangs Hand in Hand geht;
wie willkührlich er die Stellen unschädlich zu machen sucht,
welche die übermenschliche Natur und die Präexistenz Christi
aussprechen, wie viele sophistische Kunstgriffe, gezwungene
Auslegungen, grundlose Vermuthungen, kleinliche und unwahi*-
scheinliche Erklärungen er es sich kosten lässt, um seine
Ghristologie in die Evangelien hineinzudeuten, und die Wunder
der letzteren wegzudeuten, um mit Einem Wort jene Vor-
stellung von dem Leben Jesu zu gewinnen, deren Unhaltbarkeit
S trau SS'*') so überzeugend an's Licht gestellt hat. Man kann
überhaupt leicht nachweisen, dass die Versöhnung zweier Stand-
punkte , die ihrer Natur nach unvereinbar sind , des religions-
philosophischen und des positiv theologischen, selbst einem
Schleiermacher nicht gelungen ist, und nicht gelingen konnte.
Aber wie klar wir auch die Mängel seines Systems einsehen
mögen, so dürfen wir doch desshalb seine wissenschaftliche
Grösse und seine geschichtliche Bedeutung nicht verkennen.
Schleiermacher ist der erste, welcher das eigenthümliche Wesen
der Religion gründlicher erforscht, und dadurch auch der
praktischen Bestimmung ihres Verhältnisses zu andeiii Ge-
bieten einen unberechenbaren Dienst geleistet hat. Er ist
einer der bedeutendsten unter den Männern, welche seit mehr
*) In seinen beiden Leben Jesu und in der Schrift': Der Christus des
Glaubens und der Jesus der Geschichte. Eine Kritik 'des Schleiermacher-
sehen Lebens ^J^|u^ Berlin 1865.
220 fViedrich SchMenutcher.
als eiDem Jahrhundert daraa arbeiten, daa allgemein Menach-
liche aus dem Positiven herauszuheben, das überlieferte im
Geist unserer Zeit umzubilden, einer der vordersten unter den
Vorkämpfern des modernen HomaniBmus. Er zuerst hat die
philosophische Idee in das einzelne der protestantischeD Dog-
matik eingeführt. Er hat fOr die Theologie im religi&s«!
BewusstseiD einen neuen Boden gewonnen, und durch diese
Vertiefimg ihr« Prindps die Gegensätze, welche er in der
Zeittheologie vorfand, als solche Oberwunden, die Religioas-
wissenschaft von der Aeusserlicbkeit der supranaturalistischen
wie der rationalistisdien Behandlung befreit, und sie genöthigt,
von der 'äussern Erscheinung der Religion auf ihr inneres
Wesen, auf ihre lebendige Quelle ']fm menschhchen Geiste
zurUckzi^efaen. Die Religion ist ihm ein gegebenes, wie
dem Supranaturalisten , aber sie ist ihm zugleich das e^ne
Erzengniss des menschlichen Geistes, wie dem Rationalisten:
denn gegeben ist sie ursprün^ch nur im menschlichen Selbst-
bewusstsein. Das Cbristenthum ist etwas positives, denn es
beruht auf der Persönlicbkeit Christi, und diese kann nicht
a priori deducirt werden, sie ist der schöpferische Anfangs-
punkt einer eigenartigen Entwicklung; aber es ist darum
nichts ubematttrliches , denn es ist hierin jeder andern posi-
tiven Religion analog, und es gestaltet sich von diesem An-
fangspunkt aus ganz nach natürlich psychologischen Gesetzen.
Die Eigenthümlichkeit des religiösen Gebiets soll gewahrt,
und es soll zugleich dem feindlichen Zusunmenstoss mit allen
anderen Gebieten vorgebeugt werden: die Religion soll keiner
bereditigten menschlichen Thätigkeit widersprechen können,
weil sie selbst ,die höchste BlOthe der menschlichen Natur
ist Wer die Religion in diesem freien Geist auffasste, der
konnte selbstverständhch auf Formeln keinen Werth legen,
und vollends nicht auf solche, die er selbst als veraltet er>
kannt hatte; er konnte nidit zugeben, dass die religiöse
Gemeinschaft, von deren Segen er tiberzeugt war, durch
die Formen des Kultus oder des Dogma getrennt werde.
Friedrich Schleiermacher. 221
Schleiermacher war daher der natürliche Wortführer der
evangelischen Union, und sie ist unstreitig eines von den
Werken, in denen sein Geist am fruchtbarsten fortlebt Dieser
Geist wird sich auch in der Folge immer mehr Bahn brechen,
und er wird auch dann noch kräftig fortwirken, wenn von
dem dogmatischen System, welches er sich als seine nächste
wissenschaftliche Form geschaffen hat, schon längst kein Stein
mehr auf dem andern liegt.
9.
Das ürchristenthum.
Was ist das Christenthum , und was war es? Es ist
schwer, das erste zu sagen, wenn man von dem zweiten keinen
Begiiff hat, und es ist unmöglich, über das zweite in's reine
zu kommen, wenn man sich das erste nicht klar gemacht hat
Die nachstehende Erörterung gilt nun zunächst der zweiten
von diesen Fragen : sie versucht , an den hervortretendsten *
Zügen zu zeigen, was das Christenthum in seiner ersten Zeit
war; es wird sich aber daraus immerhin auch bis zu einem
gewissen Grade ergeben, was es seinem wahren Wesen nach
ist. üebrigens wird sich unsere Darstellung auf das Christen-
thum als solches, d. h. auf den Glauben der christlichen
Gemeinde, hier um so mehr beschränken, da über die
Entstehung imA die geschichtlichen Voraussetzungen dieses
Glaubens, über die Persönlichkeit und die Geschichte seines
Stifters, in der nächstfolgenden und in der letzten Abhandlung
dieser Sammlung ohnediess zu sprechen sein wird.
Dai^ Christenthum war zuerst der Glaube an Jesus als
den Messias, nicht mehr und nicht weniger. Seine Dogmatik
war damals noch einfach : wenn sich ein Jude zu dem Glauben
an die Messianität Jesu bekannte, so erklärte er sich eben-
damit für einen Christen und wurde dui;ch die Taufe in die
Gemeinde aufgenommen. Die Taufe bedurfte daher auch
keiner langen Vorbereitung : Petrus tauft den Cornelius, nach-
Das ürduistentham. 223
dem sie kaum einige kurze Reden gewechselt haben (Apg. 10) ;
der äthiopische Eunuche (Apg. 8, 26 ff.) wird unterwegs auf
der Strasse Von Philippus bekehrt und getauft ; die Gemeinde
in Jerusalem verstärkt sich an Einem Tag um dreitausend
und an einem zweiten um zweitausend Mitglieder (Apg. 2, 41.
4, 4); ^aulus erhält (Apg. 9, 19) die Taufe ohne allen vor-
gängigen Unterricht, und er selbst rechnet es sich Gal. 1, 16
zum Ruhm an, dass er keines Menschen Schüler sei, sondern
seine Lehre einzig und . allein der innem Gottesoffenbarung
verdanke. Hätte das Ghristenthum schon ein eigenthttmliches
Lehrsystem gehabt, so wären solche schnelle Bekehrungen
eine Unmöglichkeit gewesen, so hätten sie nicht einmal in
der Sage vorkommen können : wenn jeder getauft wurde , so-
bald er Jesus als den Messias anerkannte, so können die
ersten Christen sich keines weiteren wesentlichen Unterschieds
vom Judenthum bewusst gewesen sein. Wie wenig aber darin
für sie schon der Austritt aus dem Judenthum lag, diess er-
hellt unwidersprechlich aus der Geschichte des Paulus: aus
der unsäglichen Mühe, die es ihn kostete, die universelle,
über die Grenzen des Judenthums hinausreichende Bestimmung
des Ghristenthums zur Anerkennung zu bringen; aus dem
Hass und der Verfolgung, welche er sich durch diesen Abfall
von der väterlichen Religion zuzog; aus der Stellung, welche
die jerusalemitische Gemeinde und die älteren Apostel selbst
g^en ihn einnahmen; aus den jahrhundertlangen Verhand-
lungen, die vorangehen mussten, ehe die Emancipation des
Ghristenthums vom Judenthum und die Idee einer allgemeinen,
Heiden und Juden gleich sehr umfassenden Kirche vollständig
durchgesetzt war. Die Briefe des Paulus beweisen, dass er
aUer Orten, wohin seine apostolische Wirksamkeit reichte,
auch in den von ihm selbst gestifteten Gemeinden, mit dem
zähen Widerstand einer judenchristlichen Parthei zu kämpfen
hatte, welche seine Apostelwürde für eine Usurpation erklärte,
und von den Heiden, die er bekehrt hatte, den Uebertritt
zum Judenthum, die Annahme der Beschneidung und des ^.
ganzen mosaischen Gesetzes verlangte ; und auch die gemässigt-
224 I^as ürchristenthum.
4
sten von diesen Gegnern konnten wenigstens über den Anstoss
nicht wegkommen, dessen Beseitigung ein Hauptzweck des
Römerbriefs ist, dass das auseiTrählte Volk Gottes bei seiner
Ansicht, trotz seiner theokratischen Vorrechte, in der Theil-
nahme am mesfianischen Reiche thatsächlich hinter den Heiden
zurückblieb. Wenn dem grossen Heidenapostel von Anfang
bis zu Ende ein solcher Widerstand und solche Vorurtheile
entgegentraten, so muss der Gedanke, dass der christliche
Glaube eine neue^ vom Judenthum verschiedene Religionsform
sei, der älteren Christengemeinde und ihren Leitern völlig
fremd gewesen sein. Bei jener denkwürdigen Verhandlung in
Jerusalem, von der uns freilich nur der GaJaterbrief (c. 2),
nicht die Apostelgeschichte (c. 15), einen urkundlichen Bericht
giebt, musste Paulus die ganze Festigkeit seines Charakters
und die ganze Kraft seiner üeberzeugung einsetzen, um seinen
heidenchristlichen Begleiter Titus vor der Anforderung der
Beschneidung zu schützen und das Recht einer selbständigen
Heidenmission zu behaupten; offenbar nur desshalb, weil in
jenem Zeitpunkt, etwa zwanzig Jahre nach dem Tode Jesu,
seine persönUchen Schüler sich noch in keiner Beziehung vom
Judenthum losgesagt hatten, weil ihnen der Glaube an Jesus nur
der Glaube an den Erretter des jüdischen Volkes, nur ein Theil
ihrer gesetzlichen Frömmigkeit war. Wie wenig sie aber auch
in der Folge über diesen Standpunkt hinauskamen, sieht man
aus dem, was im Galaterbriefe weiter erzählt wird. Als einige
Zeit nach jenen Verhandlungen Peti*us in Antiochien mit
Paulus zusammentraf, nahm er zwar anfangs keinen Anstand,
mit den getauften Heiden an demselben Tische zu speisen,
und dadurch anzuerkennen, dass ihnen die Unreinheit nicht
mehr anhafte, die nach jüdischen Begriffen eine Tischgemein-
schaft des Israeliten mit den Götzendienern unmöglich machte ;
sobald aber Judenchristen aus der Umgebung des Jacobus
kamen, zog er sich von den Heidenchristen zurück, „weil er
die aus der Beschneidung fürchtete," und ebenso machten es
auch die übrigen Judenchristen, so dass selbst Bamabas, der
vieljährige Begleiter und Gehülfe des Heidenapostels, sich zn
Bas ürduistenihiim. 225
dem gleichen Verhalten verleiten liess. Paulus weiss in diesem
Benehmen, über welches er seinem Mitapostel die nachdrück-
lichsten Yorwtlrfe machte, auch später imr eine offenbare
„Heuchelei'' zu sehen ; uns wird es eher beweisen , dass jene
freieren Grundsätze, denen sich Petrus vorübergehend gefügt
hatte, weder ihm selbst noch den übrigen, ausser Paulus, fest
genug standen, um sie mit der Entschiedenheit eigener üeber-
zeugung gegen abweichende Ansichten zu behaupten. Eeinen-
falls aber können sie in Jerusalem, im Kreise der Urgemeinde
und des Jakobus, anerkannt gewesen sein; sonst hätten un-
möglich die, welche dorther kamen, einem Petrus und selbst
einem Bamabas solche Furcht einflössen können, dass sie den
Heidenchristen die kaum gewährte Gemeinschaft sofort wieder
thatsächlich aufkündigten. Die Palästinenser müssen nach wie
vor überzeugt gewesen sein, dass der Messias und sein Reich
nur für die Juden ^bestimmt sei, und dass NichtJuden der
Zutritt zu demselben nur unter der Bedingung des üebertritts
zum Judenthum gestattet werden sollte: sie liessen sich die
Heidenmission des Paulus und ihre Erfolge wohl als Thatsache
gefallen, aber sie betrachteten die von ihm bekehrten fort-
während als unreine, so lange sie nicht durch die Beschnei-
dung in das Volk Gottes aufgenommen waren; sie suchten
dieselben desshalb überall zu sich herüberzuziehen, und selbst
rein heidenchristlichen und von Paulus allein gestifteten Ge-
meinden, wie denen Galatiens, Gesetz und Beschneidung auf-
zureden. Dass nun aber Paulus vollends sich nicht damit
begnügte , die Pforte des Gottesreichs den Heiden zu öffnen,
sondern dass er auch die geborenen Juden ihrer gesetzlichen
Verpflichtungen entband, dass er es geradezu aussprach, das
€hristenthum sei mit dem Judenthum, der Glaube mit dem
Oesetz unvereinbar, man könne nicht zugleich auf jenen ver-
trauen und sich durch dieses gebunden fühlen , man habe nur
die Wahl zwischen Christus und Moses, — diess erschien den
Judenchristen älteren Schlages als ein solcher Gräuel, es er-
zeugte sich unter ihnen ein so erbitterter Hass gegen den
Zerstörer des Gesetzes, dass man auf Seiten dieser Parthei
Zeller, Vortr&ge imd AbhandL X5
v.-.t^:
. ^
226 ^A8 ürchristenthnm.
keine Schmähung gegen den grossen.Heidenapostel- zu stark,
keine Yerläumdung über ihn unglaublich fand. . Die Fabeln
und Übeln Nachreden, mit welchen die Nachkommen der alten
Judenchristen, die späteren Ebjoniten, ihn verfolgten, sind uns
noch theil weise bekannt; und ebenso gehässig äussern sich
über ihn noch die clementinischen Homilieen, eine ebjonitische
Partheischrift aus dem letzten Drittheil des zweiten Jahrhunderts,
wenn sie ihn als den „feindseligen Menschen^, den YerkUn*
diger des „falschen Evangeliums*', der „gesetzlosen und nichts«
würdigen Lehre^, oder um alles zusammenzufassen, als den
Zauberer Simon darstellen, als den vom Judenthum abgefallenen
Samaritaner, der sich selbst zum Gott aufbläht, und der alle
Länder von Palästiua bis Bom mit seinen Zauberkünsten ver-
führt, bis er in der Hauptstadt des Reiches, von Petrus , dem
ächten Apostel, ereilt und entlarvt, dem verdienten Schicksal
anheimfällt. Kein anderer war aber ohne Zweifel von Anfang
an der Sinn und Beweggrund der Simonssage. Was Paulus
schon von seinen korinthischen Gegnern vorgeworfen wuirde,
dass er sich, ohne wirklicher Apostel zu sein, eigenmächtig
in die Apostelwürde eingedrängt habe; was die allgemeine
Meinung der strengeren judenchristlichen Parthei war, dass
er abtrünnig vom väterlichen Gesetz die Welt zu dem gleichen
Abfall verleite, das wurde als Geschichte unter dem Namen
des samaritanischen Irrlehrers von ihm erzählt; und selbst
jenen grossartigen Unterstützungen, die er in seinen Gemeinden
so eifrig betrieben hatte, um durch diesen Beweis hülfreicher
Theilnahme die Jerusalemiten zu gewinnen, selbst diesen
Liebeswerken wurde im Munde der Verläumdung die gehässige
Wendung gegeben, dass er sich von einem Petrus und Johannes
die apostolischen Vorrechte zu erkaufen vergeblich versucht
habe. Da schon die Apostelgeschichte diese Simonssage kennt,
und sie durch ihre Darstellung unschädlich zu machen nöthig
findet (in ihr wird Simon c. 8, 9 flf, noch vor der Bekehrung
des Paulus beseitigt), so dürfen wir ihre Entstehung mit Sicher-
heit in den Anfang des zweiten Jahrhunderts hinaufrücken,
und wir haben so auch an ihr einen Beweis für die Heftigkeit,
Das Urchristenthuoii. 227.
mit der man sich gerade auf dem ursprünglichen Schauplatz des
Christenthums seiner Losreissung vom Judenthum widersetzte.
Weitere Belege dieser Thatsache finden sich nicht blos
in sonstigen altkirchlichen Schriften, sondern auch in den neu-
testamentlichen, sobald man sie mit geschichtlichem Blick liest»
in Menge. Besonders belehrend sind in dieser Beziehung,
nächst den paulinischen Briefen, zwei Bttcher, von denen jedes
in seiner Art über den Geist des alten Judenchristenthums
Zeugniss ablegt: die Apostelgeschichte und die Offenbarung
des Johannes. — Die Apostelgeschichte ist allerdings
allen Anzeichen nach weder von einem Begleiter des Paulus
noch überhaupt im ei'sten Jahrhundert nach Christus verfasst
worden, wenn auch für einzehie Abschnitte derselben die Denk-
schrift eines paulinischen Reisegefährten benützt und theilweise
aufgenommen zu sein scheint; sie ist femer viel zu sehr von
praktisch- dogmatischen Interessen behen*scht und geht mit
den überlieferten Stoffen viel zu frei um, sie hatte aber auch
an ihnen selbst schon ohne Zweifel ein viel zu sagenhaftes
Material, als dass wir eine urkundliche Geschichtsdarstellung
von ihr erwarten dürften. Aber theils können wir selbst aus
dieser späten und in vielen Beziehungen unzuverlässigen Dar-
stellung die ältere Ueberlieferung nicht selten noch deutlich
genug heraushören; theils erhalten wir mittelbar, durch die
ganze Tendenz der Schrift und die in ihr durchgeführte Ge-
schichtsbehandlung, über die Zeit, aus der sie selbst herstammt,
Aufschlüsse, von denen auch auf die Vorzeit ein überraschendes
Licht zurückfällt; und der letztere Umstand ist es haupt-
sächlich, welcher der Apostelgeschichte für die Eenntniss des
ältesten Ghristenthums diese hohe Bedeutung giebt. Der
Verfasser dieser Schrift ist sichtbar ein Pauliner: der paulini-
sche Universalismus, der Uebergang des messianischen Heils
von den ungläubigen Juden zu den Glaubigen aus den Heiden
ist der Gedanke, unter welchen die Geschichte des apostoli-
schen Zeitalters hier gestellt wird; ihr eigentlicher Held ist
Paulus, imd mit seinem Eintritt in die apostolische Wirksam-
keit verschwindest die jerusalemitische Gemeinde, so weit nicht
15*
i
\v^
228 I^ üidnMnithiiiiL.
die Geschichte des Paolos selbst eu ihr zorückfübit, aos dem
Gesichtskreis des Verfassers; die Empfehlong des Hddeo-
apostels ond seises Werkes ist der praktische Zweck, dem
ihre Geschichtsdarstellong dient, die Gründoog der römischen
Chiistengemeinde , als Metropole des paolinischen Heiden-
christenthoms, ist das Ziel, in dem sie zam Abschloss kommt.
Diese praktisch - dogmatische Ahzweckong der Schrift tritt om
so klarer und unabweisbarer hervor, je vollständiger uns eine
voi-urtheilsfreie und genaue PrQfong ihrer Erzählung^ über-
zeugen muss, dass der Verfasser ihr zuliebe die Gesduchte
mit der äussersten Freiheit behandelt, die ihm überlieferten
Stoffe tendenzmässig umgebildet, ganze Erzählungen neu er-
funden oder verdoppelt, allbekannte Vorfälle, weil sie semem
Zweck widerstritten, mit Stillschweigen übergangen, seine
Darstellung von Anfang bis zu Ende darauf 'angelegt hat, in
den angeblichen Verhältnissen und Grundsätzen des apostoli-
schen Zeitalters ein Vorbild für diejenige Gestaltung der
kirchlichen Zustände und Partheiverhältnisse aufzustellen,
welche er in seiner Zeit, um 120 nach Christus, für durch-
führbar und wünschenswerth hält. Er will den Partheien,
welche sich damals in der Kirche die Herrschaft streitig
machten, der petrinisch-judaistischen und der paulinisch-uni-
versalistischen , in der Geschichte ihrer Urzeit und an dem
Beispiel ihrer apostolischen Häupter ihre Gleichberechtigung,
ihr ursprüngliches Einverständniss und die Bedingungen dieses
Einverständnisses zur Anschauung bringen. Nur um so be-
lehrender ist es aber, zu sehen, mit welchen Opfern unser
Pauliner den Frieden zu erkaufen bereit ist Den paulinisdien
Universalismus sollen sich die Judenchristen gefallen lassen;
aber um ihnen denselben annehmbar zu machen, werden
alle die eigenthümlichen Lehren, auf die Paulus selbst ihn
gestützt hatte, alle Hauptschlagwörter der paulinischen Dog-
matik bei Seite gelegt oder bis zur Unkenntlichkeit abge-
schwächt; es werden nicht allein unverhältnissmässig wenige
paulinische Lehrreden mitgetheilt, sondern diese selbst sind
auch so gehalten, dass sie dem strengsten Judenchristen nicht
■aK"*"^"'
Das UrohxiBtentkiiia. 229
Tfohl zum Anstoss gereichen konnten. Von allen jenen Sätzen,
welche for den Apostel selbst den änssersten Werth hattm,
von der Sündhaftigkeit aller Menschen, von der Unmöglichkeit
der GesetzeserfQllung, von dem Yersöhnungstod Christi, von
der Rechtfertigung ans dem Glauben, nicht durch Ges6tze&-
werke, von der Abschaffung des mosaischen Gesetzes und des
ganzen jüdischen Beligionswesens — von diesen Grundl^iren
des geschichtlichen Paulus finden sich bei dem der Apostd-
geschichte kaum ein paar Anklänge (13, 38 1 20, 24) , die so
schwach sind, dass der Verfasser stärkeres und ebenso starkes
auch dem Petrus (15, 10. 10, 34), und selbst dem Jakobus
(15, 13 ff.), so wie er diese Männer darstellt, in den Mund
legen kann* Im übrigen enthalten alle seine Vorträge nur
die allgemein anerkannten Lehren des jüdischen Monotheismus
und des christlichen Messiasglaubens, nur das gleiche, was wir
auch in den petrinisQhen Beden (c. 2 — 5, 10) treffen: die
Lehren von der Einheit Gott^\ der Messiaswürde und der
Auferstehung Jesu, die Aufforderung, sich zu bekehren und
Werke zu thun, die der Bekehrung würdig seien (26, 20), die
Predigt von der Gerechtigkeit, der Enthaltsamkeit und dem
künftigen Gericht (24, 25), abe^ nichts von dem, was uns als
das eigenthümlich paulinische aus jeder Zeile seiner ächten
Briefe entgegentritt Ja gerade der Grundsatz, welcher für
den geschichtlichen Paulus der Angelpunkt seiner ganzen
Theologie war, dass durch Christus das jüdische Gesetz auf-
gehoben sei , und dass Christus eben dazu gekommen sei , um
an die Stelle der jüdische Beligion eine neue , an die Stelle
des Gesetzes den Glauben zu setzen — gerade diese Grund-
lehre des ursprün^chen Paulinismus wird in der Apostel-
geschichte ausdrücklich yerläugnet Paulus versichert in seinen
Briefen aller Orten, dass der Glaube an Christus und das
Festhalten am mosaischen Gesetz sich ausschliessen; nach der
Darstellung der Apostelgeschidite (c 15 vgl m. 21, 20 ff.)
hätte er sidi mit d^i Jerosal^niten darüber verständigt, ja
er selbst hätte es als formliches Kircfaengesetz, als Verfügung
des heiligen Geistes verkündigt, dass die gläubigen Juden
230 I>AS ürchristenthniiL
aach nach ihrem Uebertritt zum Christenthuin fortwährend
an das Gesetz gebunden seien, dass aber aaeh den Heiden-
christen gennsse Enthaltungen nicht erlassen werden k&inen,
welche der wirUiche Paulus (wie wir aus 1 Kor. 8—10 sehen)
an sich selbst für ganz unbegründet ansah, und nur unter
Umständen, aus schonender Berücksichtigung fremder Yor-
urtheile, verlangte. Paulus erklärt seinen Galatem (Gal. 5,
2 f.) mit allem Nachdruck, wenn sie sich beschneiden lassen,
haben sie von Christus nichts zu hoffen, und er hatte sich
aus diesem Grunde, wie schon oben bemerkt wurde, bei seiner
Anwesenheit in Jerusalem der Forderung, dass sein Begleiter
Titus die Beschneidung annehme, mit unerschütterlicher Festig-
keit widersetzt (Gal. 2, 3 f.); die Apostelgeschichte (16, 3)
lässt ihn um dieselbe Zeit die Beschneidung des Timotheus
selbst vornehmen, den Vorfall mit Titus dag^en verschweigt
sie. Paulus konnte nach seinen Grundsätzen weder sich selbst
an das Gesetz binden, noch seine fernere Geltung in der
Christengemeinde zugeben: die Apostelgeschichte schildei't ihn
als einen gesetzesfrommen Israeliten, dem nur die Yerläum-
dung nachsage, dass er von den väterlichen Gebräuchen ab-
gefallen sei, und auch andefe zu diesem Abfall verleite: er
selbst versichert in ihr 25, 8, er habe sidi gegen das judische
Gesetz in keiner Weise verfehlt , er nennt sich 23, 6 einen
Pharisäer, ein Mitglied der strengsten, gesetzeseifrigsten Parthei
unter den Juden, was er in der Wirklichkeit zwar fi-üher
allerdings gewesen war, aber damals so wenig mdir war, als
Luther nach seiner Yerheirathung noch ein Mönch war; er über-
nimmt (18, 18. 21, 20 ff.) jüdische Gelübde und Opfer, die
der geschichtliche Paulus unmöglich übernommen haben kann,
und zwar ausdrücklich, um die falsche Nachrede zu wider-
legen, dass er die Judenchristen vom Gesetz abwendig mache,
und um zu beweisen, dass auch er es treulich befolge; er
ergreift jede Gelegenheit, um das jüdische Nationalheiligthum
und die jüdischen Nationalfeste zu besuchen, mag er auch
noch so entfernt, und durch seinen apostolischen Beruf noch
so stark in Anspruch genommen sein (11, SO. 18, 20. 19, 21.
Bas ürchristenüiiiin. . 231
20, 16. 24, 11. 17), und mag aus seiner eigenen Erzählung
(Gal. 1, 15 ff.) noch so klar hervorgehen, dass er einzelne
dieser Beisen (Apg. 11, 80, wahrscheinlich aber auch 18, 20 ff.)
gar nicht wirklich gemacht hat ; er steht auch mit den Juden-
aposteln und der palästinensischen Gemeinde im besten Ein-
veiTiehmen, und alle Beweise des Gegentheils, wie der Streit
über Titus und der harte Zusammenstoss mit Petrus (Gal. 2,
8. 11 ff.) , w'erden in Stillschweigen begraben. Selbst der
Bemf des Heidenapostels erscheint hier nicht als ein freiwillig
gewählter, sondern als ein ihm durch die Verhältnisse fast
wider Willen aufgedrungener. Während er selbst uns sagt
(Gal. 1, 15 f. 2, 7), dass er sich vom ersten Tag seines Christen-
glaubens an zur Verkündigung des Evangeliums unter den
Heiden berufen gewusst habe, während er alle seine üeber-
zeugungen hätte verläugnen müssen, um nicht Juden und
Heiden, wie in Betreff ihrer Erlösungsbedürftigkeit (Rom. 3,
9. 23 u. a.), so auch in Betreff ihrer Ansprüche ^n seine
apostolische Wirksamkeit sich gleichzustellen (Rom. 1, 14),
lässt ihn die Apostelgeschichte überall, wo sich eine jüdische
Bevölkerung vorfindet, ohne Ausnahme den Grundsatz befolgen,
den er hier wiederholt ausspricht (18, 46. 18, 6. 28, 8), sich
nicht eher an die Heiden zu wenden, als bis ihm die Juden
durch hartnäckige Verschmähung seiner Predigt ein Recht
dazu gegeben haben (vgl. c. 9, 20 ff. 28 f. 26, 20. 22, 17 ff.
13, 5. 14, 42 ff. 14, 1. 16, 13. 17, 1. 18, 4. 19, 8. 28, 17).
So ängstlich soll der Mann, welcher in Wahrheit der kühnste
Bestreiter des jüdischen Partikularismus und seiner erträumten
Vorrechte war, eben diese Vorrechte gehütet haben. So wird
ihm dann freilich mit Recht von dem hochverehrten Haupte
der palästinensischen Judenchristen, von Jakobus, unter seiner
eigenen Zustimmung, bezeugt, dass an der Nachrede von
seinem Antinomismus kein wahres Wort sei (21, 24), und
selbst die Juden erklären ihm in Rom , was sie freilich dem
wirklichen Paulus niemals gesagt haben könnten, es sei ihnen
sieht das geringste nachtheüige über ihn zu Ohren gekommen.
Wer sieht l^er nicht, dass diese Darstellung auf eine Parthei
■
ff " ^ ~
4
/
232 I^fts ürchristenÜuuD.
berechnet ist, die noch enge mit dem Judenthum verwachsen
war, und nur durch die weitgehendsten Zugeständnisse für
die Zulassung der Heiden zum Christenthum , die grosse That
des Paulus , gewonnen werden konnte ? Und wie gross musa
die Macht dieser Parthei damals noch gewesen sein, wenn es
ein so entschiedener, und mit den Verhältnissen offenbar so
genau bekannter Pauliner nöthig fand, das Bild seines Helden
so vollständig umzuzeichnen, die wirklichen Motive seiner weit*
geschichtlichen Leistung, die Grundsätze, auf denen Sßine
ganze Bedeutung beiiiht, so systematisch zu verstecken und
zu verläugnen, damit wenigstens der äussere Erfolg seines
Werkes und die Anerkennung seiner Apostelwtirde gerettet,
die messiasglaubigen Juden mit dem Dasein eines Christen-
thums ausserhalb des Judenthums versöhnt würden.*)
Stand es aber so noch im ersten Drittheil des zweiten
Jahrhunderts; wie mag es um die Mitte des ersten ausgesehen
haben! Gab es fünfzig bis sechzig Jahre nach dem Tode des
Paulus noch so viele, welche sich in die Thatsache des Heiden-
christenthums nicht zu finden im Stande waren, welche in
dem grössten der Apostel nur den Eindringling, in dem Be-
gründer einer selbständige diristlichen Kirche nur den Zer-
störer ihrer väterlichen Beligion zu sehen wussten, für welche
man ihn erst zu einem anderen, als er gewesen war, machen
musste , um ihnen die Anerkennung seiner Person und seines
Werkes abzudringen; war diese Parthei selbst in der Haupt-
stadt der heidnischen Welt, in der Paulus selbst gewirkt und
geblutet hatte, in jener Zeit noch so mächtig (und dass die
Apostelgeschichte gerade in Born und für Rom geschrieben
wurde, geht aus entscheidenden Anzeichen hervor): wie ge-
waltig haben wir uns nicht ihren Einfluss, wie leidenschaftlich
ihren Hass gegen den falschen Apostel, den Abtrünnigen vom
Gesetz, den Verführer zum Abfall, in Palästina und in der
*) Das iiSih«r6 über £e oben beqprodieneQ Fdokte giebt» nach B ««r's
ToTgtof, meiiw „ikpoatelfMchidit«^ (StaMi^ 1854), nameiiäich a 297 iL
920 m
Das ürchristenthum. 238^
Zeit seines frisch einsehneidenden Wirkens rorzustellen ! und
ivie ist es denkbar, dass das Vorurtheil gegen Paulus und den
Paulinismus jemals zu sdcher Stärke und solchem Einfluss
hätte gelangen können, wenn die palästinensischen Apostel
und die von ihnen geleiteten Gemeinden mit demselben sa •
einverstanden gewesen wären, wie man sich diess gewöhnlich
vorstellt?
Wie es sich in der Wirklichkeit verhielt, davon haben
wir ein unmittelbares Zeugniss, neben den obenbesprochenen
paulinischen Briefen, in der Offenbarung des Johannes.
Dieses merkwürdige Buch war bekanntlich fast seit seiner
Entstehung ein unlösbares Bäthsel, und es musste diess sein,
«
so lange man in ihm pichts anderes zu sehen wusste, als ein
prophetisches Compendium der Welt- und Kirchengeschichte,
mit dem die wirkliche Geschichte in Einklang zu bringen,
aus dem die künftige herauszulesen sei Eine so verkehrte
Voraussetzung konnte natürlich zu keiner vernünftigen Er-
klärung und keinem wirklichen Yerständniss der Schrift führen,
und je grösser nicht selten die Anstrengung und der Scharf-
sinn war, den man an ihre Deutung verschwendet! , um so
unwiderleglicher stellte sich nur die Nothwendigkeit heraus,
jene Voraussetzung selbst aufzugeben und die Apokalypse
nicht aus der Geschichte, welche für ihren Verfasser noch in
der Zukunft lag, sondern aus den Verhältnissen, den Vor-
stellungen und den Erwartungen der Zeit und des Kreises zu
erklären, denen er selbst angehörte. Seit die neuere Wissen- .
Schaft diess gethan hat, ist das alte Räthselbuch zu einer
von den gescluchtlidi verständlichsten Schriften unseres Kanon \
und zu einer von den werthvcillsten Urkunden aus der Urzeit
der christlichen Kirche gewordai. Wir wissen jetzt, unter
welchen Verhältnissen und in welcher Absicht es verfasst ist,
wir ktanen seine Abfassungszeit auf wenige Monate hin mit
vollkommener Sicherheit, und selbst seinen Verfasser mit hoher
Wahrscheinlichkeit bestimmen. In jener Zeit nach Nero's
Tode, deren Verwirrung und Schrecken uns Tacitus so an-
schaulich schildert, während Galba's kurzer B^erang (Juni
\
/
234 ^^ ürcbristenthnm.
68 bis Januar 69) fand sich der judenchristliche Verfasser der
Offenbarung getrieben, seine Erwartungen von der Zukunft in
der herkömmlichen Form jüdischer Apokalyptik auszusprechen,
seine Glaubensgenossen für den Entscheidungskampf zwischen
Christus und dem Antichrist, der in der allemächsten Zeit
bevorstehe sollte, vorzubereiten, sie zur Ausstossung aller
unreinen Elemente, zum würdigen Empfang des himmlischen
Königs aufzufordern, sie mit dem glühenden Muthe des Mär-
tyrerthums zu erfüllen, dem nach seiner Ueberzeugung kein
treuer Bekenner Christi entgehen kann.*) Dieser Verfasser
nennt sich selbst Johannes, und die alte kirchliche Ueber-
lieferung, welcher die Offenbarung weit früher, als das vierte
Evangelium, bekannt ist, versteht unter ihm keinen andern,
als den Apostel dieses Namens ; damit stimmen aber auch alle
glaubwürdigen Angaben über den Charakter und die Lebens-
geschichte des Apostels, es stimmt damit der ganze Geist der
Schrift, ihr Inhalt, ihre Darstellungsform und ihre Sprache,
so vollkommen überein, dass wir sie für richtig zu halten allen
Ginind haben. Die Offenbarung hat daher aller Wahrschein-
lichkeit nach einen von den angesehensten persönlichen Schülern
Jesu zum Verfasser, und sie ist sogar ohne Zweifel das einzige
Werk von einem der filteren Apostel, das wir besitzen. Selbst
dann aber, wenn man ihren apostolischen Ursprung nicht zu-
geben wollte, müsste man doch einräumen, dass es ein Mann
von apostolischer Stellung und apostolischem Geiste gewesen
sein muss, der es wagen durfte, jene sieben Sendschreiben
(c. 2. 3.) an die kleinasiatischen Gemeinden zu erlassen, und
die Gesichte, welche der Herr der Kirche ihm gezeigt hat,
in seinem Namen und Auftrag zu verkündigen : selbst in diesenii
an sich sehr unwahrscheinlichen Fall hätten wir immer noch
an unserem Buche das urkundlichste Denkmal des Geistes,
der unter den alten Judenchristen um das Ende des aposto-
lischen Zeitalters gehen*scht hat.
'*') Einiges weitere über diese Abzweckang der Apokalypse und über
die Verhältnisse, unter denen sie entstanden ist, findet sich tiefer unten, in
der Abhandlung über die Tübinger Schule.
Das Urcbristenthum. 235
Dieser Geist liegt aber freilich von dem, was wir heutzu-
tage Christenthum nennen, in vielen Beziehungen weit ab.
Für uns handelt es sich bei dem Christenthum, wie bei der
Beligion überhaupt, zunächst um das, was es jedem Einzelnen
für sein inneres Leben und der menschlichen Gesdlschaft für
ihre geschichtliche Entwickelung leistet; und auch wenn sich
der Blick auf ein jenseitiges Leben richtet, werden doch alle,
die nicht bei einer ganz äusserlichen Auffassung der Beligion
stehen geblieben sind, in diesem jenseitigen nur die natur-
gemässe Fortsetzung und Vollendung dessen sehen, was seinem
Wesen und seinem geistigen Gehalte nach schon im Diesseits
vorhanden sein muss. Der Apokalyptiker dagegen dringt zwar
gleichfalls mit allem Nachdruck auf die Erfüllung der sittlich-
religiösen Anforderungen, an welche die künftige Seligkeit
geknüpft ist; aber in dem sittlichen und religiösen Zustande
des Menschen liegt nach seiner Auffassung nicht der Zweck
und das Wesen der Beligion, sondern sie ist nur das Mittel,
nur die Bedingung der künftigen Seligkeit; nicht das Innere
des Menschen und nicht die geschichtliche Entwickelung der
Menschheit, sondern die Wunderwelt des künftigen Messias-
reichs gilt ihm für den eigentlichen Schauplatz der göttlichen
Offenbarung; und jener künftigen Welt ist sein Auge in so
feuriger Sehnsucht zugewendet, dass ihm darüber die gegen-
wärtige zu etwas werthlosem und nichtigem zusammenschrumpft,
dass er überall in ihr nur das Walten der gottfeindlichen,
dämonischen Mächte zu sehen weiss, dass er den Augenblick
nicht erwarten kann, in dem alle Beiche der Welt mit Schrecken
zusammenstürzen, und das Beich der Auserwählten an ihre
Stelle tritt. Dieses künftige Gottesreich aber denkt sich
Johannes genau so, wie sich die Juden der damaligen. Zeit
ihr Messiasreich zu denken pflegten. Jene Züge, die uns so
fremdartig ansprechen, die erste Auferstehung und die tausend-
jährige Herrschaft der Frommen in Jerusalem, die Umschaflfung
des Himmels und der Erde, die Herabkunft des himmlischen
Jerusalem mit seinen Strassen aus Gold,, seinen Mauern aus
Jaspis und seinen Thoren aus Perlen, der Baum des Lebens
;^.^7%S?:
« *
-V"
236 I^ UrehriflteiLthiim.
und das Hochzeitmahl de? Messias — alle diese Züge sind
seiner Meinung nach nicht blosse Symbole oder dichterische
Bilder, sondern sie sind bei ihm ebenso ernstlich gemeint, als
in den jüdischen Schriften. Seine messianischen Hoffaungen
sind die eines Juden, sein Messiaa ist der des jüdischen Volkes,
und so bilden denn auch (c 7) die Erwählten aus den zwölf
Stämmen den eigentlichen Kern des künftigen Gottesvolks, zu
welchem die glaubigen Heiden, wenn auch noch so zahlreich,
doch nur wie Plebejer hinzutreten; zwischen dem Christenthum
und dem wahren Judenthum ist für ihn kein Unterschied (vgl.
c. 2, 9. 3, 9); diejenigen von den Heidenchristen dagegen,
welche dem Judenthum gegenüber eine unabhängige Stellung
einnahmen, welche sich nicht wie jüdische Proselyten an die
mosaischen Eh^esetze binden lassen wollten "*"), und welche
nach dem Vorgang des Paulus (1 Kor. 7—10) an dem Genüsse
des Fleisdi^ von Opferthieren , den Juden fast so anstössig,
wie der Götzendienst selbst'*'*), kein Aig fanden, diese freier
denkenden paulin|^hen Christen sind ihm die Nikolaiten oder
Bileamiten, die Anhänger der Jesabel und ihrer Teufelslehre,
die der Messias, wenn sie sich nicht schleunig bekehren, bei
seinem Kommen vertilgen wird (2, 6. 14 f. 20 ff.). Auch für
den Heidenapostel selbst ist auf den zwölf Grundsteinen der
neuen Gottesstadt (21 , 14) , unt^ den „zwölf Aposteln des
Lammes^, den allein berechtigten, von Christus persönlich
erwählten, kein Baum, und die Gemeinde von Ephesus wird
Off b. 1, 2. 6 ausdrücklich belobt , nicht blos weil sie die
Werke der ^Nikolaiten" hasst, sondern vorher noch, weil sie
„diejemgeiy^ die sich Apostel nennen und es doch nicht sind,
geprüft und falsch erfunden hat^« Die Hindeutung auf Paulus
lässt sich hier kaum verkennen; sagt er uns doch in den
*) Nur darauf nämlich, nicht auf wirkliche Unzucht, bezieht sich der
Vorwurf der „Hurerei^' c 2, 14 20, wie diess durch Yezgleichung von
ApgBch. 15, 20. 29. 21, 25 ausser Zweifel gestellt wird.
**) Man vergL hierüber 1 Kor., Apgseh« und Ott&ab. Jöh. an tei an-
fafldirten Oxten.
Dm Urchriftenilinnu
23T
Eorintherbriefen deutlich genug, irie entschieden und aus wa-
chen Gründen ihm von den Gegnern die Apostelwflrde abge-
^ritten wurde, und wie gross die Zahl seiner Widersacher
(nadi 1 Kor. 16, 9) gerade in Ephesus war; und bd einem
Manne, der noch so ganz in jüdische Anschauungen lebt, der
Yom Abscheu g<^n das Heidentbum und gegen jedes ihm
gemachte Zugeständniss, von Hass und Bache gegen die heid-
nischen Unterdrücker so erfüllt ist, wie der Apokalyptiker,
kann es uns auch wirklich nicht hn geringsten überraschen,
wenn der Apostel der Heiden ihm als ein falscher Apostel,
seine Lossagung vom Judenthum als ein Ab&U vom Gesetz
Gottes, die Unabhängigkeit seines Auftretens als eine Auf-
lehnung geg^ das Ansehen der ächten Apostel, dk Sicherheit
seines apostolischen Selbstgefühls als strafbare Anmassung er-
schien. Hat doch nicht einmal ein Luther einen Zwingli zu
würdigen und zu dulden gewusst; und doch stand dieser jenem
ohne allen Vergleich näher, als ein Paulus selbst den frei-
sinnigsten und begabtesten unter den Judenchristen Palästina^s.
Der enge Zusammenhang des ältesten Christenthums mit
dem Judenthum, welcher aus den vorstehenden Er&rteningen
hervorgeht, wird auch noch durch einige weitere Nachrichten
bestätigt Die Apostelgeschichte (2, 46. 3, 1. 5, 20 f. 42. 21,
20 ff.) sagt uns, dass die Christen in Jerusalem^ und die zwölf
Urapostel an ihrer Spitze, an dem nationalen Gottesdienst
fortwährend theilnahmen, dass sie so gut, wie ihre nichtchrist-
lichen Landsleute, nach mosaischem Ritus Opfer darbrachten
und Gelübde übernahmen, dass sie, wie es c. 21, 20 heisst,
sammt und sonders Eiferer für das Gesetz waren, dass sie
nicht blos überhaupt Juden, sondern auch Juden der strengsten
Uebung sein und bleiben wollten; und nach allem bisherigen
wird uns diess durchaus nicht auffallen. Jakobus besonders,
den Bruder des Herrn, das langjährige und hochgefeierte Ober-
haupt der Gemeinde in Jerusalem, schildert die ebjonitische
Legende bei Hegesippus (um 170) als das Musterbild eines
gesetzesfronmien Israeliten und eines essenischen Heiligen:
als dnen Nasiräer, dessen Haupt von kdnem Scheermesser
23S I^&8 ürchmtcnthiim.
berfthrt wurde; als einen Asceten, welcher sich des Fleisches,
des Weines, der Ehe, der Bäder^ der Salben enthielt, welcher
blos linnene Gewänder trog, und tagtä^ch im Tempel für
das jüdische Volk auf den Knieen lag; und mag auch immer-
hin in dieser Schilderung manches übertrieben sein: dass
Jakobus ^in eifriger Anhänger des Judenthums im Christai-
thum war, lässt sich (schon w^en Apg. 21, 17 ff. 6aL 2, 12)
so wenig bezweifeln, als dass er hiebei seine palästinensischen
Glaubensgenossen, was den allgemeinen Grundsatz betrifft,
(^me Ausnahme, was seine strenge Durchführung anbelangt,
ihrer überwiegenden Mehrheit nach für sich hatte. Diese
ältesten Christa wollten nichts anderes sein, als messias-
glaubige Juden: der Satz, dass Jesus der Messias sei, war
der einzige Lehrsatz, durch den sie sich von ihren Volksge-
nossen aus der pharisäische oder essenischen Sekte unter-
schieden.
Nur aus dem jüdischen Yorstellungskreise konnten daher
auch die näheren Bestinmiungen dieses un^rünglichen Christen-
glaubens genommen sein. „Jesus von Nazareth ist der Mes-
sias,^ so lautet das christliche Dogma. Der Messias aber war
eine der damaligen jüdischen Theologie schon längst nach
allen Seiten hin bekannte Erscheinung, eine nach einem festen
dogmatischen Typus ausgeführte Vorstellung. Aus propheti-
schen Aussprüchen, die meist sehr künstlich und ohne alle
Bücksicht auf ihre eigentliche Meinung gedeutet wurden ; aus
geschichtlichen Vorbildern, deren Auffassung und Benutzung
natürlich der Phantasie gleichfalls den freiesten Spielraum
liess ; aus . der gesteigerten Zusammenfassung alles dessen,
worin der gläubige Israelite das Ideal der Theokratie und
des theokratischen' Fürsten fand, aus den Wünschen und Er-
wartungen , welche sich an die Lage und die Schicksale des
jüdischen Volks anknüpften, aus der tausendjährigen Geschichte
und Hoffaung der Nation hatte sich die Idee des Gottgesandten
entwickelt, der allen Leiden derselben ein Ende machen und
den langersehnten Gottesstaat in seiner glänzendsten Gestalt
verwirklichen sollte. Der. Nachkomme Davids, den die alten
Das UrduristeaÜiiiiii. 239^
Propheten erwartet hatten, war zum „Sohn Gottes" geworden;
und dachten auch bei diesem Ausdruck jedenfalls nur die
wenigsten (wenn überhaupt welche), an ein, übermenschliches
Wesen, so wurde doch die Würde, die Macht und die äussere
Erscheinung des Messias um so mehr in's übernatürliche aus«
gemalt In den Wolken des Himmels, im Glanz der Jehovah««
glorie, im Geldte der himmlischen Heerschaaren sollte er er«*
scheinen, um die Feinde Israelis zu vertilgen, die Heiden theils
- zu bekehren , theils zu vernichten , die unvergängliche Herr*
Schaft des Gottesvolks zu begründen. Vor dieser Erscheinung
sollten die „Geburtswehen des Messias" hergehen, due Zeit
der Noth und des Unglücks, deren Schrecken mit allem Auf-
wand orientalischer Phantasie ausgemalt wurden, und schon
in einen ziemlich feststehenden Typus gebracht waren:, Yer*
finsterung von Sonne und Mond, schreckhafte Natur- und
Himmelserscheinungen, Aufruhr aller Völker gegen Israel, äus-
serste Bedrängniss der heiligen Stadt , Herrschaft der bSsen
Mächte über die Erde — diese und ähnliche Ereignisse waren
es , die als Vorboten des nahenden Betters erwartet wurden.
Um so herrlicher dachte man sich die Zeit der Buhe unter
seiner Herrschaft. Was die ausschweifendste Einbildungskraft
von Glanz und Pracht ersinnen konnte, wurde in ihrer Be-
schreibung vereinigt; die Hauptsache war aber dem frommen
Israeliten das himmlische Jerusalem, welches als die Wohnung
Gottes unter den Menschen vom Himmel auf die verklärte
Erde herabkommen und die Jehovahverehrer fllr ewige Zeiten
in seinen Mauern beherbergen sollte. Auf die Erde wurde
nämlich der Schauplatz des künftigen Gottesreichs durchweg
verl^, und das jüdische Nationalbeiligthum sollte sein Mittel-
punkt sein ; nur eine untergeordnete Abweichung ist es , dass
die einen (wie unsere Apokalypse) ein doppeltes Messiasreich
annahmen, erst ein zeitliches in dem jetzigen, dann ein ewiges
in dem himmlischen Jerusalem, während andere gleich dem
ersten messianischen Reiche ewige Dauer beilegten. Wie leb-
haft sich. aber die jüdische Theologie schon vor der Zerstö-
rung Jerusalems mit dem Bilde der himmlischen Gottesstadt:
. *^y V
240 Dm IJidiiiBteiitlHim.
beschäftigt, and wie vollstftndig sie sidi dasselbe ausgemalt
hatte , sieht man daraus , dass ihre Schilderang in der Offen-
barung des Johannes (21, 10 ff.) fiist keinen Zug enthält,
if elcher sich nicht in der rabbinischen Literatur und in anderen
altjfidischen Schriften, wie die ältesten SibjlHnen und das
-vierte Buch Esra, wiederfände. Einzelheiten, wie die Würfel-
form der Stadt, ihre Edelsteinmauem und ihre Perlenthore,
der Lebensstrom und die Lebensbäume mit ihren Früchten,
haben dort ihre Parallele; und sind auch die Schriften, worin
wir sie finden, theÖweise viel jünger, als unsere Apokalypse,
so beweist doch ihr Zusammentreffen mit der letzteren, dass
sie schon yor dem Ende des apostolischen Zeitalters, und
wahrscheinlich schon in der vorchristlichen Zeit einen Bestand-
theil der jüdischen Messiasei'wartung ausmachten. Sind doch
auch jene zwei Ungeheuer, welche nach den Rabbinen beim
Festmahl des Messias verzehrt werden sollen, der Fisch Le-
Tiathan und der Ochse Behemoth, schon um den Anfang un-
seres zweiten Jahrhunderts jüdischen und judenchristlichen
Schriftstellern bekannt; und wenn die Eabbinen denselben
Trauben beifügen, deren Beeren man anzapft wie Fässer, so
will ein Mann, der dra Johannes noch gekannt hat, gar aus
dem Munde dieses Apostels, und mittelbar aus dem Christi,
noch viel abenteuerlichere Beschreibungen von den Riesen-
trauben und Biesenähren im Reich des Messias gehört haben.*)
Man sieht deutlich: was wir beim ersten Anblick für eine
späte Ausgeburt rabbinischer Phantasie halten möchten ; das
reicht über die Anfänge unserer Religion hinauf, was zunächst
nur wie ein müssiger Einfall Einzelner aussieht, das war zur
Zeit Jesu Volksglaube, und dieser Glaube wurde alles Ernstes
auch von solchen getheilt, deren Bedeutung wir nicht gering
anschlagen können, so seltsam auch viele von ihren Vorstel-
lungen uns ansprechen.
In diesen Vorstellungskreis trat nun das Christenthum
•) Dieselben werden tiefer unten, in dem Aufeatz über die Tübinger
Schule, angeführt werden.
^>*-
* j
Das Urchristenthum. 241
ein, und es nahm ihn fast vollständig in sich auf. Ob und
inwieweit diess schon von Jesus selbst geschehen ist, kann
hier allerdings nicht untersucht werden ; . ich werde auf diese
Frage an einem andeni Orte zurückkommen.*) Was aber
seine ei*sten und unmittelbaren Schüler betrifft, so steht von
ihnen auch schon nach den bisherigen Erörterungen ausser
Zweifel, dass sie die messianischen Erwartungen ihrer Volks-
genossen in allen Hauptpunkten theilten, und dass sie auch
in ihrem Glauben an den erschienenen Messias keinen Grund
fanden, dieselben aufzugeben. Schon die einzige Apokalypse
würde hiefür vollgültiges Zeugniss ablegen, wenn es über-
haupt noch eines Beweises für das bedürfte, was alle Denk-
male des ältesten Christenthums einstimmig bestätigen. Nur
die dogmatische Befangenheit einer späteren Zeit konnte diese
Zeugnisse überhören, und dasjenige für ein blosses Bild oder
eine unwesentliche Nebensache erklären, was den ersten Chri-
sten für den Kern und Mittelpunkt ihres ganzen Glaubens
gegolten hat.
Ganz unverändert liess sich nun freilich der jüdische
Messiasbegilff in das Christenthum nicht herübemehmen. Die
Juden ei*warteten einen Messias, der in den Wolken des
Himmels kommen sollte, um das ersehnte Gottesreich zu stiften.
Der christliche Messias aber war statt dessen in der anspruchs-
losen Gestalt eines Mannes aus dem Volke, eines umher-
ziehenden Lehrers, in aller Demuth und Niedrigkeit aufge-
treten; er hatte bei der Masse des Volkes nur Lauheit oder
Misstrauen, bei der herrsehenden Klasse leidenschaftlichen
Widei-stand gefunden; er hatte den Tod des Verbrechers er-
litten, und statt des gehofilen Weltreichs hätte er nur die
Herrschaft der Gottergebenheit und der Liebe in den Herzen
begründet. Es liegt hier auch wirklich der tiefste Grund für
die Ablösung der neuen Religion von der alten , für die Ent-
stehung eines Christenthums ausser dem Judenthum. Dass
die Erwartung eines zukünftigen Messias dem Glauben an den
*) In der Abhandlang über Strauss und Benan.
Zeller, Vortrage und Abhandl. \Q
*,^ ^ •*"^**. * ~^
242 ^^ Urchristenthum.
erschienenen weichen musste; dass seine Erscheinung und sein
Schicksal mit der jüdischen Messiasidee in diesem durchgrei-
fenden Widerspruch stand; und was die Hauptsache ist, dass
er selbst diese hohe, reine, gotterfüllte Persönlichkeit war,
dass er dieser Held war, dessen sittliche Grösse den Glauben
an seine Sendung allen jüdischen Yorurtheilen und allem
äusseren Augenschein zum Trotz über seinen Tod hinaus in
voller Lebendigkeit zu erhalten die Kraft hatte — diess ist
es in der That, was der christlichen Kirche ihr Dasein gegeben
hat, diess jener „verschwindende Punkt", in dem, der Lauf
der Geschichte umwandte, und der tiefe Zwiespalt des Geistes
mit sich selbst zunächst für den religiösen Glauben 4ind das
fromme Gemüthsleben sich zu versöhnen begann. Den ersten
Christen jedoch kam diese Bedeutung ihres Meisters noch
nicht rein zum Bewusstsein; für ihre Vorstellung handelte es
sich hier nicht blos um eine Neugestaltung des sittlichen und
religiösen Lebens, sondern diese selbst verknüpfte sich ihnen
unmittelbar wieder mit denselben äusserlichen Vorgängen, von
denen sie als Juden das Heil erwartet hatten. Dass Jesus
der Messias sei, stand ihnen fest. Worin aber die Aufgabe
des Messias bestehe, darüber war kein Jude im Zweifel: er
sollte „das Reich Israel wiederaufrichten" (Apg. 1, 6. Luc.
24, 21), den Thron Davids einnehmen (Luc. 1, 32. Apg. 2, 30),
dem Volke Rettung bringen von seinen Feinden (L. 2, 71).
Und derselbe, welchen Gott hiezu gesandt hatte, war von
diesem Volke verschmäht worden, er hatte am Kreuze ver-
blutet, ohne in der Lage der Nation die mindeste Aenderung
herbeigeführt zu haben. Wie liess sich beides vereinigen, die
üeberzeugung von seiner messianischen Würde und Bestinmiung
und die Thatsachen, welche dieser üeberzeugung widersprachen ?
Der Glaube der Jünger ergriff den Ausweg, welchen der Glaube
in ähnlichen Fällen immer ergriffen hat: was die Gegenwart
verweigerte, wurde von der Zukunft, und natürlich von der
allernächsten Zukunft, gehofft. Hatte Jesus sein messianisches
Werk während seines Lebens nicht vollendet, so erwartete
man diess nur um so mehr von dem auferstandenen und zur
Das Ürchristenthum. 243
Mmmlischen Hen-lichkeit eingegangenen. So lange ihr Meister
lebte, glaubten seine vertrautesten Schüler nicht anders, als
dass er alsbald das messianische Reich aufrichten werde, und
sie Hessen sich in dieser Meinung durch die Andeutungen
über das ihm bevorstehende Schicksal (die freilich unmöglich
€0 bestimmt gelautet haben können, wie unsere Evangelien
diess darstellen) im geringsten nicht irre machen; erst als
sein Tod diese Erwartungen vereitelt hatte, fiengen sie an,
auf seine Wiederkunft zu hoffen, und sein Erdenleben als
eine blosse Vorbereitung ftti- dieselbe zu betrachten: nach
der Auferstehung, heisst es, habe ihnen Jesus über die
Nothwendigkeit seines Todes die Augen geöffnet. Der christ-
liche Messiasglaube wurde jetzt zum Glauben an die Wieder-
kunft des Messias: während das Judenthum nur von einer
einmaligen Erscheinung desselben weiss, lehrt das Chiisten-
thum eine doppelte, die eine in der Vergangenheit, die -andere
in der Zukunft, die eine der jüdischen Messiaserwartung ebenso
widersprechend, wie die andere mit ihr übereinstimmt.
Man ist seit langem gewohnt, und auch nach allen kritischen
Aufklärungen der letzten vierzig Jahre sind die Gebildeten unter
den Christen ihrer Mehrzahl nach dabei geblieben, die sichtbare
Wiederkunft Christi unter dasjenige im neuen Testamente zu
rechnen, was nur bildlich, oder nur aus Anbequemung, dem
jüdischen Volksglauben zuliebe, gesagt sei ; wenn Christus und
die Apostel vom Gottesreich reden, so soll damit die christ-
liche Kirche, wie sie sich seitdem geschichtlich entwickelt hat,
wenn sie vom Kommen des Henn sprechen, soll seine Offen-
l)arung in der Geschichte, oder unser Kommen zu ihm nach
dem Tode gemeint sein. Diese Vorstellung ist aber das will-
kührlichste und ungeschichtlichste, was man sich denken kann.
Wir freilich wissen mit jener sichtbaren Wiederkunft nichts
mehr anzufangen, und selbst für die wunderglaubigen unter
uns ist sie bedeutungslos geworden, eine dogmatische Antiqui-
tät, welche die einen ganz bei Seite legen, die andern eben
nur aus Respekt vor dem Buchstaben der Schrift mit sich
fortschleppen, die aber alle aus ihrem praktischen Gebrauch
16*
244 ^fts ürchristenthum.
und Interesse entfernt haben; wir freilich wissen, dass der
wahre Gottesstaat nicht in Gestalt einer sichtbaren Stadt mit
Mauern und Häusern vom Himmel herabzukommen braucht,
sondern von innen heraus im Geist und Gemüth der Menschen
sich aufbaut. Die ersten Christen wussten aber eben dieses
noch nicht, und sie waren so wenig geneigt, sich auf das sitt-
liche Reich Gottes zu ^beschränken, dass vielmehr die Ei*war-
tung der sichtbaren Wiederkunft Christi und des äusseren
Gottesreichs den greifbaren Mittelpunkt ihrer Dogmatik, das
wirksamste Motiv ihrer religiösen Begeisterung ausmachte.
Auch das neue Testament steht noch ganz auf diesem Boden;
eine Ausnahme macht nur das Johannesevangelium, für dessen
jüngeren Ursprung und vorgeschrittene Entwickelungsstufe
diese Abneigung gegen jenen alterthümlichen Glauben höchst
bezeichnend ist. Zwar begegnen wir auch bei Lukas (17, 20)
der Erklärung: „das Reich Gottes kommt nicht mit Warten
(d. h. seine Ankunft wird durch ungeduldiges Warten nicht
beschleunigt; Luther übersetzt unrichtig: „nicht mit äusser-
lichen Geberden") und man wird nicht sagen : siehe hier, oder
siehe da ist es; denn siehe das Reich Gottes ist inwendig in
euch." Aber die Meinung kann dabei keinenfalls die sein,
das äussere Kommen des Gottesreichs zu läugnen, sondern
jene Worte gelten nur der Ungeduld, welche einen bestinunten
Zeitpunkt für sein Erscheinen festsetzt, der Leichtgläubigkeit,
welche sich bereden lässt, der Messias habe sich da oder dort
schon gezeigt, der Aeusserlichkeit, welche die sittlichen Be-
dingungen seines Kommens übersieht; dass er aber konmien
werde, und zwar wie der Blitz, der plötzlich aufleuchtend
allen sichtbar wird, diess wird umnittelbar nachher ausdrück-
lich versichert. Sonst ohnedem wird aller Oiten, bei Lukas
so gut , wie im übrigen . neuen Testament , von der Wieder-
kunft Christi in den Wolken mit voller Bestimmtheit gesprochen.
Die sämmtlichen neutestamentlichen Schriftsteller, ausser dem
vierten Evangelisten, hegen diese Erwartung nicht blos alles
Ernstes, sondern sie ist auch für sie von so entscheidender
Wichtigkeit, dass sie mit derselben, ihrer eigenen Ansicht
Das ürchristenthum. 245
nach, den Grundstein ihres Glaubens, den Zielpunkt ihrer
Hoffnung verlieren würden. Der Belege finden sich fast so
Tiele, als Kapitel im neuen Testament; um aber ein übriges
zu thun , mag ein^ Anzahl der beweisendsten Stellen unten
angemerkt werden. *) Diese Stellen sprechen sich so klar und
bestimmt aus, sie sind in einem so ernsten und durchaus lehr-
haften Tone gehalten, dass es nur als die äusserste Willktihr
«nd Künstelei bezeichnet werden kann, wenn selbst Schleier-
macher die Lehre von der Wiederkunft Christi aus dem neuen
Testament wegzudeuten versuchte. Im Qegentheil : diese Lehre
vvar mehr als ein Jahrhundert lang der Brennpunkt des Chri-
fitenthums, und mit den neutestamentlichen stimmen hierin
auch die ausserkanonischea Schriften überein. Wie nahe aber
freilich das Christenthum hiemit dem Judenthum noch stand,
liegt auf der Hand. Der einzige bewusste Unterschied beider
bestand in der ersten Zeit darin, dass die Christen von der
Wiederkunft des Messias erwarteten, was nach jüdischer
Meinung sein erstes und einziges Kommen bringen sollte; der
Inhalt dieser Erwartung war aber bei beiden der gleiche.
-„Die Juden, sagt eine altkirchliche Schrift, waren über die
erste Ankunft des Hen^n im In-thum, und diess ist der
einzige Streitpunkt zwischen ihnen und uns." Dass diess
4er getreue Ausdruck für den Glauben der ältesten Kirche
ist, steht ausser Zweifel. Ja selbst dieser Untei-schied ist ein
£iessender; denn für das eigentlich messianische Kommen galt
den ersten Christen so gut , wie den Juden, nur das Kommen
des Messias in den Wolken, sein irdisches Leben dagegen
erschien ihnen als eine blosse Vorbereitung, er sollte in dem-
selben strenggenommen noch nicht al3 Messias, sondern erst
in der Rolle seines eigenen Vorläufers und Verkündigers auf-
getreten sein. Vgl. Apg. 3, 20. Dass nichtsdestoweniger auch
in diesem Judenchristenthum schon der fruchtbare Keim dessen
*) Von der Offenbarung des; Johannes war schon oben die Rede, weiter
vgl. m. Matth. c. 24 f. 16, 27 f. 26, 64. Marc. c. 13. Luc. c. 21. 9, 26,
Apg. 1, 11. 3, 20. 1 Kor. 15, 52. 1 Thess. 3, 13. 4, 16 ff. 2 Thess. 1, 7 f.
2 Petr. 3, 9 f. Jud. 14 ff 1 Joh. 2, 28.
,♦ •
.« -■ V -
246
Das ürcbristenthum.
lag, was in der Folge aus ihm heryorgieng, ist schon bemerkt
worden; aber seinen Aiihängeni selbst verbarg er sich in der
Schaale, die sie von ihm nicht zu trennen wussten, und was
späterhin als ein unhaltbares Aussenwerk verlassen wurde^
das erschien ihnen, wie diess ja gerade bei Glaubenssätzen so
unendlich oft vorkommt, als die Hauptsache.
Diese Bedeutung konnte aber die Wiederkunft Christi
für die urchristliche Zeit nur dann haben, wenn sie für un-
mittelbar bevorstehend gehalten wurde. Nur darin lag der
praktische Werth dieser Vorstellung, dass jeder glauben konnte,
die Parusie selbst noch zu erleben, wie sie umgekehrt auch
für die strenggläubigsten unter den jetzigen Christen ihre
Wichtigkeit desshalb verloren hat, weil diese fast ohne Aus-
nahme auf das baldige Eintreten jenes Ereignisses verzichtet
haben. Wenn das Weltende dem Einzelnen nicht näh^ steht,
als das natürliche Ende seines Lebens, so hat jenes für ihn
keine persönliche Bedeutung mehr, es ist daher nicht mehr
Gegenstand des praktischen und religiösen, sondern nur noch
des theoretischen, naturwissenschaftlichen oder theologischen
Interesses. Den Christen des ersten Jahrhunderts dagegen
war es noch ernst mit ihrem Glauben daran, er war ihnen
Herzenssache, und darum hofften sie es auch noch selbst zu
erleben: hätte ihnen jemand gesagt, dass die Wiederkunft
Christi ei'st nach ein paar tausend Jahren erfolgen werde, so
hätte er den innersten Kern ihrer messianischen HofiEhungen
angetastet. „Der Herr ist nahe" (Phil. 4, 5); „es ist nahe
gekommen das Ende aller Dinge" (1 Petr. 4, 5) ; „die Zukunft
des Herrn ist nahe" (Jak. 5, 8); „es ist die letzte Stunde^*^
(1 Joh. 2, 18) ; „noch über eine kleine Weile, so wird kommen,
der da kommen soll, und nicht verziehen" (Ebr. 10, 37) —
diess ist der einstimmige Buf der neutestamentlichen Schriften.
„Wahrlich, ich sage euch," erklärt Christus Matth. 16, 28
(Marc, 9, 1. Luc. 9, 27), „es stehen etliche hier, die nicht
schmecken werden den Tod, bis dass sie des Menschen Sohn
kommen sehen in seinem Eeiph." „Wahrlich ich sage euch,*^
heisst es Matth. 24, 34 (Marc. 13, 30. Luc. 21, 32), „diess
Das ürchristenthum. 247
Geschlecht wird nicht vergehen, bis dass dieses alles [die
Zerstöiimg Jerusalems und die Wiederkunft Christi] geschehe;"
und merkwürdig genug wird beigefugt: „Himmel und Erde
werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen."
Noch früher erwartet die Apokalypse die letzte Katastrophe:
vierthalb Jahre lang, glaubt sie, werde Jerusalem mit Aus-
nahme des Tempels von den Bömem besetzt sein, daim werde
das Thier aus dem Abgrund, der Kaiser Nero, mit dämonischer
Hülfe, an der Spitze orientalischer Heerschaaren , als Anti-
christ wiederkehren, alsbald aber auch von dem persönlich
erscheinenden Christus vernichtet werden. (M. vgl. c. 11. 13.
17. 19, die Zeitrechnung betreffend insbesondere 11, 2. 3. 12,
6. 14. 13, 5.). Die Wiederkunft Christi hätte demnach, da
die Apokalypse in- der zweiten Hälfte des Jahrs 68 nach
Christus verfasst ist, etwa im Jahr 72 erfolgen müssen. Selbst
Paulus zeigt sich bei diesem Punkte ganz in den Erwaiiungen
seiner Zeitgenossen befangen. „Es wird die Posaune schallen,"
sagt er 1 Kor. 15, 52, „und die Todten werden auferstehen
unverweslich, und wir werden verwandelt werden." Noch
weiter ist diess im ersten Thessalonicherbrief 4, 16 ausgeführt.
„Denn das sagen wir euch als ein Wort des Herrn, dass wir,
die wir leben und übrigbleiben bis zur Ankunft des Herrn,
den Entschlafenen nicht zuvorkommen werden. Denn der
Herr selbst wird unter- Schlachtgeschrei, mit dem Rufe des
Erzengels und der Posaune Gottes, herabsteigen vom Himmel,
und die in Christus gestorbenen werden zuerst aufstehen;
dann werden wir, die wir leben und übrigbleiben, zugleich
mit ihnen entrückt werden in den Wolken, dem Hern ent-
gegen in die Luft" u. s.- w. Noch ganz späte Schriften , wie
der zweite Petrusbrief (3, 3 flf.), der es bereits nöthig findet,
das lange Ausbleiben der Wiederkunft zu entschuldigen, kön-
nen sich doch von dieser Erwartung selbst nicht trennen:
das Johannesevangelium ist die einzige unter den neutesta-
mentlichen Schriften, welche an die Stelle des sichtbaren
Kommens die geistige Einkehr Christi in's Gemüth setzt (c*
14, 3. 18 flf. 16, 16 ff.).
248 I^fts ürchristentham.
Man sieht, es gehört etwas dazu, die Nähe der^Parusie
aus dem neuen Testament zu entfernen. Aber welche Leistung
wäre Theologen unmöglich, wenn es sich darum handelt, miss-
liebige Vorstellungen aus der Schrift hinweg- und andere dafür
hineinzudeuten? Auch hier hat die Exegese mehr als Ein
Meisterstück abgelegt. Wenn Paulus sagt : die Todten werden
auferstehen, wir anderen aber werden verwandelt werden, so
sollte diess bedeuten: wir, die todten, werden auferstehen,
die übrigen aber werden verwandelt werden ; wenn Matth. 16,
28 versichert wird, ein Theil der Anwesenden werde des
Menschen Sohn in seinem Beich kommen sehen, so soll dabei
an alles andere eher zu denken sein, als an die persönliche
Wiederkunft des Messias; wenn in unzähligen anderen Stellen
von der Nähe dieser Wiederkunft gesprochen wird, und Er-
mahnungen für die Gegenwart der sprechenden daraus abge-
leitet werden, so soll nichts hindern, sich dieselbe im Sinn
der neutestamentlichen Männer noch .einige Jahrtausende ent-
fernt ^zu denken ; von den hundert und aber hundert an Ge-
waltsamkeit sich übertreflFenden Deutungen der Apokalypse
nicht zu reden. Ein besonders glänzendes Beispiel dieses exe-
getischen Scharfsinns bieten die Beden, welche Matth. 24
(Marc. 13. Luc. 21) berichtet sind. Wenn hier V. 3 nach der
Wiederkunft Christi und der Welt Ende gefragt wird, und
wenn V. 29 ff. vom Kommen des Megschensohns in den Wol-
ken, von den Engeln mit der Gerichtsposaune, von der Ver-
finsterung der Sonne und des Mondes und dem Herabfallen
der Sterne die Bede ist, so machte es den Erklärern nicht
die geringste Schwierigkeit, alles diess auf die Zerstörung
Jerusalems, die Ausbreitung des Christenthimis und andere
zeitgeschichtliche Ereignisse zu deuten. Wenn ferner zuerst
(V. 15 — 28) die Belagerung Jerusalems durch die Bömer
beschrieben, und (Jann V. 29 fortgefahren wird: „alsbald aber
nach der Trübsal jener Tage werden Sonne und Mond ihren
Schein verlieren" u. s. w., so sollte kein Ginind zu finden
"sein, um nicht das zweite von diesen Ereignissen einige tau-
send Jahre später zu setzen, als das erste. Wenn es endlich
/
^'*^.:
Das Urchristenthum.
249
in demselben Zusammenhang V. 34 heilst; „dieses Geschlecht
wird nicht vergehen, bis diess alles geschieht," so meinte man,
die Worte „diess alles" seien doch keinenfalls so zu betonen,
dass nicht die Hauptsache, die Wiederkunft Christi, davon
auszunehmen wäre; oder man erklärte wohl auch „dieses
Geschlecht" von dem jüdischen Volke ,| dem hier eine Fort-
dauer bis an's Ende der Tage verheissen werde, unbekümmert
darum, dass der griechische Sprachgebrauch diess verbietet,
und dass es widersinnig wäre, auf die Frage (V. 3): „wann
wird diess geschehen?" zu antworten: die jüdische Nation
wird nicht aussterben, bis es geschehen ist. Andere erfanden
zur Kettung ihrer dogmatischen Voraussetzungen die „prophe-
tische Perspektive," d. h. sie behaupteten, vor dem begeisterten
Blicke des Propheten verschwinden die Untei-schiede der Zeiten,
so dass es fQr ihn nichts ausmache, in Einem Athem, und
ohne jede Andeutung ihrer Verschiedenheit, von zwei Ereig-
nissen zu reden, von denen das eine morgen, das andere
nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden eintreffen sollte. Ein
falscher Prophet sollte er aber danim natürlich doch nicht sein,
wenn er auch beide Vorfälle ausdiUcklich für gleichzeitig er-
klärte. Zuletzt ist dann noch Hengstenberg auf die Auskunft
verfallen, das Kommen auf den Wolken finde bei jedem von
jenen Gottesgerichten statt, wie deren in der Geschichte schon
unzählige eingetreten seien, z. B. die^Zerstörung Jerusalems,
die Schlacht bei Jena u. s. w. — eine Ausrede, von der man
nicht weiss, ob man ihren Aberwitz, falls es ihrem Urheber
damit ernst war, oder ihre Frivolität, wenn es ihm nicht damit
ernst war, mehr bewundern soll. Man müsste Anstand nehmen,
solcher Einfälle auch nur zu erwähnen), wenn es irgend einen
Widersinn gäbe, dem nicht eine Menge von unseren „glaubi-
gen" Theologen in ihrer Rathlosigkeit bereitwilligst Beifall
geklatscht hätte, sobald er auch nur den entferntesten Schim-
mer von apologetischer Brauchbarkeit zeigte.
Ich bin auf die Vorstellungen der ältesten Kirche von
der Wiederkunft Christi etwas näher eingetreten, weil es keinen
anderen Punkt giebt, an welchem sich die Eigenthümlickeit
•. * ' *y^' ' ■*-
250 ^M Urchristenthtun.
des ältesten Christenthums und sein Unterschied von dem
heutigen schärfer herausstellte. Welche weit auseinander-
liegenden Gegensätze, das Ghristenthum unserer Tage, in seiner
weltbeherrschenden Selbständigkeit, in seiner Ausbreitung zu
unzähligen kirchlichen und staatlichen Gemeinwesen, in seiner
allseitigen Yerschlingung mit der sonstigen Bildung, dieses
freie, universalistische, Welt gewordene Christenthum , und
das Christenthum der Urzeit, welches von aller weltlichen
Bildung und Thätigkeit abgekehrt das Weltende sehnsüchtig
erharrte, und es jeden Augenblick erleben zu können glaubte;
welches noch unfähig, auf eigenen Füssen zu stehen, und fast
ohne Bewusstsein über sein eigentliches Wesen in der starren
Umhüllung des Judenthums verpuppt lag, und welches an
seiner natürlichen Entwicklungsfähigkeit verzweifelnd nur von
einer wunderbaren, gewaltsamen Umkehrung des Weltlaufs —
nicht seine Befreiung von jener Hülle, sondern ihre Befestigung
für alle Ewigkeit erwartete ! und wie viele und durchgreifende
Veränderungen mussten vorangehen, ehe sich die jetzige Ge-
stalt des religiösen Lebens aus jener urchristlichen entwickeln
konnte !
Die erste und wichtigste von diesen Veränderungen war
die Losreissung des Christenthums vom Judenthum, und der,
welcher dieselbe bewirkt hat, war der Apostel Paulus. Man
ist freilich viel zu weit gegangen, wenn schon behauptet wurde,
nicht Jesus, sondern Paulus, sei der eigentliche Stifter des
Christenthums; wie vielmehr dieser selbst nichts anderes sein
wollte, als das reine Werkzeug seines Herrn, so wird auch
eine unbefangene Geschichtsbetrachtung zugeben müssen, dass
nur der Gedanke an das in Jesus erschienene Heil, nur die
Kunde von der Person, der Lehre und den Schicksalen Jesu
den grossen Heidenapostel zu dem machen konnte, was er
geworden ist. Ebenso gewiss ist aber auch, dass das von
Jesus ausgegangene religiöse Leben nicht über den engen
Kreis einer jüdischen Sekte hinausgekommen und in dieser
Gebundenheit am Ende wieder erstickt sein würde, wenn
nicht ein Mann, wie Paulus, sein inneres Wesen herausgekehrt,
Das ürchristenthum. 251
und mit einer kühnen That des Geistes seinen principiellen
Unterschied vom Judenthum zum Bewusstsein gebracht hätte»
Das messianische Heil ist nicht blos für die Juden bestimmt,
sondern ganz in der gleichen Welse auch für die Heiden ; da&
Ghristenthum ist nicht blos Vollendung des Judenthums,. son-
dern etwas wesentlich neues: erst im Ghristenthum wird der
Aufgabe der Religion Genüge geleistet, die „Gerechtigkeit vor
Gott'' herbeigeführt, das Judenthum dagegen verhält sich zu
ihm nur, wie das Schattenbild zur Sache, wie der Gehorsam
des Knaben zur Freiheit des Mannes; für den üebertritt zum
Ghristenthum kann daher der vorgängige Eintritt in den Mo-
saismus so wenig verlangt werden, dass vielmehr umgekehrt
auch für die geborenen Juden durch denselben die Gültigkeit
des jüdischen Religionsgesetzes als solchen aufholt — diess
sind die Gedanken, von denen die ganze apostolische Thätig-
keit des Paulus getragen ist, und durch die er dem Ghristen-
thum seine Selbständigkeit erobert hat. Im Dienste dieser
Gedanken stehen alle die Lehren, durch welche Paulus der
Begründer der christlichen Dogmatik geworden ist. Eine neue
Religion konnte nur desshalb nöthig sein, weil die Menschheit
durch die alte ihre Bestimmung nicht erreichen konnte; es
können nur desswegen alle ohne Ausnahme auf den Glauben
an Ghristus angewiesen sein, weil es unmöglich ist, durch
Gesetzeserfiillung das göttliche Wohlgefallen zu erlangen.
Warum ist diess aber unmöglich? Weil es unmöglich ist,
antwortet Paulus, das Gesetz so zu erfüllen, wie es erfüllt
sein will, weil alle ohne Ausnahme Sünder sind; und Sünder
sind alle, weil alle mit dem „Fleische'^ als einer ihr höheres
Leben störenden, mit dem Geist im Streit liegenden Macht
behaftet sind. Sofern endlich diese Thatsache in ihrer Allge-
meinheit wieder eine Erkläi-ung . verlangt , verweist uns der
Apostel auf die That des ersten Menschen, durch welche jener
Widerstreit und mit ihm die Sünde in die menschliche Natur
gekommen sei. Ist es jiber hiernach schlechterdings unmöglich^
das Wohlgefallen Gottes sich durch eigenes Thun zu erwerben,
sind alle der Sünde und ihrer Strafe, dem Tode, verfallen»
•T-.X'**»
252 ^fts ürchristenthom.
SO bleibt uns nur übrig, unser Heil vom Verzicht auf das
eigene Thun und die eigene Gerechtigkeit, vom Glauben an
Christus zu erwarten: er hat in seinem Tode den Fluch des
Gesetzes gelöst, und uns von der Strafe, die es dem üeber-
treter androhte, befieit, indem er sie selbst übernahm ; er hat
aber zugleich ' auch*die Macht der Sünde gebrochen, indem er
in seinem Leibe das Fleisch und mit ihm die Sünde abge-
tödtet, das Strafurtheil gegen die Sünde vollzogen hat. So ist
es nun dem Menschen möglich gemacht, sich vor Gott gerecht-
fertigt zu wissen, sich nicht mehr als Knecht Gottes, sondern
als Kind Gottes zu fühlen ; an die Stelle des Gesetzes, welches
von aussenher befiehlt, ist der „Geist Gottes", die innerlich
wirkende Macht des religiösen Lebens, getreten; der äussere
Kultus mit seinen Opfern und Gärimonien erscheint nicht blos
entbehrlich, sondern der wahren Frömmigkeit geradezu hinder-
lich; das Evangelium und das Gesetz, der Glaube und die
Beschneidung sind unvereinbar; wir bedüifen keiner Priester-
schaft mehr, denn ein jeder tritt für sein Yerhältniss zu Gott
selbst ein, dieses Yerhältniss ist ein durchaus unmittelbares
und freies geworden. ,So geht hier zuerst die Einsicht auf,
dass das Ghristenthum einen ganz neuen religiösen Inhalt in
das Leben der Menschheit eingeführt habe, dass ihr jetzt erst
der Weg zu Gott gezeigt und eröflfnet sei: die christliche Ge-
meinde tritt als eine durchaus selbständige , auf einem eigen-
thümlichen Grunde beruhende Religionsgesellschaft mit dem
Anspruch, die alleinseligmachende Glaubensweise zu besitzen
und alle Völker in sich aufzunehmen, nicht allein der heid-
nischen, sondern auch der jüdischen Beligion gegenüber.
Wie gewaltig diese paulinische Theologie in die Entwick-
lung der christlichen Kirche und ebendamit in die Geschichte
unseres Geschlechts eingriff, sieht man am besten an dem
heftigen Widerstand, den sie in der Christengemeinde selbst
fand, an der tiefgehenden Bewegung, die sie hervorrief, an
der Zeit und den Kämpfen, die es kostete, bis sich auch nur
ihre Grundgedanken durchgesetzt hatten. Die Spuren dieses
Widei-standes lassen sich, wie schon oben gezeigt wurde, von
Das Urchristenthum. 255
den Lebzeiten des Apostels bis über die Mitte des zweiten
Jahrhundeils , und in einzelnen Auslaufen! noch viel weiter
herab, deutlich verfolgen; und derselbe gieng ursprünglich
nicht etwa nur von einigen wenigen aus, die sich dadurch
von der Mehrzahl in der Kirche getrennt hätten, sondern er
hatte in der jerusalemitischen ürgemeinde selbst seinen Haupt*
sitz, und an den Häuptern des Apostelkreises, an den ange-
sehensten unter den persönlichen Schülern Jesu, seinen Rück-
halt. Paulus seinerseits suchte zwar fortwährend sich mit den
Palästinensern zu verständigen; er unternahm desshalb die
Keise nach Jerusalem, über die er Gal. 2 berichtet, und in
derselben Absicht geschah es ohne Zweifel, dass er vor seinem
letzten Besuch in der jüdischen Hauptstadt die grosse Kollekte
mit jenem ausserordentlichen Eifer betrieb, den wir aus 2 Kor.
8 f. kennen lernen: durch eine grossartige Liebesthat von
Seiten der Heidenchristen sollten die Vorurtheile der Juden-
christen gegen sie widerlegt und für die Aechtheit ihres Chri-
stenthums der thatsächliche Beweis geführt werden. Aber
wenn ihm diese Absicht bei den Gegnern so wenig gelang,^
dass sein Liebeswerk selbst zu neuen Gehässigkeiten gemiss-
braucht wurde,*) so gieng auch bei ihm die Friedensliebe
nicht so weit, dass er ihr die Berechtigung seines Standpunktes
und die Unabhängigkeit seines Wirkens zum Opfer zu bringen
vermocht hätte. Es lag mithin hier ein tiefer Gegensatz vor,,
der auch die Häupter der werdenden Kirche, die apostolischen
Verkündiger der neuen Lehre, gegen einander in Spannung
setzte. Die Folgezeit freilich konnte diess nicht mehr zugeben.
In demselben Masse, wie der Streit des Judaismus und Pauli-
nismus in der Kirche sich ausglich, verschwand auch die Er-
innerung an seine Bedeutung und am Ende selbst an sein
Dasein; je höher die Vorstellungen von den Aposteln stiegen^
je unbedingter die Kirche ihre Lehre und ihre Einrichtungen
auf die apostolische Ueberlieferung gründete, um so weniger
konnte sie bezweifeln, dass die Apostel in allen Stücken durch-
*) M. s. hierüber, was S. 226 bemerkt ist
254 ^^ UrchristenÜLuiiL
aus einstimmig gewesen seien, und so gewöhnte man sich
dann , sie alle zu einer unterschiedslosen Einheit zusammen-
zufassen, alle Gegensätze der Einzelnen und der Paitheien
über der vermeintlichen Einerleiheit der ihnen allen gleich-
massig geoffenbarten Lehre zu vergessen. Derselben Gewohn-
heit folgen auch heute noch weit die meisten. Man redet
von den Aposteln im allgemeinen, als ob man damit lauter
gleichdenkende und in jeder Beziehung gleichgesinnte Männ^
bezeichnete, und wenn man etwa auch verschiedene Lehr-
b^riffe im neuen Testament unterscheidet, so macht doch
selten einer von unsem Theologen so Ernst mit diesem unter-
schied, wie diess in Baur's lichtvollen Vorlesungen über neu-
testamentliche Theologie geschehen ist: man lässt jeden neu-
testamentlichen Schriftsteller im Grunde dasselbe sagen, wie
alle übrigen, nur mit etwas anderen Worten, an ernstliche
Unterschiede dagegen, an Widersprüche und Zerwürfnisse,
soll in ihrer Lehre so wenig, als in ihrem persönlichen Ver-
halten, gedacht werden. Eine unbefangene Geschichtsforschung
wird aber diese Vorstellung weder mit den unbestreitbarsten
Thatsachen noch mit der sonstigen geschichtlichen Analogie
in Einklang zu bringen wissen. So tiefe Umwälzungen im
Leben der Menschheit, wie die Entstehung einer neuen Welt-
religion, vollziehen sich niemals ohne die häi*testen Kämpfe;
und diese Kämpfe werden nicht blos zwischen denen gefühi-t,
welche der neuen geschichtlichen Bildung beitreten, und denen,
die ihr widerstreben ; sondern auch unter den ersteren selbst
wird es immer, je grösser ihre geschichtlichen Aufgaben sind,
um so mehr, zu Gegensätzen kommen, die erst nach längerer
Zeit ihre Ausgleichung finden, zu einer Verschiedenheit der
Auffassungen und der Ansichten, aus der sich nicht ohne ernst-
liche Reibungen ein allgemeineres Einverständniss über Ziele
und Wege herausarbeitet. Wenn selbst die Reformatoren des
sechszehnten Jahrhunderts, bei aller Uebereinstimmung in den
Hauptpunkten, doch über die nähere Fassung, die Tragweite
und die Consequenzen ihrer Grundsätze sich nicht zu einigen
im Stande wareiL, wie lässt sich annehmen, dass diess im
Das Urchristenthum. 255
m
ersten unter .viel tiefer gehenden Gegensätzen ohne weiteres
gelangen sein sollte? dass diejenigen, die auch als Christen
noch Juden bleiben wollten, mit denen, 'deren Grundgedanke
die Unvereinbarkeit von Christenthum und Judenthum war,
friedlich Hand in Hand gehen konnten? Und der Augenschein
zeigt ja auch, wie wenig diess der Fall war. Wir haben schon
oben gehört, welchen Angriffen sich Paulus während seiner
ganzen Wirksamkeit von judenchristlicher Seite ausgesetzt
fand; wir haben uns überzeugt, dass sich diese Gegner nicht
mit Unrecht auf die Gemeinde in Jerusalem und ihre Führer,
die älteren Apostel, beriefen; vnr haben uns von einem der
letzteren selbst in der Apokalypse sagen lassen, wie tief er
noch in jüdischen Erwartungen und Vonirtheilen befangen war,
und wie wenig er sich in die freieren Grundsätze des paulini-
schen Ghristenthums zu finden wusste; wir haben gesehen,
dass noch im zweiten Jahrhundert die Apostelgeschichte die
eingreifendsten Zugeständnisse an den Judaismus nöthig findet,
um seine Abneigung gegen den Heidenapostel und sein Werk
zu beschwichtigen, dass noch viel weiter herab bei den Nach-
kommen der palästinensischen Gemeinden, den Ebjoniten, die
gehässigsten Behauptungen über Paulus im Umlauf waren.
Was andererseits Paulus betrifft , so sehe man nur , wie bitter
er sich (2 Kor. 11, 5. 18. 12, 11) den „hohen Aposteln" gegen-
überstellt; man lese seine Erklämng Gal. 2, 6, dass er sich
um die jerusalemitischen Auktoritäten nichts bekümmere ; man
erinnere sich seines nachdrücklichen Auftretens gegen Petrus
(Gal. 2, 14), und des Unwillens, mit dem er noch lange nach-
her das Benehmen des Apostelfllrsten kurzweg eine verwei-fliche
Heuchelei nennt; man vergesse nicht, dass er auch schon un-
mittelbar nach seiner Bekehrung (Gal. 1, 16 f.) nicht nöthig
gefunden hatte, sich mit den Urapopteln, mit „Fleisch und
Blut" zu besprechen, dass er sich seine Auffassung des Ghri-
stenthums und seiner Lehre ganz selbständig ausbildete, und
seinen apostolischen Beruf vollkommen unabhängig von seinen
Vorgängern betrieb — man beachte diese und ähnliche Er-
scheinungen auf beiden Seiten, und man höre endlich einmal
•*r ' .^*T^^ -
256 ^fts ürchristenthum.
auf, für den apostolischen Kreis diese Einstimmigkeit, und für
das älteste Christenthum diese ruhige Entwickelung ohne in-
nere Kämpfe und Gegensätze vorauszusetzen, die gerade bei
den Anfängen einer so weltumwälzenden, aus der tiefsten
Gährung der Geister entsprungenen Bewegung am wenigsten
möglich war. Aus dem Bedürfhiss der Erbauung kann aller-
dings der Wunsch hervorgehen , in der apostolischen Zeit das
reine, durch keinen Missklang getrübte Urbild des christlichen
Lebens anzuschauen; eine geschichtliche Betrachtung dagegen
wird auch für diese Zeit die allgemeinen Gesetze der geschicht-
lichen Entwicklung geltend machen, und am Ende von der
Grösse des Christenthums nichts verloren, sondern dieselbe
vielmehr erst recht verstanden haben, wenn sie die Hemmun-
gen nachweist, durch welche sich der von Christus ausgegan-
gene Strom eines neuen geistigen Lebens Bahn brechen musste.
Dieser Kampf des freieren paulinischen Christenthums
mit dem älteren judenchristlichen oder ebjonitischen . Stand-
punkt bildet (nach Baur's folgenreicher Entdeckung) ein
volles Jahrhundert hindurch den Hauptinhalt der christlichen
Kirchen- und Dogmengeschichte, und die verschiedenen Wen-
dungen desselben lassen sich nicht blos aus kndei-weitigen
Quellen, sondern noch deutlicher und unmittelbarer in solchen
Schriften nachweisen, die als Werke von Aposteln und Apostel-
schülem in unserer neutestamentlichen Sammlung eine Stelle
gefunden haben.
In der nächsten Zeit nach dem Tode des Paulus war nun
die Trennung der Partheien ohne Zweifel eine sehr schroffe.
Da das Heiden christenthum einmal da war, und da die grosse
Mehrheit in der Kirche aus Heidenchristen bestand, musste
man es sich freilich gefallen lassen, und wenigstens ein Theil
der Judenchristen hatte schon frühe darauf verzichtet, die
getauften Heiden der Beschneidung zu unterwerfen: in seinen
Briefen an die Korinther und die Römer hat Paulus diesen
Anspruch nicht mehr abzuwehren, und die Offenbarung des
Johannes macht ihren „Nikolaiten", den paulinischen Christen,
zwar den Genuss von Götzenopferfleisch und die üebertretung
Das Urchristenthum« 257
der jüdischen Ehegesetze zum Vorwurf, von den übrigen Ge-
setzesYorschriften dagegen und von der Beschneidung schweigt
sie nicht blos, sondern sie selbst kennt (c. 7) eine unzählbare
Menge von Glaubigen aus allen Völkern, die zu dem jüdischen
Grundstamm der Gottesgemeinde hinzugekommen sind. Aber
es war' noch längere Zeit blos ein Theil der Judenchristen, der
80 dachte, andere dagegen behaupteten noch zu Justin's Zeit
(um 150) und später, nur durch den vollständigen Uebertritt
zum Judenthum ^ könne der Heide am messianischen Reich
und seiner Seligkeit Antheil erhalten, und der Verfasser der
Apostelgeschichte muss diese Ansicht sogar noch sehr ver-
breitet und einflussreich gefunden haben, da er sonst keinen
Anlass gehabt hätte, dem Judaismus in seiner Dai*stellung alle
die Zugeständnisse zu machen, die er ihm gemacht hat; und
auch bei den milder gesinnten war jene Anerkennung des
Heidenchristenthums doch nur eine bedingte. Die getauften
Heiden wurden auch von ihnen nur wie jüdische Proselyten
angesehen, und es wurden von denselben ähnliche Rücksichten
auf die jüdischen Speise- und Ehegesetze verlangt, wie von
diesen ; jene vollständige Lossagung von der jüdischen Lebens-
weise, die ein Paulus für den Christen so natürlich fand, war
auch den gemässigteren aus der judenchristlichen Parthei ein
Gräuel (der Apokalyptiker z. B. weiss sich über diese „Teufels-
lehre'' nicht stark genug auszudrücken), die paulinische Lehre
von der Rechtfertigung^ durch den Glauben, ohne Gesetzes-
werke, blieb ihnen unverständlich, und gegen die Person des
Apostels, dieses Apostaten vom väterlichen Gesetz, hegten
sie ein so unüberwindliches Vorurtheil, dass noch tief in's
zweite Jahrhundert hinein, und lange nachdem sein grosses
Werk sich die allgemeine Anerkennung erzwungen hatte, die
Angriffe gegen ihn fortgiengen. Von den schrofferen wurde
er bald versteckter, als Magier Simon, bald auch offen ge-
schmäht, die gemässigteren pflegten ihn wenigstens zu igno-
riren und seine Verdienste zu verkleinem ; selbst sein eigenstes
Werk, die Ausbreitung des Christenthttms über den heidni-
schen Westen, wurde von der ebjonitischen Sage auf Petrus
Z«Uer, Yortzige und A^lnndL yj
258 I>fts ürchristenthnitt.
übertragen, nnd auch die herrschende kirchliche üeberlieferong
räumte dieser Partheilüge, wie me finden werden, solche Macht
über sich ein ; dass dem Hamptd der Palästinenser ' von der
grossen weltgeschichtlichM That des Heidenapostels der Löwen-
theil zufiel.
Wie wenig es noch um das Ende des ersten Jahrhunderts
zu einer Ausgleichung dieses Gegensatzes gekommen war,
sieht man an zwei Stücken unserer neutestamentlichen Samm-
lung, welche beide um diese Zeit oder nicht lange vorher
verfasst zu sein scheinen: dem Brief an die Ebräw und dem
Brief des Jakobus; — an die Aechtheit des letzteren ist
nämlich, was auch seine Vertheidiger gagen mögen, so wenig,
als an den paullnischen Ursprung des ersteren, zu denken.
Wenn der Verfasser des Ebräerbrieüs seinen judenchristlichen
Lesern auf's angelegentlichste beweist, dass durch Christus
dem jüdischen Priesterthum , dem jüdischen Opferdienst , dem
ganzen jüdischen Religionswesen ein Ende gemacht, an die
Stelle des alten Bundes ein neuer getreten sei, so kann eben
dieses von ihnen noch nicht anerkannt gewesen sein; wenn
er ihnen an zahllosen alttestamentlichen Beispielen darthut,
dass alle göttlichen Segnungen an den Glauben geknüpft seien,
so muss er es mit solchen zu thun haben, die nicht den Glauben,
sondern die Gesetzeserfüllung als das entscheidende für das
Yerhältniss des Menschen zu Gott ansahen; wenn er alle seine
exegetische Kunst aufbietet, um zu zeigen, dass auch nach
alttestamentlicher Lehre Christus ein ganz einziges, mit keinem
andern vergleichbares, seiner Natur nach über die Engel,
seiner Stellung und Bedeutung nach über die bewundertsten
Helden der jüdischen Geschichte und die höchsten Würden-
träger der Theokratie erhabenes Wesen sei, so kann diese
Ansicht in der damaligen Zeit noch nicht allgemeiner und un-
be2Sireifelter Glaube der Kirche gewesen sein. Der Ebr&erbrief
beweist mit Einem Wort durch die Mühe, welche er sich giebt,
um den Standpunkt des Judenchristenthums zu widerlegen,
welche Macht dasselbe noch in seiner Zeit war. Noch un-
mittelbarer erhellt diess aus dem Brief des Jakobus für die
Das Urchristenthum. 259
Ereiise, welche den Ausdruck ihrer U^berzeugungen in ihm
fandra. Dies^ Brief zeigt nicht blos in einzehien Bestim-
mungen (me c 5, 12. 14) die charakteristischen Züge des
Ebjonitismus, er lässt uns die Schlagwörter und Oedanken der
paidinischen Theologie nicht blos in auffallender Weise ver-
missen, wie denn z. B. der Yersöhnungstod Christi nirgends
in ihm ber&hrt, und Christus überhaupt nur wenig genannt
wird; sondern er stellt sich geiudezu als eine Btreitöchrift
gegen den Pauünismus dar, und er bekämpft namentlich sein«
Grundlehre von der Rechtfertigung durch den Glauben mit
einer solchen Bitterkeit und mit einer so gründlichen Ver-
kennung ihres eigentlichen Sinnes, dass man klar sieht, wie weit
die Parthei, deren Sprache wir hier hören, von einer Verstän-
digung mit dem paulinischen Christenthum noch entfernt ist. Was
für Paulus der innerste Einheitspunkt seines ganzen religiösen
Lebens, die fruchtbare Wurzel alles Guten ist, das erklärt der
Jakobusbrief für ein todtes Wissen, wie es auch die Teufel
haben können; der Rechtfertigung durch den Glauben stellt
er die Rechtfertigung durch die Werke entgegen, ohne die
jener todt sei; die Beispiele, welche Paulus und der Ebräer-
brief für die Rechtfertigung durch den Glauben angeführt
hatten, sucht er ihnen zu entreissen und füi* sich zu benutzen ;
wer sich auf den blossen Glauben verlässt, den nennt er einen
„eiteln Menschen** ; statt der Gnade, von der Paulus alles allein
hofft, verweist er uns (1, 22 ff. 2, 8 f. 4, 11) auf das Gesetz,
welchem jener jeden Werth und jede Geltung für den Christen
abgesprochen hatte. So unversöhnt stehen sich um jene Zeit
die Partheiai und Ansichten noch gegenüber.
Im allgemeinen scheint nun in diesem Kampfe das Juden-
christenthum für den Augenblick auch in solchen Gemeinden
und Ländern die Oberhand gewonnen zu haben, denen Paulus
selbst das Christenthum gebracht hatte. So haben wir schon
oben gesehen, wie die ephesinische Gemeinde von dem Apo-
kalyptiker wenige Jahre nach dem Tode des Paulus wegen
ihrer Abwendung v(m ihm und seiner Lehre belobt wird; und
was uns über die kleinasiatische Kirche übei'liefertist, lässt
17*
260 I^ftB ürchriBtentbniiL
uns bis tief in^s zweite Jahrhundert herab das üebergewicht
des Judenchristenthums deutlich erkennen. Ihre grosse apo-
stolische Auktorität ist Johannes — nicht der Evangelist, von
dem man vor der Mitte des zweiten Jahrhunderts noch nichts
wusste, sondern der Judenapostel, der Apokalyptiker, — • Paulus
dagegen wird in der Ueberlieferung dieser Kirche nicht ge-
nannt ; *) zu ihren angesehensten Lehrern gehört jener Papias,
der uns so acht rabbinische Aussprüche über die Herrlichkeit
des Messiasreichs überliefert hat, der Judenchrist, der sich
nur bei den alten Aposteln und ihren Schülern befrage , von
den „fremden Lehren'' (eines Paulus) nichts wissen will ; aus
ihrem Schosse ist gegen die Mitte des zweiten Jahrhunderts
der Montanismus hervorgegangen, der mit seinem krankhaft
überspannten Chiliasmus, mit seiner visionären Prophetie, mit
seiner Verkündigung eines „neuen Gesetzes'* deutlich genug
auf seinen Ursprung aus dem Judenchristenthum hinweist, und
der zugleich durch seine weite Verbreitung und seinen ein-
greifenden Einfluss für die Macht dieser Denkweise in der
damaligen Zeit Zeugniss ablegt Den Judaismus der ältesten
römischen Gemeinde können wir aus dem Bömerbrief , seine
fortdauernde Herrschaft in derselben aus den zwei letzten
Kapiteln dieses Sendschreibens und dem Philipperbrief (den
unpaulinischen Ursprung dieser Stücke vorausgesetzt), be-
sonders aber aus der Apostelgeschichte erschUessen, sofern
diese ganz unverkennbar auf die römische Gemeinde berech-
nete Schrift, nach dem früher bemerkten, noch um's Jahr 120
zur Gewinnung der Judenchristen die bedeutendsten Zuge-
ständnisse an ihren Standpunkt nöthig findet. Zwei Urkunden
des römischen Ebjonitismus aus dem zweiten Jahrhundert be-
sitzen wir noch in dem' „Hirten'' des Hermas und den pseudo-
clementinischen Homilieen. Noch um 175 bezeugt Hegesippus,
einer von den angesehensten Männern der judenchristlichen
*) Einen bezeichnenden Bdeg Meför bie^ unter ändert das Sdireiben
des Bischofs Polykrates von Ephesos aa den römischen Bischof Viktor b.
Enseb. JL G. m, 81.
Das ürchristfflithtun. 261
Parthei, den Hauptgemeinden seiner Zeit, die er gelbst bereist
hatte, und namentlich auch der römischen Gemeinde, er habe
darin alles so getroffen, „wie das Gesetz und die Prophet^
und der Herr es verlangen", derselbe Hegesippus, welcher in
einer uns erhaltenen Aeusserung die Worte des Paulus 1 Kor.
2, . 9 fili* eine schriftwidrige und unchristliche Lüge erklärt.
Auch sein Zeitgenosse Justin, der lange in Rom lebte, eine
von den Säulen der kirchlichen Theologie, neigt siißh zum Eb-
jonitismus ; Paulus wird in seinen Schriften vollständig ignorirt-
Der Brief des angeblichen Barnabas findet es noch um 120
bis 130, die ignatianisehen Briefe finden es um 160 nothwendig,
vor der Uebertragung des Judei\thums in's Christenthum nach-
drücklich zu warnen , die Unabhängigkeit des -letzteren von
dem ersteren ausführlich zu beweisen: wie kann da an eine
üeberwindung des Judaismus im apostolischen Zeitalter ge-
dacht, sein lang andauernder nachhaltiger Einfluss verkannt
werden ?
Auf eine eigenthümliche Weise spricht sich dieser Einfluss
des Judenchristenthums in einem Zug aus, der gerade bei der
römischen Kirche eine grosse geschichtliche Wichtigkeit hat:
in der tendenzmässigen Veränderung der Ueberlieferungen
über die Stiftung der Gemeinden. Keine Thatsache der älte-
sten Kirchengeschichte ist gewisser, als die, dass die erste
Verbreitung des Ghristenthums unter den Heiden ausschliesslich
oder fast ausschliesslich das Werk des Paulus und seiner
Schüler gewesen ist; von Petrus dagegen sagt er selbst uns
(Gal. 2, 7), dass er seinen apostolischen Wirkungski-eis viel-
mehr unter den Juden gesucht habe. So unläugbai* diess aber
auch sein mag : die judenchristliche Parthei Hess sich dadurch
nicht abhalten, das Verdienst der Heidenbekehrung dem wirk-
lichen Heidenapostel zu rauben, und es auf ihren Apostel, auf
Petms, zu übertragen; und so handgreiflich diese Erdichtung
auch ist: die Kirche liess sie sich gefallen, und selbst in sol-
chen Gemeinden, deren paulinischer Ursprung ausser allem
Zweifel steht, nahm man keinen Anstand, dem Paulus den
Judenapostel als Mitbegründer an die Seite zu stellen. Nach-
262 ^^ ürchristenthonL
dem man sich judenchristlicherseits vergeblich g^en die That-
sache des Heidenchristenthums gesperrt hatte, wollte man
durch diese Wendung nicht blos die Ehre des grossen Erfolgs
für die eigene Parthei gewinnen, sondern man wollte auch
die heidenchristlichen Gemeinden durch dieselbe zu sich her-
überziehen, sie dazu bringen, sich selbst als petrinische, der
judenchristlichen Glaubens- und Lebensform angehörige, zu
betrachten.. Die Traditionen über ihre Stiftung sollten einen
historischen Rechtsanspruch an ihre dogmatische Stellung, an
ihre Gonfession (wenn dieser Ausdruck erlaubt ist) begründen.
Ebendesshalb aber setzt das Gelingen jenör Geschichtsver-
fälschung einen bedeutenden Einfluss der Parthei voraus, in
deren Interesse sie lag. Und sie gelang in einer für uns fast
unglaublichen Weise. Nach der Apostelgeschichte (11, 19 flf.
13 f. vgl. Gal. 2, 12) war Antiochien der erste Sitz einer
heidenchristlichen Gemeinde: die spätere Ueberlieferung er-
klärte Petrus für den Gründer und den ersten Bischof der-
selben. Die Christengemeinde in Koiinth war ganz unbestreitbar,
wie die ältesten griechischen Gemeinden ohne Ausnahme, eine
Stiftung des Paulus. Aber schon er selbst hatte eine Parthei
gegen sich, die lieber nach Petrus genannt sein wollte (1 Eor.
1, 12); hundert Jahre später erzählt ein korinthischer Bischof
ganz unbefangen, seine Gemeinde sei ebenso, wie die römische,
von Petrus und Paulus zusammen gegründet worden. Nicht
anders verhält es sich aber auch mit der angeblichen Bethei-
ligung des Petrus an der Stiftung der römischen Kirche. Der
Bömerbrief und die Apostelgeschichte stellen es ganz ausser
Zweifel, dass es überhaupt kein Apostel war, welcher das
Christenthum zuerst nach Bom brachte, und dass damals, als
Paulus dorthin kam, 62 n. Chr., weder Petrus noch sonst ein
Apostel diese Stadt besucht hatte ; dass er später noch hin-
kam^ ist um so unwahrscheinlicher, da alle Angaben darüber
ein ganz unhistorisches Aussehen haben, das meiste darin er-
weislich falsch ist, und das übrige von dem offenbar unwahren
sich schwer trennen lässt. Nichtsdestoweniger treffen wir schon
frühe die Behauptung, Petrus sei der erste Bischof von Bom
Das Urclooristenthum.
263
und der .eigentliche Stifter der dortigen Christengemeinde
gewesen. Wo diese Behauptung ursprünglich herstammt, und
was nüt dersdben beabsichtigt wurde, sieht man ganz deutlich
an einem Zuge, der mit der ganzen Sage tief verwachsen
nicht blos ihrer verbreitetsten , sondern allen Anzeichen nach
auch ihrer ältesten Form angehört. Petrus soll in der Ver-
folgung des Magiers Simon nach Bom . gekomi^ien sein , und
nach seiner Ueberwindung die römische Gemeinde gegründet
und als Bischof regiert haben. Nach dem, was sich uns früher
über den ursprünglichen Sinn der Simonssage ergeben hat,
heisst diess: die Erzählung von der Wirksamkeit des Petrus
in Bom wurde in Umlauf gesetzt, um ihn als den wahren
Apostel der Bömer und des ganzen Abendlandes darzustellen,
um die römische Kirche als angeblich petrinische Stiftung für
das Judenchristenthum zurückzufordern, Paulus dagegen und
den Paulinismns (den LTlehrer und die Inlehre, welche Petrus
in der Person des Magiers schlug) aus ihrem wohlerworbenen
Besitzstand zu verdrängen. Diess Hess sich nun allerdings in
dem beabsichtigten Umfang nicht durchsetzen; aber so viel
wurde doch immer erreicht, dass in der römischen Ueber-
lieferung selbst Petrus dem Paulus nicht allein zur Seite trat,
sondern auch den Vortritt vor ihm erhielt. In der Folge
musste die angebliche römische Bischofswürde des Petrus den
Eechtsvorwand für die unglaublichsten Ansprüche auf geistliche
Weltherrschaft abgeben; für die Geschichte des nachapostolischen
Zeitalters ist diese Sage hauptsächlich als ein Denkmal und
ein Hebel der kirchlichen Partheibewegung von Bedeutung.
Das älteste Zeugniss von ihrer Anerkennung ausserhalb der
ebjonitischen Kreise enthält eine Schrift, die von einem Pau-
liner um 140 n. Chi*, verfasst sein mag, der ei-ste Brief Petri;
unter dem Babylon nämlich, in dem dieser Brief geschrieben sein
wiD, ist ohne Zweifel Bom zu verstehen, von dem wir aus der
Apokalypse und den Sibyllinen sehen, dass es bei den Christen
nicht selten mit diesem symbolischen Namen bezeichnet wurde.
Um die Mitte und nach der Mitte des zweiten Jahrhunderts
wurde sie dann, wie os scheint, allgemein angenommen, doch
.^ — —
264 I^AS ürchristenthum.
nicht ohne dass ihr die gegen Paulus gerichtete Spitze abge-
brochen wurde: Judenchristenthum und Paulinismus hatten
sich inzwischen verständigt, und in derselben Eintracht sollten
nun auch die Häupter der beiden Partheien in Rom zusammen-
gewirkt und die römische Kirche gemeinsam gestiftet haben.
Dass es aber mit der Zeit zu dieser Verständigung kommen
musste, diess war in der ganzen Sachlage begründet. So weit
auch die beiden Partheien bei vielen von den wichtigsten
Fragen auseinandergehen mochten: noch mächtiger war doch
das, was sie verband, das neue religiöse Leben, das sie im
Glauben an den erschienenen Messias gewonnen hatten, die .
Eindrücke und Anschauungen, welche der Stifter des Christen-
thums hinterlassen hatte, die Verehrung gegen seine Person,
in der alle übereinstimmten. Die Judenchristen wollten aller-
dings auch als Christen noch Juden bleiben : aber wie konnten
sie es, wenn sie doch fortwährend den Gesandten und Sohn
Gottes in dem sahen, all ihr Vertrauen und alle ihi-e Hofl&iung
auf den setzten, welchen das jüdische Volk durch seine theokra-
tische Obrigkeit als einen Irrlehrer verworfen, als einen Gottes-
lästerer gekreuzigt hatte, von dem es auch in der Folge seiner
ganz überwiegenden Mehrzahl nach so wenig, wie vorher,
etwas hören wollte? Sie fühlten sich allerdings fortwährend
durch das mosaische Gesetz gebunden, dessen treue Beobachter
sie sein wollten : aber die Keime eines neuen sittlich-religiösen
Lebens, die sie ihrem grossen Meister verdankten, mussten
durch ihre innere Triebkraft auch sie immer mehr über jene
Schranken hinausführen; und diess um so mehr, da auch der
Essäismus mit seiner Sittenstrenge, seiner weitherzigen Men-
schenliebe, seiner Verwerfung des Opferwesens, von Anfang
an Einfluss bei ihnen gewonnen hatte. Sie waren der Mei-
nung, dass die Heiden nur dui'ch Vermittlung des Judenthums
zum messianischen Heil kommen sollten: aber nachdem die
Geschichte einen anderen Weg genommen hatte, nachdem das
Heidenchristenthum als Thatsache vor ihnen stand, mussten
auch sie sich in diese Thatsache finden lernen; und so erfahren
wir ja auch durch Paulus und durch Johannes in der Apokalypse,
Das ürchristaitham. 265
dass diess noch während des apostolischen Zeitalters, wenn
auch halb widerwillig und mit manchen Einschril|^kungen,
geschehen ist. Auf der anderen Seite hatte aber auch der
Paulinismus dem Judenthum nicht so vollständig abgesagt,
dass jede Brücke zur Verständigung mit den Gegnern abge-
brochen gewesen wäre. So entschieden auch Paulus daran
festhielt, dass mit Christus das mosaische Gesetz und das
ganze jüdische Beligionswesen sein Ende erreicht habe: an
dem göttlichen Ui'sprung des Gesetzes zu zweifeln, kam ihm
nicht in den Sinn, die alttestamentlichen Schriften galten auch
ihm für die unfehlbare Offenbarung der Gottheit, auf diese
Schriften gründet auch er seinen Glauben , die jüdische Theo-
logie bildet auch für ihn die Grundlage seiner Dogmatik. Gab
man aber diess einmal zu, so war es in der That nicht leicht,
der Anerkennung des Gesetzes auszuweichen, dessen Urkunde
eben das alte Testament ist, und es war nicht jedem gegeben,
mittelst allegorischer Auslegung und rabbinischer Dialektik
aus ihm selbst zu beweisen , dass das Gesetz nur gegeben sei,
um in der Folge einer durchaus neuen Religion Platz zu
machen. Nicht viel anders verhielt es sich aber auch in Be-
treff der eigenthümlich christlichen Lehren. Was der Stifter
des Christenthums gewesen sei, was er gelehrt und gewollt
habe, darüber konnten eigentlich doch nur seine persönlichen
Schüler Zeugniss ablegen, und für die Hauptthatsachen seiner
Geschichte hatte sich auch ein Paulus auf dieses Zeugniss,
auf die üeberliefening , berufen müssen. Mit welchem Recht
konnte man dann aber die Auffassung der christlichen Lehre
ablehnen, welcher die persönlichen Schüler Jesu ganz un-
streitig gehuldigt hatten^? und wenn ein Paulus im Vertrauen
auf die ihm gewordene" unmittelbare Offenbarung sich seine
Theologie mit vollkommener Selbständigkeit gebildet hatte,
Hess sich die gleiche Unabhängigkeit auch von denen erwarten,
welche sich dieses Rückhalts nicht bewusst waren? Wenn
femer Paulus den Unterschied des Christenthums vom Juden-
thum dahin bestimmt hatte, dass man in diesem durch des
Gesetzes Werke selig werden wolle, in jenem nicht durch die
(
I
366 I^ ürchristenihmii.
Werke, sondern durch den Glauben, so war hiemit die Frage
nicht beantwortet, wie es sieh denn nun mit den Werken
verhalte, die auch er als Früchte des Griaubena verlangte,
welche Bedeutung der christlichen Sittlichkeit und den mora*
lisehen Bestandtheilen des mosaischen Gesetzes zukomme ; warf
man sie aber einmal auf, so musste man fast unvermeidlich
zu einer theilweisen Anerkennung des Gesetzes zurückgeführt
werden: theils weil der ganze Standpunkt jener Zeit eine
positive Offenbarung der sitthchßn Gebote zum Bediirfiüss
machte, eine solche aber vor der Entstehung eines neutesta-
mentlichen Kanons nur in den alttestamentlichen Schriften zu
finden war, theils weil es sich dem gewöhnlichen Bewusstsein
schwer klar machen liess, dass die Werke zur Seligkeit zwar
unerlässlich seien, dass aber nur der Glaube seUg mache, dass
das Gesetz den Christen nichts mehr angehe, aber doch im
höheren Sinn von ihm erfüllt sein wolle. Und was wir schon
hier bemerken können, das gilt von der paulinischen Dogmatik
überhaupt: sie war zu künstlich, zu verwickelt, von zu eigen-
thümlichen Anschauungen getragen, als dass sie ihrem ganzen
Umfang nach durchdringen konnte, so einfach und einleuchtend
auch ihr grosser Grundgedanke, die Gleichberechtigung aller
Chrisfen, die Vereinigung von Juden und Heiden in einer
Weltreligion, war. Die judenchristlichen Anschauungen hatten
ihr gegenüber den Vortheil der grösseren Greifbarkeit und
Klarheit, der engeren Anschliessung an die bisherigen Vor-
stellungen der Menschen; und sie hatten es ohne Zweifel
neben allem andern auch diesen Eigenschaften zu verdanken,
dass sie selbst in den paulinischen Kreisen bis zu einem ge-
wissen Grad Eingang fanden. — War aber demnach die all-
mähliche Annäherung und Verschmelzung der Partheien in
ihrem inneren Wesen begründet, so musste sie durch ihre
äusseren Verhältnisse in hohem Grade gefördert werden. Das
Judenthum selbst drängte die Christen, auch die gesetzestreuen
unter denselben, aus seinem Schosse hinaus ; nachdem vollends
die politische Existenz des jüdischen Volkes von den Bömem
vernichtet, der Mittelpunkt seiner Gottesverehnmg zerstört.
Das UrchriBtenthtun.
267
der gesetzliche Opferdienst unmöglich geworden war, und jede
Aussicht auf Wiederherstellung mehr und mehr schwand,
musste das' Band, welches einen Theil der Christenheit noch
mit der Religion ihrer Väter verknüpfte, sich allmählich lösen,
diese Beligion musste als etwas thatsächlich yorilbergegangenes,
von Gott selbst aufgehobenes ei*scheinen; während andererseits
auch in der heidnischen Welt der Druck und die Verfolgung,
der Juden- und Heidenchristen gleich sehr ausgesetzt waren,
dazu beitrug, dass sie im Kampf mit den gemeinsamen Geg-
nern ihrer eigenen Zusammengehörigkeit sich lebhafter bewusst
wurden. So trat der Gegensatz beider Partheien nach und
nach gegen das wesentlichere, was sie gemein hatten, zu-
rück, seine Spannung liess nach, jede von beiden gab einen
Theil ihrer Eigenthümlichkeit an die andere ab, und aus dem
Gefühl ihrer ursprünglichen Einheit giengen jene Friedens-
Yorschläge hervor, welche alle darauf hinauslaufen, dass die
noch vorhandenen Gegensätze theils vermittelt, theils zurück-
gestellt, dio gemeftschaftlichen Ueberzeugungen als das ent-
scheidende hervorgehoben und ausgebildet, die streitenden
Theile in der gleichmässigen Anerkennung dieses gemeinsamen
vereinigt werden sollen.
Auch hiefür bietet uns, neben einigen anderweitigen
Schriften, das neue Testament die Belege. Schon im Ebräer-
brief und im Brief des Jakobus zeigen sich Spuren einer An-
näherung der beiden Partheien , wiewohl diese Stücke ihrer
Hauptabzweckung nach eher als Streitschriften derselben zu
betrachten sind. So lebhaft auch der Ebräerbrief für den
paulinischen Grundsatz eintritt, dass das Judenthum durch
das Christenthum aufgehoben sei, so erscheint doch das Ver-
hältniss beider hier lange nicht so schroff und ausschliessend,
wie bei Paulus: das Christenthum ist weniger der Gegensatz,
als die Vollendung des Judenthums, in ihm ist verwirklicht,
was dieses nur andeutet und vorbildet, es hat in reiner und
geistiger Weise, was dieses in sinnlicher Hülle hat, aber es
bringt doch nichts schlechthin neues, nichts, was nicht auch
im alten Bunde irgendwie schon vorhanden war; die Thätigkeit
268 I^M ürchristeiitham.
Christi wird unter den alttestamentlichen Begriff des Priester-
thoms gestellt, die neue Beligionsfonn , die er gebracht hat,
ist ein neues Oesetz, der paulinische Gegensatz der Glaubens-
und Gesetzesgerechtigkeit tritt zurück, und der seligmachende
Glaube selbst ist nicht jenes pauUnische unbedingte Vertrauen
auf die Gnade Gottes in Christus ^ sondern die Ueberzeugung,
an der es im Judenthum auch nicht gefehlt hat, „dass ein Gott
sei, und dass er denen, die ihn suchen, ein Vergelter sein
werde" (11, 6). So bitter sich andererseits der Jakobusbrief
über die paulinische Lehre vom alleinrechtfertigenden Glauben
ausspricht, so geht doch auch er bereits über den Standpunkt
des strengen Judaismus hinaus, wenn er im Christenthum mit
Paulus eine neue Schöpfung, in seiner Lehre „das vollkom-
mene Gesetz der Freiheit" erkennt (1, 18. 25. 2, 12), tmd
demgemäss auch nicht sowohl auf Befolgung der positiven
mosaischen Satzungen, als auf Wohlthätigkeit, Menschenliebe,
Sittlichkeit dringt. Noch viel bestimmter tritt aber die Ab-
sicht der Vermittlung und Friedensstiftun^zwischen. den Par-
theien in anderen neutestamenüichen Büchern hervor. In
erster Reihe steht unter diesen, wie schon früher gezeigt
wurde, die Apostelgeschichte. Ein Werk des gleichen Ver-
fassers ist das Lukasevangelium , als dessen Foi*tsetzung jene
selbst sich bezeichnet, und auch in seiner Tendenz trifft es
mit ihr zusammen. Wie dort die Geschichte der Apostel, so
wird hier die Geschichte Christi im Interesse des paulinischen
Universalismus bearbeitet; und wie dort das palästinensische
Judenchristenthum nicht direkt bekämpft, sondern mit mög-
lichster Schonnng in den Paulinismus herübergeleitet wird, so
schliesst sich auch hier der Verfasser so eng als möglich an
die ältere, judenchrisüiche üeberlieferung an; aber er weiss
die Züge, welche zu seiner eigenen Auffassung des Christen-
thüms nicht passten, mit solchem Geschick zu beseitigen oder
unschädlich zu machen, und sie durch die entgegengesetzten
Elemente zu ergänzen, dass der Gesammteindruck seines
Christusbildes doch von dem älteren, das uns Matthäus er-
halten hat, merklich abweicht. Der galiläischen Wirksamkeit
Das ürchristenthtim. 269
Jesu stellt er die samaiitanische , die Heilsyerkündigung im
heidnischen Lande, mit den ihr eigenthümlichen, dem Interesse
des PauUnismus so merkwürdig entsprechenden Erzählungen
und Lehrreden (9, 15—19, 27), zur Seite; den zwölf Juden-
aposteln treten bei ihm die Repräsentanten der Heidenmission,
die siebzig Jünger, in sichtbar bevorzugter Stellung gegen-
über; das Verbot, den Heiden und Samaritern zu predigen
(Mt. 10, 5), wird übergangen, das harte Wort an die kana-
näiscbe Frau (Mt 15, 24 ff. Mr. 7, 27) sammt der ganzen
Erzählung ausgeworfen, der Ausspruch über die ewige Dauer
des Gesetzes (Luc 16, 16 f. vgl. Matth, 5, 18) zwischen zwei
entgegenstehende Aussagen eingeklemmt, und dadurch seiner
ursprünglichen Bedeutung beraubt, die Parabel von dem Armen
und Reichen (16, 19 ff.) so umgebildet, daps ihre ursprünglich
ebjonitische Spitze (Y. 25) gegen die ungläubigen Juden ge-
kehrt wird; die Erklärungen, welche den zwölf Aposteln, und
insbesondere dem Petrus, einen Vorrang vor Paulus zu sichern
schienen (Matth. 16, 18. 18, 18. 19, 28), werden von Lukas
(9, 21. 22, 30) theils weggelassen, theils abgeschwächt, es wird
überhaupt solches, was sich gegen Paulus deuten Hess, be-
seitigt (wie Matth. 13, 24 f.) und verändert (Matth. 7, 22 f.
vgl. L. 13, 26 f,), gegentheiliges (wie L. 9, 49 f.) eingeschoben ;
und wenn Johannes Offb. 21, 14 nur die Namen der zwölf
„Apostel des Lammes'' an den Grundsteinen des neuen Jeru-
salems angeschrieben sein lässt, so erhalten bei Lukas (10, 20)
die Siebzig (oder ohne Bild: der Heidenapostel und seine
Schüler) die ausdrückliche Versicherung, dass ihre Namen im
Himmel eingeschrieben seien. Noch manche weitere Züge
liessen sich beibringen, die uns zeigen, wie der angebliche
Lukas seinen Lesern die Bestimmung des Ghristenthums für
alle Menschen, die Unempfänglichkeit der Juden für das mes-
sianische Heil und den Unwerth ihrer vermeintlichen Vorzüge,
die Gleichberechtigung der glaubigen Heiden mit den Juden
nahezulegen, wie er seine judaistischen Glaubensgenossen ohne
Verletzung ihrer Vorurtheile für seinen Standpunkt zu gewinnen
sucht. Die beiden Schriften des Lukas sind mit Einem Wort
270 I^as UrchriBtenthttm.
nicM blos Geschichtswerke, sondern die Geschichte dient in
ihnen einer bestimmten Tendenz: sie wollen im Sinn des pau-
linischen ünivei'salismus auf die kirchlichen Ueberzeugungen
und Zustände einwirken, und dem judenchristlichen Theil der
Christengemeinde zur Vereinigung die Hand bieten. — Die
gleiche Absicht verfolgt in anderer Form der erste Brief des
Petrus. An die Aechtheit dieses Schreibens ist schon desshalb
nicht zu denken, weil es von deutlichen Nachklängen ächter
und unächter paulinischer Briefe, des Jakobus- und des Ebräer-
briefe erfüllt ist, und weil neben der praktisch - moralischen
Auffassung des Ghristenthums , in der es sidi namentlich mit
dem Brief des Jakobus berührt, auch die leitenden Gedanken
der patllinischen Dogmatik wenigstens theilweise sichtbar in
ihm hervortreten; wenn wir vielmehr alle Anzeichen zusammen-
nehmen , so wird es nur in eine verhältnissmässig späte Zeit,
das zweite Viertheil des zweiten Jahrhunderts, gesetzt werden
können. Nur tun so augenfälliger ist aber der Zweck dieser
Unterschiebung. Der erste der Judenapostel selbst soll denen,
deren höchste Auktorität er war, eine Auffassung des Christen-
thums empfehlen, welche die paulinische Theorie zwar in ihren
allgemeinen Grundzügen und ihi'em pi-aktischen Ergebniss fest-
hält, das Judenthum als eine abgethane Sache behandelt, und
in der christlichen Gemeinde ^in neues, auf den Glauben an
den Versöhnungstod Jesu gegründetes Grottes^lk sieht, welche
aber doch auch den judenchristHchen Ansch^iuungen so viele
Anknüpfungspunkte bietet, und über die Streitpunkte so be-
hutsam hinweggeht; dass man auch auf dieser Seite sich leicht
mit ihr befreunden, und sich in keiner Beziehung äbgestossen
finden könnte. — Derselben Eichtung gehört unter den
ausserkanonischen Schriften der erste von den angeblichen
Briefen des römischen Clemens an, jedenfalls älter als der
erste Brief Petri , da er von der Anwesenheit dieses Apostels
in Rom noch nichts weiss; unter den neutestamentlichen die
beiden im Petrusbrief schon benützten Sendschreiben an die
Epheser und Kolosser, die aber doch schwerlich- vor dem
zweiten Jahrzehend des zweiten Jahrhunderts, und gewiss
^ Das UrdiristenthtinL 271
Bidbt von Paulus, verfasst sind. In den letzteren besonders
tritt die Idee der christlidien Kirche mit einem Nachdruck
hervor, me in keinem andern von den neutestamentlichen
Btlehem ; sie ist der Leib Christi, die einhdtliGhe, allumfassende
Gemeinschaft , in der Juden und Heiden verdnigt sind , seit
Christus die Scheidewand zwischen ihnen weggenommen, das
Gesetz mit sich an^s Kreuz geheftet hat; in ihr sollen alle
Gegensätze , welche die Menschen bisher trennten , durch die
Einheit des christlichen Glaubens und Lebens aufgehoben sein.
Die allgemeine Voraussetzung dieser Ausfllhrungen bildet die
paulinische Lehre; wie ja überhaupt von einer selbständigen
und allgemeinen christlichen Kirche nicht die Bede sein konnte,
so lange man sich nicht von der jüdischen Religionsgemeinde
losgemacht und die Gleichberechtigung der bekehrten Heiden
anerkannt hatte. Aber dodi wird auch dem Judenthum das
Zugeständniss gemacht, dass es im ursprünglichen Besitz der
Heilsgüter gewesen sei, an denen die Heiden erst nachträglich
Antheü erhalten haben (Eph. 2, 12. 3, 6); die Hauptstreit-
punkte der Partheien werden nicht mehr näher erörtert, so
bestimmt auch der Kolosserbrief (2, 16 ff.) ebjonitische An-
forderungen zurückweist, die Frage über die Rechtfeiligung
wird gar nicht berührt, und statt der .persönlichen Reibungen
zwischen Paulus und den Judenchristen, deren Spuren den
Briefen des Apostels so tief eingedrückt sind, treffen wir am
Schluss des Kolosserbriefs ausdrücklich mehrere Notabilitäten
der judenchristlichen Parthei, im Verein mit Paulinem, wie
Lukas, als seine Gehülfen und Vertrauten. Der Standpunkt
dieser Schriften ist mit Einem Wort zwar im ganzen der
paulinische ; aber ihr Paulinismus ist der einer späteren Zeit :
die früheren Streitfragen sind schon theilweise in den Hinter-
grund getreten , die paulinisdien Anschauungen haben ihr
schärferes Gepräge verloren, und im Bewusstsein der Einigkeit
in den Hauptpunkten kann man sich auch mit den bisherigen
Gegnern yarständigen, und sie für die Eine gemeinsame Kirche
zu ge¥rinnen hoffen.
Sollten aber diese Versuche zur Vereinigung der kirch-
Da» UrchriitenthoDL
beien einen inneren Halt und einen dauernden
n, Bo moBste mit denselben die theologiBche Arbeit
m.d gehen, dorch welche man sich des gemeinsamen
. und Leben der Kirche, der ehristhchen Eigen-
i in ihrem Unterschied von der jüdischen, bewusst
her handelte es sich dabei um ein doppeltes: die
ics cbristlidien Verhaltens, und den onterschei-
alt des christlichen Glaubens; und so ^eles auch
Jeziehnngen im Streit lag, so fehlte es doch in
beiden an dea Grundlagen für eine schliessliche
ng. FOr die prahtisdie Auffassui^ des Christen-
es allerdings, von der höchsten Wichtigkeit, ob
it der ältesten Christengemeinde fortwährend durch
he Gesetz gebunden fand, oder mit Paulus dieses
ibgethan hielt; aber selbst ober diesen tiefgehenden
;riffen die sittlichen Antriebe und Grundsätze über,
neuen Beligionsparthei von ihrem Stifter als werth-
mächtniss vererbt waren; und je aogenscheinlicher
e NoÜiwendigkeit herausstellte, auf die Beschnei-
eidencfaristen zu verzichten, je w^entlichere Stacke
iserfullung auch den Judenchiisten seit der Zbt-
iisalems unmöglich wurden, je weniger andererseitG
ilus in dem Ganzen seiner sittlichen Weltanschaaang
ren Ansicht, und selbst mit manchen Einseitigkeiten
m Widerspruch stand, um so leichter konnte sich
■er sittlichen Aufgaben und Pflichten jene Veb&c-
• im wesentlichen bilden, die uns auch wirklich
berbleibseln des nachapostolischen Zeitalters ent-
Man streitet sich wohl über den Antheil der guten
er Rechtfertigung, aber Ober ihre unbedingte Noth-
besteht kein Zweifel; man ist längere Zeit uneinig
ie viel von den positiven Geboten des Mosaismus
isten verbindlich sei, aber als die Hauptsache wird
■ der sittlidie Inhalt Aes Gesetzes anerkannt, und
ief des Jakobus sind es nicht mehr die „Gesetzes-
Btrengen, buchstäblichen Sinn, um die es ihm zu
Das ürchristenthum. 273
thun ist, sondern nur die „Werke": das Gesetz, dessen Be-
folgung er fordert, ist das „vollkommene Gesetz der Freiheit",
„das königliche Gesetz" der Nächstenliebe, und die Erfüllung
dieses Gesetzes fällt der Sache nach mit der Sittenreinheit
und der Menschenliebe zusammen, die Jesus in der Bergrede
dem Buchstaben des Gesetzes als das höhere gegenüberstellt. *)
Und wie so der praktische Vereinigungspunkt für die
Kirche in der Sittenlehre ihres Stifters gefunden wurde, so.
lag ihr dogmatischer Einheitspunkt in der Verehrung seiner
Person. Auf den Glauben an seine Auferstehung, an sein
Fortleben im Himmel, an seine messianische Wiederkunft, war
die Kirche gegründet; und nachdem hiemit einmal der erste
entscheidende Schritt gethan war, wetteiferten alle Pai'theien
in der Kirche, die Vorstellung von seiner Persönlichkeit und
seiner Würde in's übernatürliche zu steigern. Je grösser und
ausserordentlicher das war, was man von ihm erwartete und
ihm zu verdanken sich bewusst war, um so weniger konnte
man ihn mit anderen Menschen, ja mit anderen Geschöpfen
überhaupt, auf Eine Linie stellen; je höher das Selbstgefühl
der Kirche stieg, je ausschliesslicher alles Heil an den christ-
lichen Glauben geknüpft wurde, je unbedingter man sich in
demselben mit der Gottheit geeinigt und versöhnt glaubte,
um so höher musste auch die Idee von dem Stifter der Kirche
steigen, in welcher dieses ihr Selbstgefühl seinen Ausdruck
fand. Jede Zeit und jeder Standpunkt legte in diese Idee
alles das hinein, was nöthig schien, um in Christus den Stifter
der wahren Religion, den Urheber des Heils, den Mittler
zwischen Gott und Welt anzuschauen; aber wie hoch er auch
auf diesem Wege über das Mass des Menschlichen erhoben
werden mochte: auch diejenigen, welchen für ihre Person viel-
leicht eine niedrigere Voi'stellung genügt hätte, konnten sich
doch der höheren, wenn sie ihnen entgegentrat, kaum ent-
ziehen, da sie ja doch nur zur Verherrlichung Christi und
seines Werks diente.
*) Gerade die Bergrede hat Jakobas c. 2, 5. 5, 12 im Auge.
Zell er, Vorträge und Abhandl. ][g
Das UrchrlBtenthum.
rstellimgea über Chrietua halten sich noch
tliche Analogieen: er ist der messianische
I, welcher vor allen andern mit dem gött-
stet, mit der höchsten Vollmacht von Gott
weit sich aber schon von dieser Voraus-
ü liess, zeigt uns die Apokalypse. Wenn
rste und der letzte" heiBSt, wenn von ihm
die sieben Geister Gottes in der Hand
das Wort Gottes, als der Anfang der
t, wenn ihm (3, 12. 19, 12) deutlich genug
irtheüt wird, so ist damit eine so hohe
'eTSOQ ausgesprochen, dass man schon hier
trten Evangeliums zu finden glauben könnte,
h nicht vrirklich der Fall; so überschwftng-
'rädikate auch lauten, so wollen sie doch,
tet, nicht mehr ausdrücken, als die höchste
Würde und Bedeutung des Messias, und
I, was sich nicht ebenso oder ähnlich in
)gie fände, ohne dass darum an eine Ober-
gedacht würde. Christus heisst das Wort
Wort von seinem Mund ausgeht, weil er
ehlQsse verkündet und vollzieht; er ist der
ng, weil dieselbe von Anfang an auf ihn
I Name (wie die Rabbinen sagen) vor der
; er führt den Jehovahnamen, aber nicht
er Natur, sondern als einen „neuen Namen",
den er (c. 3, 12, gleichfalls nach rabbini-
;) mit den Auserwählten und dem himm-
leilt. Alle diese Prädikate sind Bezeieh-
und der Würde, nicht des Wesens, und
n erhöhten, nicht dem als Mensch unter
len Christus beigelegt. Aber doch liegt
)r auch hiemit über alle anderen Mensdien
und wie leicht sich aus solchen zuerst nur
.mtsname gemeinten Prädikaten der Glaube
bliche Natur dessen, dem sie beigelegt
Das Urchristenthum. 275
wurden, entwickeln konnte. Wurde doch in ähnlicher Weise
aus dem „Sohn Gottes", welcher zunächst nur ein Ehrenname
'des Messias ist, in der Folge die Erzählung von seiner über-
natürlichen Erzeugung, ohne Zweifel noch im ersten Jahr-
hundert und auf judenchi-istlichem Boden, herausgesponnen;
mussten doch auch die Wunder, deren Glanz bald g^ug die
geschichtliche Gestalt Jesu verbarg, in dieser ihrer Häufung
fast unvermeidlich den Schein des Uebermenschlichen auf seine
Person werfen, so wenig sie auch an sich selbst über den
prophetischen Typus hinausgehen; war es doch kaum möglich,
unter dem, der im Himmel zur Rechten Gottes sitzen und als
Weltrichter von da wiederkommen sollte, sich ein wahrhaft
menschliches Wesen zu denken. Wirklich finden wir auch
schon in dem Hirten des Hermas, einer judenchristlichen Schrift,
welche gegen die Mitte des zweiten Jahrhunderts verfasst zu
sein scheint, die Vorstellung, dass der Geist Gottes bei Christus
nicht blos, wie bei den übrigen Propheten, einen menschlichen
Geist erfüllt und beseelt, sondern sein ganzes geistiges Wesen
gebildet habe, indem er in einen menschlichen Leib als Seele
desselben eintrat; und später lassen die streng ebjonitischen
clementinischeh Homilieen Eine und dieselbe Persönlichkeit
zuerst in Adam und anderen alttestamentüchen Männern er-
scheinen und schliesslich in Christus ihre bleibende Stätte
finden. Noch stärkere Antriebe zur Steigerung der christo-
logischen Vorstellungen lagen aber in der paulinisehen Auf-
fassung des Christenthums. Stammt das Christenthum seinem
Inhalt und seiner Abzweckung nach nicht aus dem Judenthum
her, so durfte auch sein Stifter, wie Paulus glaubte, seinem
wahren Wesen nach nicht aus dem jüdischen Volk stammen :
er mochte wohl dem Fleische nach der Sohn Davids, aber
seine geistige Persönlichkeit musste höheren Ureprungs sein
(Rom. 1, 3). Ist jenes eine durchaus neue, über jede Ver-
^ gleichung mit dem Judenthum erhabene, in ihrer ganzen Rich-
tung ihm entgegengesetzte Glaubensweise, so kann auch Christus
nicht in Eine Reihe mit den jüdischen Propheten gestellt
werden. Hat Christus eine auf die ganze Menschheit unter-
18*
^.«>c
Das ürchristenthum. 277
ihm fremd blieb, sondern auch in der paulinischen Schule
scheint es nur allmählich durchgedrungen zu sein. Bei Lukas
wenigstens und im ersten Petrusbrief kommt diese höhere
Christologie nirgends zum Vorschein; wogegen andere Schriften
verwandter Richtung, die angeblichen Briefe des Bamabas und
des römischen Clemens, sie voraussetzen, ohne sie doch in
bestimmterer Fassung vorzutragen. Es erscheint so in der
christlichen Kirche, nachdem seit dem Tode ihres Stifters be-
reits ein Jahrhundert verflossen war, alles noch sehr unfertig:
die Theile derselben sind zwar in gegenseitiger Annäherung
begriffen, aber sie haben sich noch nicht wirklich zu Einem
gleichartigen Ganzen verschmolzen, und ebenso ist das Dogma,
welches den Mittelpunkt der kirchlichen Theologie bilden sollte,
weder an sich selbst so entwickelt, noch so allgemein aner-
kannt, dass es dieser Aufgabe schon wirklich genügte.
Den entscheidenden Anstoss zur weiteren Entwickelung
gab das Auftreten jener Partheien, welche unter dem Namen
der Gnostiker zusammengefasst werden.*) Die tiefgehende
Umwälzung, von der sich die Kirche durch diese Neuerer
bedroht sah, führte die tiberwiegende Mehrheit in derselben
weit schneller, als alle theologischen Verhandlungen es ver-
mocht hätten, zur Einigung. Einestheils wurden die Anhänger
des paulinischen Christenthums dadurch veranlasst, von der
radikalen Auffassung ihres eigenen Standpunkts, die ihnen in
der Gnosis, unter ausdiiicklicher Berufung auf den grossen
Heidenapostel, entgegentrat, sich im Namen desselben loszu-
sagen, sich mit den bisherigen Gegnern auf den gemeinsamen
Gmnd der kirchlichen Ueberlieferung zu stellen, welche sich
allenthalben übereinstimmend von der Gesammtheit der Apostel
durch Vennittlung der Bischöfe fortgepflanzt haben sollte.
Solche Absagebriefe des Paulinismus an die Gnosis, mitten
aus der Zeit des Kampfes heraus, sind die Schreiben an Ti-
*) Eine eingehendere Auseinandersetzung über die Gnostiker und ihren
geschichtlichen Einfluss findet sich in der Abhandlung über die Tübinger
Schule.
Das ürchristentliuni. 279
geschieden: die Fäden, welche die Kirche mit ihrer juden-
christlichen Vergangenheit verknüpften, sollten nicht abgerissen,
aber sie sollte auch nicht bei dieser Vergangenheit festgehalten
werden ; die äussersten Partheien nach rechts und links wurden
beseitigt, und auf dem freien Baume zwischen ihnen traten
die Mittelpartheien zur gemeinsamen Errichtung der allge-
meinen oder „katholischen" Kirche zusammen.
Das kirchliche Institut, durch welches diese Einigung er-
möglicht und der katholischen Kirche ein fester Bestand ge-
geben wurde, war der Episkopat, wie er sich jetzt aus der
älteren presbyterialen Gemeindeverfassung herausbildet; die
dogmatische Gnindlage des neuen Gebäudes lag in der Christo-
logie, welche gleichzeitig durch ihre Verbindung mit der phi-
lonischen Logoslehre und die aus dieser Verbindung sich
ergebende Umbildung der letzteren für längere Zeit zum
Abschluss kam.*) Von dem Episkopat nun hat keine andere
Schrift des zweiten Jahrhunderts eine so hohe Idee aufgestellt,
und diese Idee so nachdrücklich und erfolgreich — gerade im
Gegensatz gegen die gnostische Häresie und im Zusammen-
hang mit der Ueberzeugung von der Selbständigkeit des
Christenthums und der höheren Natur seines Stifters — gel-
tend gemacht, als die ignatianischen Briefe; den Höhe-
punkt der theologischen Entwicklung in den Zeiten der gnosti-
schen Bewegung bezeichnet das johanneischeEvangelium,
Auch dieses wunderbare Werk ist erst durch die neuste
Kritik dem geschichtlichen Verständniss zugänglich gemacht
worden. Bis dahin war es demselben aus dem gleichen Grunde
verschlossen gewesen, aus dem es diess für die Mehrzahl heute
noch ist: weil man sich nicht zu seiner freien wissenschaft-
lichen Betrachtung zu entschliessen, den Standpunkt des Evan-
gelisten von dem eigenen nicht zu unterscheiden, das Werk
desselben nicht in seiner individuellen Eigenthümlichkeit auf-
zufassen, aus dem Geist und den Zuständen seiner Zeit zu
*) Auch über diese Punkte, und über den Zusammenhang beider, giebt
die Abhandlung über die Tübinger Schule einiges weitere.
Das ürchristenthum. 281
Wundererzählungen giebt, von welcher die johanneischen nicht
in verstärktem Masse gedrückt würden; dass nicht blos die
Reden, welche der vierte Evangelist Jesus in den Mund legt,
offenbar sein eigenes Werk sind, dem geschichtlichen Charakter
Jesu dagegen und der ihm durch die geschichtlichen Verhält-
nisse vorgezeichneten Aufgabe, ja überhaupt der Natur eines
wirklichen menschlichen Selbstbewusstseins widerstreiten, son-
dern dass auch das ganze Evangelium eine freie, von Einer
dogmatischen Grundidee getragene Schöpfung ist; dass sein
theologischer Gesichtskreis weit über die Entwickelungsstufe
des ersten Jahrhunderts hinausliegt, dass es die Gnosis, den
Montanismus, die Passahfrage unverkennbar berücksichtigt,
und dadurch, wie durch seinen ganzen Standpunkt, auf die
Mitte des zweiten Jahrhunderts als seine Abfassungszeit hin-
weist. Je vollständiger aber hiemit die bisherige Vorstellung
von diesem Evangelium widerlegt, und je genauer sein ge-
schichtlicher Ort bestimmt wird, um so höher steigt auch die
Bedeutung, welche ihm für die Geschichte der werdenden
Kirche, für den Abschluss ihrer ersten Bildungsperiode und
die Vorbereitung ihrer weiteren Entwicklung zukommt. Das
vierte Evangelium hat die Christologie nicht blos dogmatisch
so weit vollendet, als diess überhaupt von der Logoslehre aus
möglich war, sondeni es hat^auch das Ganze der evangelischen
Geschichte aus diesem Gesichtspunkt mit künstlerischem Sinn
umgeschaffen ; es hat die praktische und die theoretische Seite
der Religion, die Forderung der Liebe und die der Erkennt-
niss, in dem Gedanken vereinigt, dass der tiefste Mittelpunkt
dei-selben in der inneren, durch den fleischgewordenen Logos
vermittelten Einheit aller Glaubigen mit Gott liege ; und wäh-
rend es in der Innerlichkeit dieser geistigen Gottesverehrung
das Judenthum als eine äusserliche und beschi-änkte , den
Christen gar nicht mehr berührende Glaubensweise behandelt,
während es auch zu hierarchischen Einrichtungen innerhalb
der christlichen Kirche nirgends einen Zug zeigt, und die
Ansprüche auf einen Primat des Petrus und der römischen
Petruskirche in verhüllten, aber für jene Zeit sehr verstand*
Das Urehristentiiam. 283
die wortgetreue Offenbarung des göttlichen Geistes, in dem
neutestamentlichen Lehrbegriff ein durchaus einstimmiges,
widerspruchsfreies Ganzes zu haben glaubt. Hat man diese
Schriften «Js menschliches Werk und geschichtliches Ei*zeugniss
zu begreifen begonnen, hat man sich von der tiefgehendea
Verschiedenheit der neutestamentlichen Lehrbegiiffe, von den
scharfen Gegensätzen in der apostolischen Kirche überzeugt,
so hört jede Möglichkeit auf, die neutestamentliche Lehre zum
Gesetz für den christlichen Glauben zu machen. Es giebt ja
nicht blos einerlei Lehre im neuen Testament, sondern ver-
schiedene Lehrweisen, die sich mehr oder weniger ausschliessen,
nicht blos Ein Urchristenthum , sondern eine ganze Beihe alt-
christlicher Entwicklungsformen, die sich alle hier abgelagert
haben. Man kann nicht der synoptischen und der johannei-
schen Christologie zugleich folgen, die Grundsätze Ae^ Paulus
und die des Jakobus zugleich gutheissen, auf den Standpunkt
der Apokalypse und den des vierten Evangeliums sich zugleich
stellen; man kann nicht mit dem Heidenapostel überzeugt
sein, dass es unmöglich sei, als Christ zugleich Jude zu sein,
und mit den Judenaposteln eben diess sein wollen. Aber nicht
blos die Vereinigung der widersprechenden neutestamentlichen
Lehrbegriffe ist unmöglich , sondeni auch von jedem einzelnen
derselben und von den Punkten, in denen sie sich nicht wider-
sprechen, kann nur die Befangenheit sich verbergen, dass
unsere Zeit sich dieselben nicht mehr in ihrem ui-sprünglichen
Sinn aneignen kann, und dass nicht einmal die katholische
und protestantische Orthodoxie sie in diesem Sinn festhält.
Der jüdische Monotheismus bildet freilich die gemeinsame
Grundlage, wie des ältesten, so auch des heutigen Christen-
thums; aber ist es seit Eopernikus noch möglich, sich die
Gottheit an einem bestimmten Ort im Himmel wohnend vor-
zustellen, wie diess die christliche Kirche von Anfang an ganz
unstreitig gethan hat? Und doch steht und fällt mit dieser
Vorstellung nicht blos die Möglichkeit, dass Christus sich in
seinem Leibe zu Gott in den Himmel erhoben habe und von
da wiederkehren werde, und ebendamit auch die Möglichkeit
Das Urcbristenihum.
285
zur wahren Menschennatur rechnen würden, die menschliche
Seele, fehlt hier. Halten wir uns umgekehrt an die drei ersten
Evangelien, so erscheint Christus hier freilich vollkommen als
Mensch, aber zu dem Gottmenschen der kirchlichen Dogmatik
fehlt ihm gerade die Hauptsache, der mit dem Menschen ver-
bundene Gott; während doch zugleich das, was dessen Stelle
hier vertritt, die Begabung mit übernatürlichen Kräften, die
wunderbare Ausrüstung mit dem prophetischen Geiste, auch
diesen synoptischen Christus von dem geschichtUchen , um den
es der Wissenschaft unserer Tage zu thun ist, sehr bestimmt
unterscheidet. Auch Schleiermachers „urbildlicher" Christus
fällt mit dem Messiaspropheten des alten Judenchristenthums
so wenig, als mit dem Logos des Johannes oder dem himm-
lischen Menschen des Paulus, zusammen. Wenn das Christen-
thum daran geknüpft wäre, dass man von Christus dieselbe
Vorstellung habe, wie die neutestamentlichen Schriftsteller,,
so gäbe es schon längst keinen Christen und kein Christen-
thum mehr.
Das gleiche gilt aber noch von vielen und tiefeingreifenden
Bestimmungen der christlichen Glaubenslehre. So wird z. B.
die Menschwerdung Gottes von der kirchlichen Dogmatik mit
der Nothwendigkeit einer Erlösung von der Sünde begründet,,
welche sich von den Stammeltern unseres Geschlechts auf alle
ihre Nachkommen fortgeerbt habe, und welche so gross sein
soll, dass der Mensch von Natur schlechterdings nichts gutea
denken, wollen oder thun könne. Unter den neutestament-
lichen Schriftstellern ist Paulus der einzige, welcher die All-
gemeinheit der Sünde von der That Adams herleitet; aber
auch er behauptet entfernt nicht, wie Augustin und unsere
Reformatoren, dass alle Thaten und Willensregungen des Un-
wiedergeborenen sündhaft seien, er sagt vielmehr ausdrücklich
das Gegentheil (Rom. 2, 14. 7, 22) ; wenn er nichtsdestoweniger
überzeugt ist, niemand könne sich selbst durch sein Thun die
Seligkeit verdienen, so gründet sich diess darauf, dass hiefür
seiner Ansicht nach eine vollkommene Sündlosigkeit , eine
mangellose Gesetzeserfüllung nöthig wäre (Gal. 3, 10. 5, 3).
Dfu UrchriBtenthuin.
Lehre von der ErbsOnde ist mitbin selbst bei
IQ ibrer katholüchen nocb iß ihrer protestanti-
2U finden; Paulus steht aber überdiess mit
unter den neutestamentlichen SchriftsteUem
einigen p&eudopaulinischen Briefen) ganz allein ;
^en wohl, was auch Römer und Griechen oft
dass kein Mensch fehlerfi-ei sei, und dass alle
der Wiedergeburt, bedUifen, aber sie sagen
That der Stammeltem daran schuld sei, und
lieh sei, durch die eigene sittliche Arbeit das
ottea zu erwerben. — Einstinuniger sind die
len Schriften in einer Vorstellung , die im
r gröbere^ mythische Ausdruck für die lieber-
er Macht des Bösen ist, in dem Glauben an
Schon in dem späteren Judentbum hatte dieser
nglicb aus der persischen Religion stammend,
js um sich gegriffen, dass man alle möglichen
akheiten von dem Einfluss der Dämonen, selbst
B^essenheit, alles Böse in der Welt von der
Teufels herleitete. Der gleiche Glaube gieug
e in's Christenüium über, und es giebt kaum
laubensartikel , Ober den unsere neutestament-
I so einig wäreu, wie tlber diesen. Schon Jesus
1 Anfang an mit dem Teufel zu kämpfen gehabt
istreibuogen sollten einen hervorragenden Theil
thätigkeit gebildet, der Teufel soUte in der
das Ischarioth seinen Tod herbelgefuhrt, seine
keit sollte die TJeberwindung des Teufels zum
haben; und ebenso soll auch jeder Christ und
itliche Kirche unablässig gegen den Teufel zu
was ihnen schlimmes widerfährt, was sich in'
[feindliches zeigt, ist ein Werk des Teufels, die
t ist sein Reich, und die Götter der Heiden
LÜr. 10, 20) Dämonen. Einzelne Schriften be-
e Apokalypse, der Epheser- und Kolosserbrief,
f Petri, das Evangelium und die Briefe des
Das Urchristenthum. 287
Johannes, lieben es, das Geschäft Christi und das Leben des
Christen unter diesen Gesichtspunkt zu stellen; aber an sich
selbst ist er keinem einzigen von den neutestamentlichen
Schriftstellern fremd, und Schleiermachers Ausrede, dass sie
diese Voi-stellung mit ihrem religiösen Glauben in keine Ver-
bindung gesetzt haben, und ihr keine dogmatische Bedeutung
beilegen, ist das grundloseste und geschichtswidrigste, was man
sich denken kann. Gerade dieser Glaube gereicht aber freilich
unserer Zeit wie kein anderer zum Anstoss; er mag wohl in
den untersten Volksschichten noch foitspuken, es mögen auch
von denen, die an sich darüber hinaus sein sollten, noch
manche ihre Phantasie damit aufregen oder ihn um der Auk- ^
torität willen in ihrer dogmatischen Vorrathskammer dulden,
aber für ihr religiöses Leben selbst hat er auch bei solchen
nicht die geringste Bedeutung mehr, und wer sich in der
Theologie gegen die heutige Bildung nicht gänzlich abgesperrt
hat, der ist über ihn längst mit sich im reinen. Wir sehen
auch hier wieder, wie weit der Abstand zwischen unserer und
der altchiistlichen Denkweise ist, und wie Glaubensvorstellungen,
denen man ehemals das höchste Gewicht beilegte, uns nicht
Mos entbehrlich, sondern schlechthin unmöglich geworden sind.
Ein anderes Beispiel dieser Art ist uns schon früher in
dem Glauben an die Wiederkunft Christi vorgekommen. Wir
haben gesehen, dass dieser Glaube für die Christenheit ein
volles Jahrhundert lang im Mittelpunkt ihres religiösen Be-
wusstseins stand, und dass es nicht allein das sichtbare Kom-
men des Herrn, sondern ebensosehr auch die unmittelbare
Nähe dieses Ereignisses war, was für sie die grösste Be-
deutung hatte. Für uns umgekehii; hat sich nicht blos diese
Annahme als L'rthum erwiesen, sondern die ganze Erwartung
einer persönlichen und sichtbaren Wiederkunft Christi ist aus
unserem Vorstellungskreis gänzlich verschwunden. An ihre
Stelle ist für unsere Zeit der ünsterblichkeitsglaube getreten:
so wenig man vor achtzehnhundert Jahren den für einen
Christen gehalten haben würde , der an der Wiederkunft des
Messias gezweifelt hätte, so wenig pflegt man heutzutage den
Das Drchristentlium-
ui der Unsterblichkeit zweifelt, und nicht
ganzes Christenthum io diesen Einen
cbrumpft. Nur daif man darum nicht
ueh der Standpunkt der ersten Christen,
leuen Testaments sei. Die neutestament-
ehren wohl einstimmig die Auferstehui^
Auferstehung ist etwas anderes, als die
der letzteren handelt es sieh um die
ten Persönlichkeit, von der man voraus-
Natur nach dem Untergang nicht unter-
man sieh diese mit einer dereinstigen
ider auch mit einer theilweisen Fort-
Organs verknüpft denkt, ist für den
in als solchen von keiner Erheblichkeit ;
vielmehr mit Kant fragen: „wem ist
lieb, dass er ihn gerne in Ewigkeit mit
!, wenn er seiner entübrigt sein kann?"
omgekehrt handelt es sich um die Wieder- '
jrbelebung des Leibes, und diese kann
r von einem wunderbaren Einschreiten
cht erwai-tet werden. Erst durch die
bes sollte auch die Seele in ein Leben,
les Lebens verdient, zurückgerufen, erst
Frommen in die ewige Seligkeit einge-
ssem Zeitpunkt werden sie in dem Scheol,
bausung der Abgeschiedenen, aufbewahrt,
nahm, dass sie in zwei Abtheiluugen, die
L, die andere für die Gottlosen, getheilt
n allgemeinen als eine Stätte des Todes,
-en, gedacht wurde. Diess ist die ganz
s neuen Testaments, wenn sich auch im
der jüdischen Theologie, der 'Widerspnich
Apokalyptiker durch die Annahme einer
lg in seiner Art gelöst hat, dass zwar in
itehung als ein VoiTecht der Frommen,
der Gerechten" besehrieben wird, dass
Bas Urchristentlium. 289
man aber zugleich auch ein allgemeines Gericht und desshalb
eine Auferstehung aller Gestorbenen annimmt. Auch das Para-
dies, in welches der arme Lazarus und der bussfertige Schacher
gleich nach ihrem Tode kommen (Luc. 16, 22. 23, 43), ist
nicht das „obere" oder himmlische, sondern das „untere **
Paradies, der Wohnort der Frommen in der Unterwelt. Nur
in einigen wenigen Stellen (Ehihpp. 1, 21 ff., Apg. 7, 59, viel-
leicht auch Ebr. 12, 23) ist von einem unmittelbaren XJeber-
gang der Gestorbenen in den Himmel die Eede; diese stehen
aber theils sehr vereinzelt, theils beziehen sie sich, wie es
scheint, durchaus auf christliche Märtyrer, denen auch die
Kirchenväter des zweiten und dritten Jahrhunderts das Vor-
recht beilegen , dass sie allein schon vor der Auferstehung in
den Himmel kommen sollen. Im übrigen aber wissen sich die
neutestamentlichen Schriftsteller, und wussten sich die älteren
Christen überhaupt, ein geistiges Fortleben nach dem Tode
so wenig zu denken, dass Paulus z. B. (1 Kor. 15, 12 ff. 32)
geradezu erklärt, wenn die Todten nicht auferstehen, wäre
der ganze Christenglaube eitel und gi-undlos und alle Hoffiaung
der Christen wäre auf dieses Leben beschränkt: „wenn die
Todten nicht auferstehen, lasset uns essen und trinken, denn
morgen sind wir todt". Als in der Folge die Gnostiker die
Unsterblichkeit der Seele zwar zugaben, aber die Auferstehung
des Leibes bestritten, waren die angesehensten Kirchenlehrer,
ein Justin und Irenäus, noch einstimmig der Meinung: wer
die Auferstehung läugne und die Seelen gleich nach dem Tode
in den Himmel kommen lasse, den dürfe man so wenig für
einen rechten Christen halten, als die Sadducäer für rechte
Juden. Die ganze Vorstellung von dem Zustand nach dem
Tode ist ursprünglich aus dem jüdisch - pharisäischen Dogma
in das christliche herübergekommen; erst seit der Mitte des
zweiten Jahrhunderts gewann neben jenem die platonische
Lehre von einer natürlichen Unsterblichkeit und einem geisti-
gen Fortleben Eingang, und erst in der neueren Zeit ist es
bei der Mehrzahl der Gebildeten durch die letztere verdrängt
worden. Der christlichen Urzeit lag diese noch ferne: was
Zeller, Vorträge und Al>liandl. 29
Das Drcbristenthntn.
für die meisten ein unerlässlicher Bestandtheil ihres
ns ist, galt ihr för ein Merkmal der verhasstest«!
ch weitere Belege sucht, findet sie leicht in Bau r 's
itlicher Theolt^ie, iD Strauss' Glaubenslehre und
Werken. Es wird aber auch schon ans den bisher
n hinreichend hervorgehen, wie es um jene Ueber-
; unseres Gl&ubem mit der Lehre des neuen Testa-
, welche fast allgemein theils vorausgesetzt, theils
rd. Ist diese Uebereinstimmung denn auch nur
können wir denn, und wenn wir es noch so sdir
i alles vergessen, was die Er&hrung, die Bildung,
chaft, die geistige Arbeit, die sittliche und politi-
;klung von achtzehn Jahrhunderten auch unsem
'orstellungen neues zugebracht, das alles wieder
Jten, was sie nun einmal widerlegt hat? Können
Juden werden, wie es die ersten Christen gewesen
ten wir glauben, was ihnen der wichtigste Glaubens-
esen ist, die Wiederkehr Christi in den Wolken,
nalter nach seinem Tode? Können wir uns anders,
äweise, in eine Weltanschauung zurückversetzen,
lie Erde der Mittelpunkt des Weltalls war, Über
imel als der Wohnsitz Gottes und der Engel, imter
lausung der Todten, die ihrer Auferstehung ent-
1? Können wir uns die alten judenchristlichen Vor-
rom Messias und seinem Beich, oder andererseits
ische Logoslehre, ohne Abzug und Umdeutung an-
5nnen wir an die ganze neutestamenüiche Lehre
;lauben, wenn zwischen den einzelnen Schriftstellern
'^idei'spriiche stattfinden? Wie viele derartige Fragen
aufwerfen, und auf welche derselben lässt sich
mit Kein, antworten? Es ist nun einmal unmöglich,
lieren Belege für die obige Darstellung giebt meine Abhaad-
heoL Jahrbücbem VI, 390 £: Die Lehre des N. T. vom Zn-
m Tode.
Bas ürchristenthnm. 291
dass die spätere Zeit in die Denkweise der früheren zurück-
gehe, so unmöglich, als dass der Mann, wieder Knabe werde,
oder dass ein Mensch seine Persönlichkeit mit der eines andern
vertausche. Wie der einzelne Mensch, so ist auch jeder Ver-
ein von Menschen in einem beständigen Wechsel seiner inneren
und äusseren Zustände, in einer unablässigen Entwicklung
begriffen, und er kann unmöglich beim Beginn dieser Ent-
wicklung alles das schon besitzen, was er erst durch sie er-
ringen soll. Auch mit der Religion und der Kirche verhält
es sich nicht anders. Das Urchristenthum ist nicht das ganze
Christenthum , und wenn man über das Urchristenthum hin-
ausgeht, so ist diess darum noch kein Uncbristenthum. Wäre
dem nicht so, so hätte das Christenthum schon mit dem ersten
Schritt, durch den es sich vom Judenthum losmachte, zu exi-
stiren aufgehölt. Schon das Christenthum des Paulus war ein
anderes, als das der XJrapostel, und im vierten Evangelium
ist der jüdische Messiasglaube in den ausgesprochensten Gegen-
satz von Christenthum und Judenthum übergegangen. Nur
die Unwissenheit oder Befangenheit kann diese Thatsache
übersehen, und nui- der Unvei-stand kann von unserer Zeit
verlangen, was der urchristlichen selbst nicht möglich war.
Will man es aber dennoch von uns verlangen , nun so zeige
man erst an sich selbst, wie wir es machen sollen, man be-
weise uns erst, dass der eigene Glaube von dem der ersten
Christen nicht abweicht ; ich glaube aber nicht, dass auch nur
ein einziger von unseren Zeitgenossen diesen Beweis zu liefeni
im Stande ist.
Wie aber, wenn es nicht das Urchristenthum ist, in dem
sich das Wesen des Christenthums vollkommen darstellt, wo
sollen wir diese Darstellung denn suchen? Ueberall, wenn
man will, oder auch nirgends. Das Christenthum ist ein ge-
schichtliches Princip, dessen Wesen daher auch nur aus dem
Ganzen seiner geschichtlichen Erscheinung erkannt werden
kann. Was das Christenthum sei, können wir nur aus dem
abnehmen, was es geworden ist, auch in seiner ersten Ge-
stalt das wesentliche, das eigentlich christliche im Urchristen-
19*
Das ürchristenthunL 295
Leben eine Umwälzung vollziehen, welche viel tiefer geht, als
die mit ihr verknüpfte Umbildung der Dogmatik , wie diess
bei der Reformation unverkennbar der Fall war; und es kann
umgekehrt die spätere Zeit mit der früheren in dem Ganzen
der religiösen Gefühle und Antriebe viel mehr gemein haben,
als man nach dem tiefen Gegensatz der theoretischen Welt-
anschauung vermuthen sollte. Wie sich nun unsere Zeit in
dieser Beziehung zu der christlichen Urzeit verhält, diess ist
eine Frage, deren Beantwortung eine besondere umfassende
Untersuchung erfordern würde; die vorstehende Darstellung
wollte nicht mehr geben, als ein übersichtliches Bild des älte-
sten Christenthums und der wichtigsten von den Formen, die
es durchlaufen musste, bis aus der unscheinbaren Gemeinde
palästinensischer Judenchristen die katholische Kirche des
zweiten Jahrhunderts, aus dem jüdischen Messiasglauben die
Dogmatik des Johannesevangeliums hervorgieng.
10.
Die TübiBger historische Schule.
me UBd der Standpunkt der Tübinger Schule ist
ässig erst spät in weiteren Kreisen bekannt ge-
r Gründer dieser Schule hatte schon in den dreissi-
iie Grundlinien seiner Geschichtsansicht entworfen,
te sie schon um die Mitte der vierziger in um-
''erken nach allen Seiten hin ausge^rt; auch die
äfte, die sich an ihn anBchlossen, waren grösseren-
um diese Zeit aufgetreten, und seit den ersten
ie im Zasammenhaog mit dem Streit über Strauss*
auch auf ihn gemacht wurden, war die Verhandlung
(gen, die er angeregt hatte, nicht wieder zum Still-
nmen. Aber selbst unter den Theologen fanden
suchungen viele Jahre lang nicht die Beachtung,
ibUhrt hätte; und die Nichttheologen blieben Er-
die fast ausscbtiesslich in theologischen Werken
iften, mit allen Hül&mitteln der Fachgelehrsamkeit,
den, beinahe ganz fremd. Eine allmähliche Aen-
in trat ein, als Baur im „Ghristentbum der drei
Lunderte" (1. A. 1853) seine Auffa^ung des ältesten
ns gemeinTerständlieh in einem ansprechenden
i dai'Iegte; aber erat seit seinen letzten Lebens-
l in höherem Grad erst seit seinem Tode, haben
ten ausser dem engeren Kreise seiner theologischen
Die Tübinger historische Schale. 295
Schüler Wurzel gefässt, und auch ausser Deutschland, in der
Schweiz, in Holland, im protestantischen Frankreich, zahlreiche
Anhänger unter Theolc^en und Nichttheologen gewonnen. Selbst
in England hat man denselben eine ernstere Aufmerksamkeit zu
widmen begonnen, und in der Schrift von Mackay*) hat es
ein gründlicher Kenner der neueren deutschen Kritik und ein
entschiedener Freund des Baur'schen Standpunkts unternom-
men, seine Landsleute mit denselben bekannt zu machen. Ich
weiss nicht, welchen äussern Erfolg dieses Werk gehabt hat;
verdient hat es, nicht allein durch seine sachliche Zuverlässig-
keit, sondern auch durch seine klare und geschmackvolle, mit
sicherer Hand auf's wesentliche gerichtete Darstellung, den
besten.
Wie die Tübinger Schule in ihrer äusseren Ausbreitung /
ihren Weg von den Theologen zu den Nichttheologen genom-
men hat, so zeigt auch ihre innere Eigenthümlichkeit ein
grundsätzliches Hinausgehen über die theologischen Traditionen.
Ihr Stifter und seine Schüler waren zunächst allerdings Theo-
logen, welche durch ihre Fachwissenschaft zu ihren Unter-
suchungen geführt wurden. Aber sie wollten die Stoflfe, für
welche man bis dahin in der Begel eine ganz eigenthümliche,
von dem sonst anerkannten wissenschaftlichen Verfahren ab-
weichende Behandlung verlangt hatte , ihrerseits nicht nach
theologischen, sondern nach rein geschichtlichen Gesichtspunkten
behandeln. Um diesen Charakter der Tübinger Schule aus-
zudrücken, habe ich sie als historische Schule bezeichnet.
Auch den Namen einer theologischen braucht sie allerdings
desshalb nicht abzuweisen und auf ihre Berechtigung inner-
halb der protestantischen Theologie nicht zu verzichten; sie
kann vielmehr mit Grund für sich anführen, dass eben das
dem ächten Geiste des Protestantismus gemäss sei, die ge-
schichtliche wie jede andere Wahrheit ohne alle Nebenrück-
sichten zu suchen, nicht die wissenschaftliche Ueberzeugung
/
^) The Tübingen School and its antecedents. By R, W. Mackay M,
A. Lond. 1863.
-T» ir
296 • I>ie Tübinger
nach dogmatischen Voraussetzungen, sondern die dogmatischen
Vorstellungen nach dem Ausfall der wissenschaftlichen For-
schung zu bestimmen. Doch diesen Punkt habe ich hier nicht
zu untersuchen; ich betrachte die „Tübinger Schule" hier nur
nach ihrem geschichtlichen Standpunkt und ihren geschicht-
liehen Ergebnissen.
Zunächst muss ich hiebei allerdings an die Geschichte der
Theologie anknüpfen. Die ältere Theologie verhielt sich be-
kanntlich zu den biblischen Urkunden und Erzählungen ganz
allgemein ebenso unkritisch , wie diess ihre Nachfolgerin , die
neuere Orthodoxie, heute noch thut. Die Sammlung der bibli-
schen Schriften galt als Ganzes für wörtlich inspirirt und mit-
hin für unfehlbar ; an dem höheren Ursprung von einem dieser
Bücher zu zweifeln, die Glaubwürdigkeit ihres Inhalts in Frage
zu stellen, erschien als eine Gottlosigkeit, ein Verbrechen.
Hieraus ergab sich von selbst, wie man ihren geschichtlichen
Inhalt zu behandeln hatte. Die Theologie sollte den Sinn ihrer
Erzählungen ausmitteln, ihre verschiedenen Aussagen verknüpfen,
ihre Glaubwürdigkeit im grossen wie im kleinen vertheidigen,
nie aber und unter keinen Umständen die Wahrheit einer
biblischen Erzählung, die Richtigkeit einer Angabe, die Aecht-
hieit und Eingebung eines biblischen Buches antasten. Der
mittelalterlichen Theologie wurde diess nun allerdings nicht
schwer, weil die damalige Wissenschaft, kritiklos und an Auk-
toritäten gefesselt, auch mit den nichtbiblischen Schiiftstellem
nicht viel anders zu verfahren pflegte. Auch später jedoch,
als das 15. und 16. Jahrhundert den kiitischen Sinn zu ent-
binden und einer wissenschaftlicheren Geschichtsforschung die
Bahn zu öffnen begonnen hatte, konnte sich doch die Theologie
von der hergebrachten Auffassung und Behandlung ihres Gegen-
standes nicht losreissen: der ältere Protestantismus, welcher
sich ganz und gar auf die biblischen Schriften gründen wollte,
konnte einen Zweifel an diesen Schriften und ihrem Inhalt so
wenig, wie der Katholicismus , ja fast noch weniger zugeben.
Nur einzelne wagten es, von dem hergebrachten Wege auf
wenig betretenen Seitenpfaden sich zu entfernen, und selbst
historische Schule. 297
als seit dem Ende des 17. Jahrhunderts durch die englischen
und dann durch die französischen Freidenker der Glaube an
die biblischen Erzählungen in weiteren Kreisen erschüttert
war, verhielt sich die Theologie zu diesen nicht selten aller-
dings leichtfertigen und masslosen Angriflfen fast nur abwehrend.
Erst der deutsche Rationalismus war es, welcher innerhalb der
Theologie seihst den durchgeführten Versuch machte, von der
biblischen Geschichte, und so namentlich 'auch von der Ur-
geschichte des Christenthums, eine mit der menschlichen Ver-
nunft und der allgemeinen Erfahrung übereinstimmende Vor-
stellung zu gewinnen, diese Geschichte aus einer wunderbaren
und übernatürlichen in eine natürliche zu verwandeln. Aber
wie diess auch sonst nicht selten im Anfange geschieht: er
blieb bei diesem Versuch auf halbem Wege stehen. Von den
zwei Voraussetzungen der älteren, supranaturalistischen Theo-
logie: dass wir in den biblischen Erzählungen erstens reine
Geschichte, und zweitens eine überaattirliche, an die sonstigen
Gesetze des Geschehens nicht gebundene Geschichte haben —
von diesen Voraussetzungen liess er die zweite fallen, die erste
wagte er in der Hauptsache nicht anzutasten. So entstand
für ihn die Aufgabe, zu zeigen, dass man die biblischen Be-
richte nur richtig aufzufassen brauche, um in ihnen statt der
vermeintlichen Wunder lauter natürliche und höchst begreif-
liche Vorgänge zu entdecken. Da jedoch diese Berichte in
Wirklichkeit ganz unverkennbar Wunder erzählen und erzählen
wollen, so war zu jenem Nachweis keine geringe Kunst nöthig.
Es mussten die Mittel gefunden werden, das, was sich selbst
als ein übernatürliches giebt, seiner Geschichtlichkeit unbe-
schadet, in ein natüriiches zu verwandeln. Aber die Rüst-
kammern des Rationalismus waren auch reich an den hiefÜr
nöthigen Apparaten. Ein fast unerschöpfliches Hülfsmittel bot
schon die Sprache. So manches , was sich uns als ein über-
natürliches dai-stellte, schien vielleicht nur*so, weil man die
Eigenthümlichkeit der alt- und neutestamenüichen Ausdrucks-
weise, der orientalischen Bildersprache, nicht in Beti'acht zog.
Wenn z. B. unzähligemale im alten Testament steht, Gott
Die Tobii^eT
en, war es denn nöthig, Mebei an ein wirkliches
denken, konnten die Propheten nicht bildlich
gottbegeisterten Reden als Reden der Gottheit
)en? Wenn der biblischen Erzählung zufolge die
Eva oder Bileauis Esel mit seinem Herrn redet,
fiel natui^emässer, dieses Zwiegespräch in das
treffenden Personen zu verlegen, in den Reden
r den bildlichen Ausdmck für die Gedanken zu
: in jenen aus Anlaas dieser Thiere aufeestiegen
io in den Worten, die der Teufel hei der Ver-
Christus richtet, und in der Teufelaerscheinung
en bildlichen Ausdruck für die Ueberlegungen,
US vor seinem öffentlichen Auftreten anstellte ?
ffitelgeschichte erzählt, der Geist sei am Pflngst-
FOnger herabgekommen, was heisst das anders,
Jünger hei diesem Anlass von einer lebhaften
eisterung ergriffen wurden? Die Erzähler, nahm
en auch nichts anderes sagen ; nur unsere Schuld
ffir eigentlich nehmen, was uneigentlich gemeint
ir orientaiische Bilder in occidentalische Begriffe
Weiter bemerkte man, dass die religiöse Welt-
,uch natürliche Vorgänge unmittelbar auf die
ckzufllhren gewohnt sei, tmd dass von dieser
lg wiederum die Orientalen weit ausschliesslicher,
jrrsclit werden; und man schlMB hieraus, dass
Schriftsteller durchaus nicht die Absicht haben,
tliehe Ursächlichkeit, aus der sie einen Vorgang
Ifaturursachen auszuschüessen , durch die er ge-
klärbai' wird. Wenn also etwa erzählt wird,
n Flammen auf den Berg Sinai herabgefahren,
it nur ein Gewitter angedeutet sein; wenn in
rwähnteu Falle beim Pfingstfest feurige Zui^en
lerabgekommen sein sollen, so waren diess elek-
n ; dass Paulus und Silas im Gefängniss zu Phi-
;eln plötzlich von den Händen fielen, war die
s Erdbebens; wenn Paulus vor Damaskus ge-
\
historische Schule. 299
blendet und nachher durch Ananias wieder sehend gemacht
wurde, so ist jenes durch einen Blitz, dieses durch die kalten
Hände des alten Mannes bewirkt worden u. s. w. Sollte aber
diese Erklärung nur da zulässig sein, wo die Berichte selbst
eine Andeutung der natürlichen Ursachen enthalten, die mit
im Spiel waren? ist es nicht ebenso möglich, dass die natür-
lichen Gründe eines Erfolgs von dem Erzähler auch ganz über-
gangen sind ? Dass z. B. Christus und die Apostel ihre Kranken-
heilungen auf ganz natürlichem Wege, wie andere Aerzte,
bewirkt haben , wenn wir auch von den Mitteln , die sie an-
wandten, im Neuen Testament nichts lesen? Ja ist nicht
vieDeicht der Schein des Wunderbaren oft nur desshalb ent-
standen, weil den Berichterstattern selbst die näheren Um-
stände nicht so genau bekannt waren, weil auch sie für ein
unvermitteltes hißlten, was in Wahrheit seine ausreichenden
Gründe gehabt hat? In solchen Fällen ist es eben Sache des
Auslegers, die fehlenden Mittelglieder der Erzählung zu er-
gänzen; und wenn es ihm an dem nöthigen Scharfsinn nicht
fehlt, wird er sich leicht überzeugen, dass z. B. die Todten-
erweckungen der evangelischen Geschichte und Christi eigene
Auferstehung nichts anderes waren als ein Wiederei^wachen
von Scheintodten ; dass bei der Speisungsgeschichte Jesus nicht
das unmögliche gethan hat, mehr als 5000 Menschen mit we-
nigen Broden zu sättigen, sondern dass er nur durch seinen
Vorgang den Anstoss zur freigebigen Vertheilung der vorhan-
denen Lebensmittel gegeben hat; dass das Wunder von Kana
nichts weiter als ein Hochzeitscherz war, indem Jesus die
Wasserkrüge heimlich mit Wein füllen liess, die Anwesenden
aber diess nicht bemerkten u. dgl. Nehmen wir dazu noch
die mancherlei Freiheiten der Worterklärung, durch welche
z/ B. das Wandeln Jesu auf dem See zu einem Wandeln am
Seeufer, und der wunderbare Fund eines Geldstücks im Maul
eines Fisches zum Verkauf des Fisches imi dieses Geldstück
gemacht wurde, so werden wir es begreifen, dass keine Wunder-
erzählung augenscheinlich genug sein konnte, um nicht von
dieser rationalistischen Auslegung in einen natürlichen Vorgang
historische Schule. 301
gläubigen Gegner haben diess mitunter nicht ohne Erfolg ge-
than. Aber sie konnten den Rationalismus dennoch nicht au&
dem Felde schlagen, weil sie selbst ähnliche Gewaltsamkeiten
und Sophismen zjir Durchftthmng ihres Standpunktes sich er-
laubten; noch weit mehr aber, weil dieser Standpunkt mit
den Ueberzeugungen der Zeit und den allgemein anerkannten
Ergebnissen der Wissenschaft im Widerspruch lag. So viel
auch der Rationalismus in seiner Behandlung der biblischen
Erzählungen gefehlt hat: seine Fehler rührten nur daher,
dass er ihre geschichtliche Prüfung blos zur Hälfte durchführte ;
diese Halbheit war aber immer noch besser, als das ganz un-
geschichtliche Verfahren des Supranaturalismus, der mit seinem
Wunderglauben jede Herstellung eines historischen Zusammen-
hangs, mit seiner Inspirationslehre jede Kritik der biblischen
Schriften in der Wurzel aufhob: dass sie dieses Verfahren
gegen jene Halbheit eintauschen solle, liess sich von einer in
allem übrigen Wissen fortschreitenden Zeit nicht verlangen.
Weit entfernt daher, den Rationalismus durch seine Apologetik
zu besiegen, nahm ihn der moderne Supranaturalismus viel-
mehr immer vollständiger in sich auf: während die alten Theo-
logen mit ihrem Wunderglauben durch dick und dünn gegangen
waren, liebte man es jetzt auch auf offenbarungsgläubiger
Seite, den auffallendsten Wundem die Spitze abzubrechen,
natürliche Erklärungsgründe zwische^einzuschieben, die eigent-
liche Meinung der biblischen Erzählungen hinter unbestimmteren
AusdiTlcken, einen * rettenden Engel z.B. hinter einer „Fügung
der Vorsehung" u. dgl. zu verbergen. Wer Belege für dieses^
Verfahi-en sucht, findet sie, um andere zu übergehen, in reichem
Mass bei Neander. Ein Rationalismus , welcher die biblische
Geschichte geschichtlich behandeln will, aber dabei auf halbem
Weg stehen bleibt, und ein Supranaturalismus, welcher vom
Offenbarungs- und Wunderglauben nicht lassen will, aber mit
der gleichen Halbheit fortwährender Zugeständnisse an den
Gegner sich nicht zu entschlagen weiss, diess ist das Schau-
spiel, welches uns die Theologie auf diesem Gebiete im ersten
Drittheil unseres Jahrhunderts darbietet; und wenn die Be-
302 Die Tübinger
handkng der alttestameatlicbeti Geschichte und Schriften all-
mählich — nicht ohne den hartnäckigsten Widerstand der neu
loxie — auf einen freieren und gesunderea
waren doch die scbücbteraen Versuche, das
äutestamentlichen zu thun, immer nur ver-
1. Selbst die grossen, in unsere ganze theo-
ag 80 tief eingi-eifenden Leistungen Scbleier-
ils brachten hier zunächst keine AendeiHDg
icher verhielt sich als Kritiker und Exeget
ntüchen Schriften wesentlich rationalistisch,
ler Glaubenslehre freilich mit dem Grund-
ildlichen Christus" auch allen andern die
n seinen Schülern wussten weit die meisten,
rlei Kapitulationen mit dem Zeitgeist, all-
zu einem Supranaturalismus zu finden, der
mehr verdichtete, wobei, die Wunder be-
lebelbafte Phrasen, über die Haimonie des
i Leiblichen , beschleunigten Naturprocess
Inge Rolle zu spielen hatten. Hegel stand
ion anf^ghch gleichfalls mit einem Batio-
r, dessen Spuren sich auch nie ganz hei
in; in der Folge, als die Versöhnung des
Wissen das Losungswort seiner Religions-
en war, erklärte er das Geschichtliche des
bgültig , weil es nur auf die Idee daiin an-
iussert er sich denn auch wirklich darüber
IBS sich die entgegengesetztesten Ansichten
locht auf ihn berufen konnten. Seine Schule
LUgs in ihrer vermeintlichen spekulativen
bstzufrieden und glücklich, sie pflegte auf
:u Standpunkt" der rationalistischen Kritik
Geringschätzung herabzusehen, dass man
ler, so schien es, alles andere eher hätte
ils einen so radikalen Angriff auf die kirch-
mgen, wie er bald darauf erfolgt ist. Als
Aolastischen Formeln in aller Unbefangenheit
historische Schule. 303
mit Bibelsprüchen belegte, welche oft nicht das entfernteste
damit zu thun haben, als Bruno Bauer, der nachmalige Him-
melsstüimer , die übernatürliche Erzeugung Jesu „spekulativ'^
deducirte, und Göschel seine theologischen Phantasmagorieen
gleich sehr und mit gleichem Recht für biblisch und für philoso-
phisch ausgab, da hatte diese orthodoxe Verworrenheit in der
hegel'schen Schule ihren Höhepunkt erreicht.
So war der Stand dieser Untersuchungen, als vor nunmehr
vierzig Jahren Strauss' Leben Jesu erschien. Die Wirkung
dieser Schrift war eine so aussei-ordentlicbe, wie sie in Deutsch-
land kein anderes theologisches Werk hervorgebracht hat.
Die Selbsttäuschungen der biblischen Theologie waren mit
Einem Mal von der schärfsten, unerbittlichsten, den Gegner
unermüdet in alle Schlupfwinkel verfolgenden, allen seinen
Wendimgen mit dialektischer Ueberlegenheit nachgehenden
Kritik in ein helles Licht gestellt; der Rationalismus sah das
künstliche Netz seiner natürlichen Erklärungen zerrissen, der
Supranaturalismus die mühsame Arbeit seiner apologetischen
Schanzwerke zerstört, die Halben und Unklaren aller Partheien
fanden sich aus ihrer Behaglichkeit aufgeschreckt, zur scharfen
Stellung, zur rückhaltslosen Entscheidung von Fragen gedrängt,
deren Schwierigkeiten sie. bisher so glücklich auszuweichen
gewusst hatten. Kein Wunder, dass dem Schlag, welcher die
theologische Atmosphäre so unerwartet durchzuckt hatt.e, zu-
nächst Ein Schrei des Entsetzens und der .Entrüstung , eine
unbeschreibliche Aufregung gegen den Frie^^sstörer, eine über-
triebene Angst vor den Verheerungen folgte, die eine so ver-
wegene Kritik im Reiche des Glaubens, der Frömmigkeit,
selbst der Sittlichkeit anrichten müsse. Und doch war das,
was Strauss wollte, im Gi*unde sehr einfach. Er verlangte
nicht mehr imd nicht weniger, als was sich für jede wissen-
schaftliche Theologie von selbst versteht : dass die evangelischen
Berichte nach denselben Grundsätzen behandelt werden, nach
denen wir jede andere Ueberlieferung beurtheilen; dass der
kritischen Untersuchung ihre Ergebnisse weder ganz noch
theilweise zum voraus vorgeschrieben, dass die Feststellung
historisclie Schule. 305
welche ein solches Geschehen berichtet, falsch ist ? Mit dieser
Fragestellung ist aber auch die Antwort gegeben. Denn da
sich die Wahrscheinlichkeit einer Annahme eben nur nach
ihrer Uebereinstimmung mit anderem als wahr anerkannten
bemessen lässt, und da uns nun in unserer Ei*fahrung von
ungenauer Beobachtung, ungetreuer Ueberlieferung, absicht-
licher und unabsichtlicher Erdichtung, überhaupt von unrich-
tiger Berichterstattung zahllose Beispiele vorliegen, von einem
sicher beglaubigten Wunder dagegen, von einem Erfolg, der
nachweisbar nicht aus dem natürlichen Zusammenhang der
Dinge heiTorgegangen ist, kein einziges, so lässt sich kein
Fall denken, in welchem der Historiker es nicht ohne allen
Vergleich wahrscheinlicher finden müsste, dass er es mit einem
unrichtigen Bericht, als dass er es mit einer wunderbaren
Thatsache zu thun habe. Wenn daher Strauss die Wunder
schlechtweg als ungeschichtlich behandelt, so thut er nur, was
er als voraussetzungsloser Kritiker thun muss, er folgt nur
denselben wissenschaftlichen Grundsätzen, nach denen sich die
Geschichtsforschung auf allen anderen Gebieten richtet. *)
In der Anwendung dieser Grundsätze kam er nun fi-eilich
zu einem für die meisten höchst überraschenden Ergebniss.
Ein grosser Theil der evangelischen Erzählungen sollte unge-
schichtlich sein; nicht allein die Eindheits- und Himmelfahits-
geschichte, sondern auch die Wunderthaten Jesu mit wenigen
natürlich erklärbai*en Ausnahmen, auch viele von den Reden,
darunter fast alle im vierten Evangelium berichteten, auch
die Auferstehung des Gekreuzigten sollte nur der Uel^erliefe-
rung nicht der Wirklichkeit angehören. Es begreift sich,
wenn dieses Ergebniss selbst von denen, welche Strauss' kriti-
schen Grundsätzen im allgemeinen ihre Zustimmimg nicht
versagen konnten, nicht wenige zurückschreckte. Aber wie
viel auch dagegen geschrieben und geeifert worden ist: wenn
*) Einige weitere Erläuterungen über die obenbesprocliene Frage, zu
denen mich ein Angriff Eitschl's yeranlasste, finden sich in Sybel's Histor.
Zeitschr. VI, 364 ff. VIU, 100 ff.
Zeller, Vortr&ge und Abhandl. 20
historisclie Schule. 307
peltes verwiesen: das Interesse der ältesten Christengemeinde
an der Verhenlichung ihres Stifters, und das Bedürfiiiss der-
selben, in ihm theils die alttestamentlichen Weissagungen er-
füllt, theils überhaupt die jüdische Messiasidee verwirklicht zu
sehen. Den entscheidendsten Einfluss hatte aber nach Strauss
das letztere Moment, wie sich denn auch nur aus ihm die
Erscheinung erklärt, dass die christliche Sage, aus den viel-
fachsten Beiträgen der Einzelnen, aus zahllosen kleinen Quellen
zusammengeflossen, doch im ganzen den gleichen Weg ein-
schlug und ein in den Hauptpunkten zusammenstimmendes
Christusbild lieferte. Was der Messias sei, was er wirken,
wie er sich der Welt darstellen, durch welche Wunder er
verherrlicht werden sollte, diess war schon durch die jüdische
Theologie so weit festgestellt, dass sich einerseits aus dieser
Erwartung, andererseits aus der geschichtlichen Erinnerung
an Jesu Persönlichkeit, Thaten und Schicksale, in der christ-
lichen Gemeinde eine Ueb erlief erung bilden konnte, die in
ihren einzelnen Bestandtheilen keine gi'össeren Abweichungen
zeigt, als in unsern Evangelien wirklich vorliegen.
So fruchtbar und so berechtigt aber diese Erklärung ohne
Zweifel in vielen Beziehungen ist, so hat sie doch zwei wesent-
liche Mängel, welche ihi* Urheber auch in der Folge als solche
anerkannt hat.*) Für's jerste nämlich lässt sich, auch wenn
man im übrigen die Ergebnisse der straussischen Kritik zu-
giebt , doch nicht verkennen , dass nicht der ganze Inhalt un-
serer evangelischen Schiiften auf dem von ihr eingeschlagenen
Wege zu erklären ist. Aus der sagenhaften Ueb erlief erung
geschichtlicher Thatsachen und aus der von Strauss angenom-
menen mythischen Dichtung, mit Einem Wort : aus der christ-
lichen Volkssage, lassen sich theils nm* die gemeinsamen Züge in
den evangelischen Berichten, theils nur solche Abweichungen
erklären, welche als zufällig und unwillkührlich durch alle
diese Berichte sich hindurchziehen, ohne eine bestimmte Ten-
*) M. s. hierüber die letzte Abhandlung dieser Sammlung und meine
Schrift: „D. F. Strauss", S. 90 f.
20*
historisclie Sclmle. 309
kommen wir nicht über die wenigen und etwas unbestimmten
Vermuthungen hinaus, welche sich über den geschichtlichen
Kern der evangelischen Darstellungen aus der Ueberzeugung
Ton der Ungeschichtlichkeit alles übrigen ergeben. Nun könnte
man freilich glauben, viel weiter lasse sich überhaupt nicht
kommen, wenn es einmal mit der Glaubwürdigkeit der evan-
gelischen Berichte so stehe, wie Strauss annimmt. Aber so
schlechthin wird sich diess nicht behaupten lassen. Gesetzt
auch, unmittelbar aus diesen Berichten liesse sich nicht mein*
abnehmen, als was Strauss in seinem ersten Leben Jesu von
ihnen übrig lässt: dass Jesus, der Sohn Joseph's und Maria's,
das nahe Gottesreich und sich selbst als den Stifter desselben,
den Messias ankündigte; dass seine Reden und seine Persön-
lichkeit ihm eine Parthei von begeisterten Anhängern gewan-
nen; dass einzelne Züge seiner Wirksamkeit schon auf seine
Zeitgenossen den Eindruck des Wunderbaren machten; dass
«r die herrschende Parthei der Pharisäer auf's entschiedenste
angriff, ihren bitteren Hass auf sich lud und auf ihren Betrieb
gekreuzigt wurde; dass endlich längere oder kürzere Zeit
nach seinem Tode der Glaube an seine Auferstehung und
seine Au&ahme in den Himmel sich verbreitete — gesetzt
auch, die Evangelien selbst führten njcht weiter, so verlohnte
^s sich doch immer noch, zu untersuchen, ob wir uns nicht
auf einem anderen Wege noch eine genauere Vorstellung über
den Stifter des Christenthums und sein Werk verschaffen
können. Sind unsere Evangelien nicht einfache historische
Berichte, hat vielmehr das religiöse Interesse und die dogma-
tische Reflexion einen wesentlichen Antheil an ihrer Ent-
stehung, so sind sie nur um so gewisser Urkunden des Gei-
stes, welcher in der ältesten Kirche lebte, und der verschie-
denen in ihr vorhandenen Ansichten und Interessen. Ueber
die gleichen Gegenstände besitzen wir aber auch noch an-
dere, theüweise sogar noch ältere und unmittelbarere Zeug-
nisse in den übrigen neutestamentlichen Schriften, in den An-
gaben der kirchlichen Schriftsteller, in den ausserkanonischen
Ueberresten der ältesten christlichen Literatur. Versuchen
historische Schule. 311
Männer immer der Unterschied, dass dem einen die kritische
Bestreitung des überlieferten nur ein Mittel für die Herstel-
lung des geschichtlichen Thatbestands, dem andern das posi-
tive in seiner Geschichtsansicht nur der Niederschlag und fast
ein Nebenprodukt seiner kritischen Analysen ist.
Dieses ihr Verhältniss kommt auf bezeichnende Weise
schon in ihrem beiderseitigen Ausgangspunkt an den Tag.
Strauss wendet sich mit seiner Kritik sofort gegen die
Schriften, in welchen ihn das wunderbare und unwahrschein-
liche am meisten stört, theils weil es hier am meisten gehäuft
ist, theils weil es den Mittelpunkt der christlichen Religion,
die Person und Geschichte Christi selbst trifft; Baur sucht
vor allem eine haltbare Unterlage für weitere geschichtliche
Gombinationen zu gewinnen, er hält sich daher mit Vorliebe
an diejenigen Bücher der neutestamentlichen Sammlung, welche
sich als die unmittelbarsten und ältesten Urkunden aus der
urchristlichen Zeit für diesen Zweck vorzugsweise eignen, an
die ächten paulinischen Briefe. Indem er zunächst in ihnen
festen Fuss fasste, kam er zu der Ueberzeugung, dass man
sich von dem apostolischen Zeitalter fast allgemein ein falsches
Bild mache, dass dasselbe nicht jene goldene Zeit einer unge-
störten Harmonie gewesen sein könne, für die man es gewöhn-
lich ausgiebt; er glaubte vielmehr in den eigenen Aussagen
des Paulus die Beweise tiefgehender Gegensätze und Ifebhafter
Kämpfe zu entdecken, welche er mit der judenchristlichen
Parthei, und auch mit den älteren Aposteln selbst, zu beste-
hen hatte; und indem er hiemit alle weiteren Nachrichten
über diese Parthei, ihr Verhältniss zum Paulinismus, ihre
Dauer und ihren Einfluss verknüpfte, indem er in den soge-
nannten Ebjoniten nur denselben Judaismus wiedererkannte,
mit dem schon Paulus zu kämpfen hatte, und demgemäss die
in der pseudoclementinischen Literatui* erhaltenen ebjonitischen
Schriften zu Rückschlüssen auf die ältere Zeit benützte, fand er
schon vor Strauss' Auftreten die Grundlagen, auf denen er
später seine weitgreifenden historischen Gombinationen auf-
baute. Und bereits war ihm auch von hier aus die Darstel-
■en Wun-
er, durch
jenen Er-
Jileierung
jte Schü-
hrend er
8 und in
3 Römer,
gen blieb
noch im
ag, nach
le Frage,
ben Evan'
let hatte.
)n. Bald
er Untev-
* paulini-
hluss ge-
i-Echungen
der drei
tUung der
\.n diesen
mehi-ere
", welche
1842 be-
ult Baur,
neutesta-
gen aber ■
ieitschrift,
kritischen
irifl über
historische Schule. 813
die Apostelgeschichte ist aus Abhandlungen in den Jahr-
büchern hervorgegangen. InSchwegler's „Nachapostolischem
Zeitalter'' (1846 f.) machte ein höchst talentvoller Anhänger
der bäurischen Schule den Versuch, ihre Annahmen, den
Lehrer damals noch in manchem ergänzend oder ihm voran-
eilend, zu einem grossen Geschichtsbild zu verknüpfen, wel-
ches zwar im einzelnen manche Lücken und Blossen darbot,
in seinen Grundzügen aber mit eben so viel Geist als Einsicht
entworfen, und dabei in der lichtvollsten Darstellung klar und
kräftig ausgeführt ist. Eöstlin's gelehrte und scharfsinnige
Arbeiten, Planck's anregende Aufsätze, Hilgenfeld's und
Volkmar's fruchtbare kritische Thätigkeit können hier nur
berührt werden; was in der Folge durch Gelehrte, wie Lip-
sius, Keim, Holtzmann, Holsten, Hausrath u. a.,
bald in näherem, bald in entfernterem Zusammenhang mit
Baur's Forschungen auf diesem Gebiete geleistet worden ist,
liegt ohnedem jenseits der Grenzen der gegenwärtigen Dar-
stellung ; A. R i t s c h 1 , früher ein eifriger Anhänger der tübin-
ger Kritik, ist in der Folge ihr gewandtester Gegner gewor-
den, ohne dass er darum ihr Schüler zu sein aufgehört hätte.
Auch die übrigen ebengenannten stimmen allerdings in ihren
Ergebnissen gar nicht immer mit Baur überein, imd diese
Abweichungen sind mitunter über Gebühr betont worden ; dass
aber ihre Untersuchungen im wesentlichen auf dem Boden der
bäurischen Geschichtsansicht erwachsen sind, lässt sich nicht
verkennen.
Wollen wir nun diese Ansicht zunächst im allgemeinen
nach ihren leitenden Gesichtspunkten kennen lernen, so ist
ihre erste Anforderung dieselbe geschichtliche Voraussetzungs-
losigkeit, welche wii* schon bei Strauss getroffen haben. Die
Behauptung, dass für die heilige Geschichte andere Gesetze,
und mithin auch für die Erfoi-schung dieser Geschichte andere
Grundsätze gelten, als für alles sonstige Geschehen und seine
wissenschaftliche Ermittlung — diese Behauptung kann Baur
so wenig, wie Strauss, gutheissen. „Das Christenthum", sagt
er (Tüb. Schule S. 13 f.), „ist einmal eine geschichtliche Er-
historische ScKule. 315
Standpunkt zu stellen?" Das Wunder und die geschichtliche
Betrachtung der Dinge schliessen sich aus, wer diese will,
kann jenes nicht zugeben — in dieser üeberzeugung ist Baur
mit Strauss vollkommen einverstanden. Was die beiden Kri-
tiker unterscheidet, ist nur das oben berührte, dass der eine
weit bestimmter, als der andere, auf eine positive Anschauung
von der Entstehung des Christenthums und seiner ältesten
Schriftwerke ausgeht. Beide nehmen an, dass unsere neute-
stamentlichen Geschichtsbücher manches erzählen, was entwe-
der gar nicht oder doch nicht in dieser Weise geschehen sei,
dass sich aus ihren Erzählungen, so wie sie vorliegen, kein
geschichtlich treues Bild von der Entstehung und der frühe-
sten Entwicklung des Christenthums gewinnen lasse. Wie
sollen wir es aber dann gewinnen? Aus denselben Schriften,
antwortet Baur, in Verbindung mit den übrigen neutestament-
lichen und kirchlichen Schriftwerken, nur durch ein anderes
Verfahren. Einestheils nämlich enthalten dieselben, so weit
sie erzählender Art sind, neben dem unglaublichen und un-
wahrscheinlichen doch immer einen sehr bedeutenden Kern
geschichtlicher Ueberlieferung, den wir auszusondern hoffen
dürfen, sobald wir bestimmte Richtpunkte hiefür gefunden
haben; andemtheils lassen sie alle ohne Ausnahme, wenn sie
auch als mittelbare Zeugnisse über die Geschichte ihrer Vor-
zeit nur theilweise und nur mit Vorsiebt zu gebrauchen sind,
sich als unmittelbare Urkunden für die Kenntniss der Zeit
verwenden, welcher sie selbst ihre Entstehung verdanken.
Selbst die erzählenden unter diesen Schriften wollen ja nicht
blosse Geschichtsbücher sein, sondern sie haben einen bestimm-
ten religiösen Zweck: sie wollen belehren, erbauen, auf die
christliche Gemeinde einwirken. Bei den neutestamentlichen
Briefen ohnedem und der Offenbarung des Johannes liegt diese
Absicht am Tage. Hieraus folgt von selbst, dass sich in ihnen
der religiöse Standpunkt der Verfasser und der Kreise, denen
sie angehörten, ebendamit auch ihre Partheistellung, ihr Ver-
hältniss zu den praktischen und dogmatischen Fragen ihrer
Zeit, ihre Wünsche für die Zukunft, ihre Ansicht von den
zugefilhrt werden müsse,
ageier Bestimmtheit, bald
isprechea wird; dass sich
lervorgiengen, die Verhält-
sie einwirken wollten, in
puren will nun Baur nach-
fassungszeit der neutesta-
lem EntscheiduDg^rQnden
Charakter und ihrer Ten-
uch aus derselben Quelle
ie kirchlichen Verhältnisse
las gleiche Verfahren will
ihriftwerke, bis gegen das
rab, anwenden, denn als
I beide sich gleich, und
3 Sammlung au%eDOtamen
t)eweist diess nur, dass die
jten, als jeue, nicht, dass
ingere Bedeutung hatten,
men Zeiten und Partheien
isigsten Masstab fUr die
aber die älteste Kirche,
atlichen Geschichtsbüchern
Ind; und indem er nun die
nen unmittelbaren Spuren
einer umfassenden Combi-
I von Späteren übermalte
i ihrer Entwicklung, und
seiner ursprünglichen Gre-
nach wiederherzustellen.
ise Arbeit erkennt er aber
ckung seine kritische Lauf-
Verfölge mehr und mehr
«hon die Apostel und das
rensatz des Judaismus und
jchen und einer universa-
historische Schule. 317
listischen, einer alttestamentlich gesetzlichen und einer freieren
Auffassung des Christenthums getheilt waren; dass dieser Ge-
gensatz nur allmählich, unter mancherlei Kämpfen und Ver-
mittlungen, sich ausgeglichen, dass er erst in der zweiten
Hälfte des zweiten Jahrhunderts in der „katholischen" Kirche
und ihrer Dogmatik seine Endschaft erreicht hat. In jenem
tiefeingreifenden Gegensatz sieht Baur die treibende Kraft,
von welcher die Entwicklung der Kirche mehr als ein Jahr-
hundert lang ausgieng ; durch die Stellung, welche sie zu dem-
selben einnahmen, bestimmte sich, ihm zufolge, der dogma-
tische Charakter der Einzelnen und der Partheien; die Denk-
male des Kampfes und der Vermittlungen, durch die er been-
digt wurde, haben wir noch in ausserkanonischen und neute-
stamentlichen Schriften : jedes Stadium des Weges, welchen die
Kirche in ihrer Entwicklung zurücklegte, ist durch Schrift-
werke bezeichnet, von denen ein Theil, mit den Namen von
Aposteln oder Apostelschülem meist mit Unrecht geschmückt,
in der Folge als neutestamentliche Sammlung dem heiligen
Codex der Juden zur Seite gestellt wui-de. Auch auf den
Stifter des Christenthums wird erst von dieser späteren Ent-
wicklung aus das volle geschichtliche Licht zurückfallen; nur
eine solche Vorstellung über ihn wird richtig sein können^
durch welche die späteren Zustände seiner Gemeinde nicht zum
unerklärbaren Räthsel gemacht werden, und die Grundfrage
für alle geschichtlichen Untersuchungen über die Person und
Lehre Jesu ist die Frage: was er gewesen und yne er aufge-
treten sein muss, wenn einerseits die judaistische Beschränkt-
heit seiner unmittelbaren Schüler, und andererseits die unend-
liche Entwicklungsfähigkeit, die weltbewegende Kraft seine*
Werkes möglich sein sollte.
Ehe ich aber Baur's Ansichten hierüber weiter in's ein-
zelne verfolge, wird es gut sein, einige Fragen zu beantworten,,
welche vielleicht dem einen oder dem anderen von unseren
Lesern schon seit längerer Zeit auf der Zunge liegen. Dahin
kann ich nun zwar die Frage nicht rechnen, welche uns von
supranaturalistischer Seite so oft entgegengetreten ist, wa&
historische Schule. 319
Zeugungen entspricht; ob sie dagegen an sich wahr ist, lässt
sich nicht nach Gefühlen, sondern nur nach Gründen be-
stimmen. Geschichtliche Fragen nach der Wahrheit einer Er-
zählung oder dem Verfasser einer Schrift statt der äusseren
Zeugnisse und der inneren Anzeichen aus dem Gefühl ent-
scheiden zu wollen, ist so widersinnig, dass man die Sache nur
zu nennen braucht, um ihre Unmöglichkeit klar zu machen.
Doch hierüber wird jeder Einsichtige mit uns einverstan-
den sein. Aber auch ganz abgesehen von den supranaturali-
stischen Vorstellungen über die biblischen Schriften könnte es
scheinen, die Kritik müsse nothwendig zu weit gehen, wenn sie
von einer Sammlung, welche seit mehr als 1500 Jahren allge-
mein anerkannt ist, die meisten Stücke ihren angeblichen Ver-
fassern abspricht; wenn sie Schriften, die bis auf die neueste
Zeit für apostolisch gegolten haben, in die Mitte des zweiten
Jahrhunderts herabrückt; wenn sie den Verfassern der bibli-
schen Bücher, diesen frommen und redlichen Männern, zutraut,
dass sie Thatsachen und Reden erdichtet, den eigenen Werken
die Namen von Aposteln und Apostelschülern fälschlich vor-
gesetzt haben; wenn sie über den Stifter des Christenthums
und seine nächsten Nachfolger schon so bald nach ihrer eige-
nen Zeit diese Masse von ungeschichtlichen Angaben verbreitet
und geglaubt, wenn sie gleichzeitig so viele unterschobene
Schriften von der Kirche angenommen werden lässt; wenn sie
den Aposteln Uneinigkeit und Zwiespalt über die wichtigsten
Lebensfragen des Christenthums, der ältesten Christengemeinde
eine für uns ganz unbegreifliche Befangenheit im Judenthum
Schuld giebt ; wenn sie dem Johannesevangelium, diesem Lieb-
lingsbuch der modernen Frömmigkeit, mit seiner Aechtheit fast
alle geschichtliche Glaubwürdigkeit abspricht, um dafür in der
Offenbarung, vor deren veralteten Anschauungen die Bildung
unserer Tage das Kreuz schlägt, ein achtes Werk des Apostels,
die zuverlässigste Urkunde des vorpaulinischen Christenthums,
das einzige, was von einem persönlichen Schüler Jesu übrig
ist, zu erkennen. Dieser Schein hat für solche, welche der
historische Schule. 321
siebzehnhundert, welche seitdem verflossen sind. Wie steht es
nun aber in dieser Beziehung? Sind für die Aechtheit der
neutestamentlichen Schi-iften — wir wollen nicht sagen von
Zeitgenossen, sind auch nur von solchen, die in der ersten
und zweiten Generation nach ihren angeblichen Verfassern ge-
lebt haben, Zeugnisse daJFlir aufzuweisen? Von ausdrücklichen
und unmittelbai-en Zeugnissen, so viel uns bekannt ist, nicht
ein einziges, von mittelbaren, die erst auf einem Umweg, durch
allerlei Schlüsse und Vermuthungen gewonnen werden, nur
wenige. Wir hören durch Papias, einen Schüler des Apostels
Johannes, von einer Sammlung von Aussprüchen Christi, die
der Apostel Matthäus in ebräischer Sprache verfasst habe;
aber diese ebräische Spmchsammlung kann weder unser
griechisches Matthäusevangelium, noch kann dieses nur eine
Uebersetzung von jener sein; unser Evangelium lässt sich
mittelst der äusseren Zeugnisse, und abgesehen von der Unter-
suchung über sein Verhältniss zu Markus, und Lukas, nicht
vor Justin dem Märtyrer (um 150 n. Chr.) nachweisen. Der-
selbe Papias weiss von evangelischen Denkwürdigkeiten, welche
Markus nach den Vorträgen des Petms aufgezeichnet haben
soll ; aber seine Beschreibung derselben passt nicht auf unsem
Markus; diesen scheint nicht einmal Justin in Händen gehabt
zu haben. Dagegen ist unser drittes Evangelium allerdings
von Justin und gleichzeitig von dem Gnostiker Marcion ge-
braucht worden; aber wie alt es damals schon war, wissen
wir nicht; von der Apostelgeschichte vollends findet sich die
erste Spur um's Jahr 170 n. Chr. Nicht früher haben wir
sichere Kunde von dem Dasein des vierten Evangeliums und
der Johanneischen Briefe, während noch von Papias und Justin
nicht allein ihre Bekanntschaft mit diesen Schriften nicht zu
erweisen, sondern ihre Unbekanntschaft mit denselben höchst
wahrscheinlich ist, und alle Mühe, die man sich auch neuestens
wieder gegeben hat, dieses Ergebniss umzustossen, löst sich
vor einer genauen Untersuchung des wirklichen Sachverhalts
in nichts auf. Dagegen nennt Justin die Offenbarung, deren
Abfassungszeit (68 n. Chr.) sich ohnedem aus ihr selbst mit
Zeller, Vorträge und Abhandl. 2]
ein Wei'k des Apostels Jo-
irung köimen wir in einzelnen
zweiten Jahrhunderts hinauf
zbea Briefe fehlt es vor Mar-
Ucklichen Zeugnissen, die an
r dieser Gnostiker nicht in
3hrere derselben schonten
jusbriefes, der beiden petri-
:hte, der dem BamabaB und
ireiben bekannt waren, lässt
mg dieser Schriften darthun.
en Briefe betrifft, so mag m
lass ftlr keinen derselben ein
lähmen der „tübinger" Kritik
fassungszeit widerlegte.
dass eine derartige Ueber-
dem Alter imd der XJrkund-
B sie haben mUsste, um die
s sich handelt, wiiklich sicher
angeblichen Verfasser einer
ng ein Zeitraum von vierzig,
ndert J^ren liegt, dann ist,
ffend, fOi- eine Zeit, welche
ehrte, die weiteste Möglieh-
ir wissen ja nicht im gering-
D Schriftstellern eine Kunde
ikam, die sie als "Werke von
lützten. Es ist möglich, dass
ten gehabt haben; es ist aber
T unsicheren Meinung gefolgt
der Verfasser, welche sie in
ler Schrift beigefügt fanden,
rie ja auch von uns weit die
Liitik nicht geUbt sind, es zu
1 auf dem Titel geben aber
imen nur eine sehr geringe
■v.
historisclie Schale. 323
Gewähr für die AecMheit eines Buchs, da eben alles darauf
ankommt, ob sie wahr sind : ob nicht der Verfasser sein Werk
einem anderen unterschoben, oder ein dritter nach unsicherer
Kunde, vielleicht nach blosser Vermuthung, den Namen des
Verfassers seiner Handschrift beigefügt hat ; oder ob nicht um-
gekehrt eine Schrift, welche diesen Namen ursprünglich mit
Recht trug, in der Folge überarbeitet, ausgezogen, durch Zu-
sätze bereichert, vielleicht zu etwas ganz anderem gemacht
worden ist, ohne ihn zu verlieren — ein Fall, welcher in der
alten Literatur oft genug vorkommt, und vor der Erfindung
der Buchdruckerkunst ungleich leichter, als jetzt, möglich war.
So lange daher unsere Zeugnisse für eine Schrift nicht zu ihrer
angeblichen Abfassungszeit selbst hinaufreichen, sondern sich
ihr nur bis auf die Entfernung von einem oder einigen Men-
schenaltern annähern (wie diess bei den neutestamentlichen
Schriften ohne Ausnahme der Fall ist), haben dieselben die
bedenklichste Lücke, und sind für sich genommen nicht im
Stande, den Zweifeln der inneren Kiitik eine haltbare Schranke
entgegenzusetzen.
Diese Lücke füllt man nun gewöhnlich kurzer Hand mit
dem guten Glauben an die Kirche und die Zuverlässigkeit der
kirchlichen Tradition aus. „Wie lässt es sich denken, fragt
man, dass die Kirche, dass auch die hervoiTagendsten Männer
in derselben unsere neutestamentlichen Schriften so einstimmig
angenommen hätten, wenn sie sich nicht von ihrem Ursprung
und ihrer Glaubwürdigkeit aufs vollständigste überzeugt hatten?
Handelte es sich doch für sie nicht um kleines, stand
doch die treue Ueberlieferung der Geschichte und der Lehr-
reden ihres Stifters, der unverfälschte Besitz der apostolischen
Schriften, mit Einem Wort die ganze Lehre der Kirche und
die geschichtliche Grundlage dieser Lehi-e hier in Frage."
Aber ftlr's erste ist die Anerkennung unserer kanonischen
Schriften in der ersten Zeit gar nicht so einstimmig erfolgt,
wie man sich wohl vorstellt. Wir wissen, dass neben unsem
Evangelien und statt derselben längere Zeit manche weitere
im Gebrauch waren, die von jenen oft sehr bedeutend ab-
21*
historische Schule. 325
überhaupt ein dogmatisches oder praktisches Interesse an die
Annahme oder die Verwerfung einer Ueberlieferung geknüpft
ist, wird immer und nothwendig das geschichtliche Interesse
ihrer strengen und vorurtheilslosen Prüfung, die Unbefangen-
heit des kritischen Verfahrens gefährdet. Je grösser die dog-
matische und religiöse Bedeutung der neutestamentlichen
Schriften, je lebendiger in der Kirche das religiöse und theo-
logische Interesse war, je ausschliesslicher alle Partheien in
ihr ohne Ausnahme, die Orthodoxen wie die Häretiker, die
Gnostiker wie die Ebjoniten, von demselben beherrscht wur-
den, um so unwahrscheinlicher ist es, dass sie die Schriften,
welche ihnen als apostolische geboten wurden, mit kritischem
Auge betrachtet , dass sie Ursprung und Inhalt derselben
wissenschaftlich untersucht, dass sie die Ueberlieferung vorur-
theilsfi'ei geprüft, Gründe und Gegengründe in der kühlen
skeptischen Weise des Geschichtsforschers, für kein Ergebniss
zum voraus entschieden, abgewogen haben sollten. Sondern
es lässt sich unbedingt erwarten, dass ihr Urtheil ganz und
gar durch dogmatische Gründe bestimmt wurde, dass jede
Parthei die Schriften als apostolisch annahm, welche mit ihren
Voraussetzungen und Tendenzen übereinstimmten, die ihnen
widerstrebenden verwarf; und dass ebenso später die Majori-
tät, welche sich zur katholischen Kirche zusammenfasste, unter
den als apostolisch überlieferten Schriften nur denjenigen ihre
Anerkennung zollte, in welchen das religiöse Bewusstsein dieser
späteren Zeit sich am reinsten und vollständigsten wiederer-
kannte. Diess konnten aber möglicherweise ganz andere sein,
als die von der werdenden Kirche zuerst hervorgebrachten, da
in diesen wohl manche Anschauungen vorkamen, welche den
Späteren auf ihrem Standpunkt unverständlich und fremdartig
geworden waren, und manches fehlte, was erst in der Folge
in die kirchliche Ueberzeugung aufgenommen worden war,
jetzt aber die grösste Bedeutung für sie erhalten hatte. Dass
daher die Kirche wegen der religiösen Wichtigkeit unserer
neutestamentlichen Schriften ihren Ursprung gi-ündlich unter-
sucht, dass sie aus diesem Grunde nichts unächtem den Zu-
werde, diess ist nicht
auch eise höchst un-
übersehen, dass es für
■chenlehrer, deren Ur-
I leicht war, sich von
idlicher Sicherheit zu
it sind trotz aller der
1 Bildung, welche sie
che und unabsichtliche
ten Art vorgekommen.
Offenbarung in ihrer
n Kant zi^eschrieben,
venu der Zustand der
Jahren. In die Samm-
landlung von Schelling
Von mehreren sha-
erschaft streitig. Die
lea Sibylla von Brieg
ihalten und in dieser
Bhtschreibem benützt
IS d. G-r. haben bis in
ichichtsquelle gegolten;
royäles Hess sich die
1 wieder als acht auf-
jen, durch welche der
sind von ihm selbst,
;, gar nicht, von der
deckt, das „Buch der
ranzösischen Begierung
iriefwechsel Marie An-
rfte es langer Verhand-
ligsbild" (Elxdiv ßaai-
tung Earl's I. diesem
ton's sofortiger Wider-
Zweifel an der Aecht-
historische Schule. 327
heit dieser Denkschrift des königlichen „Märtyrers** verstummte;
als sich 50 Jahre später Toland für Milton erklärte, wurde
ihm diess in England kaum weniger übelgenommen, als seine
Angriffe auf den neutestamentlichen Kanon. Bald nach dem
unglücklichen Ende des Nikodemus Frischlin erschien unter
seinem Namen ein Gedicht, „vom grossen Christofifel** , dessen
Aechtheit bis auf die neueste Zeit nicht bestritten wurde;
selbst Strauss hatte in seiner Biographie Frischlin's die Zweifel,
welche ihm aufetiegen, um der starken äusseren Bezeugung
willen unterdrückt. Jetzt ist nachgewiesen, dass ein anderer
der Verfasser war, Frischlin es nur herausgegeben und viel-
leicht da und dort überarbeitet hat.*) Wenn in diesen und
in so manchen anderen Fällen die Täuschung entdeckt wurde,
so haben wir diess nicht allein der ungleich entwickelteren
Kritik, sondern auch den günstigeren Verhältnissen der Neu-
zeit zuzuschreiben. Der altchristlichen Welt fehlte nicht blos
jene, sondern auch diese.
Die Kirche jener Zeit war ja keineswegs, wie man sich
die. Sache oft nebelhaft genug vorstellt, eine so festgeschlossene
Einheit, dass man von dem, was in einem Theile derselben
vorgieng, sofort in jedem andern sichere Kunde hätte haben
müssen. Es gab auch für den allgemeinen literarischen Ver-
kehr nichts, was unsere Zeitschriften und Messkataloge und
ähnUche Hülfsmittel unserer Tage hätte ersetzen können. Für
uns ist es freilich in den meisten Fällen ein leichtes, über den
Ursprung eines Buchs in's reine zu kommen. Aber wenn
z. B. in Rom eine Schrift in Umlauf gesetzt wurde, die ein
halbes Jahrhundert vorher von einem Apostel im fernen Osten
verfas3t sein sollte, oder wenn in Alexandrien ein Brief auf-
tauchte, den ein solcher angeblich nach Kreta oder Kleinasien
gerichtet hatte, wer hatte die Mittel, um die Richtigkeit
dieser Angaben sicher zu stellen? Man hätte in die betreffen-
den Gemeinden selbst reisen, man hätte genaue Nachforschungen
an Ort und Stelle vornehmen müssen , welche dann wahr-
*) Das nähere bei Strauss Leben Jesu f. d. d. V. 42 f.
historische Schule. 329
testen Philosophen Ansichten aussprechen zu lassen, sdie ihrer
wirkliehen Meinung schnurstracks zuwiderlaufen — diese und
ähnliche Dinge sind gerade in den letzten vorchristlichen und
den ersten christlichen Jahrhunderten ganz gewöhnlich, und
wie plump auch dabei oft der Betrug, wie grell die Verletzung
aller geschichtlichen Möglichkeit ist, so ist es doch immer nur
ein Ausnahmsfall, wenn die Täuschung von den Betheiligten
bemerkt wird. Um nur Ein Beispiel aus einem Kreise anzu-
führen, welcher der christlichen Kirche nahe genug steht:
aus der pythagoreischen Schule kennen wir (wie schon
S. 52 f. bemerkt wurde) mehr als achtzig Schriften, die
sämmtlich von Pythagoras oder von Pythagoreem der alten
Zeit herrühren wollen; aber wenn wir zwei oder drei ausneh-
men, kann es bei allen übrigen nicht dem mindesten Zweifel
unterliegen, dass sie erst seit dem letzten Jahrhundert vor
Christus von Neupythagoreerü verfasst worden sind, um auf
diesem Wege platonische, aristotelische, stoische Sätze oder
auch eigene Erfindungen als altpythagoreisch an den Mann zu
bringen. Und diess geschah grösstentheils wohl in eben dem
Alexandrien, welches der Hauptsitz der literarischen Kritik in
der alten Welt ist, und die Zeitgenossen hatten so gar kein
Auge für den wahren Sachverhalt, dass die gelehrtesten Ken-
ner der alten Philosophie in jener. Zeit Schriften, welche für
uns den Stempel der Fälschung an der Stirne tragen, ganz
unbefangen als acht anführen und gebrauchen ! Wenn es bei
den Gelehrten vom Handwerk so aussah, wie lässt sich an-
nehmen, dass mehr literarische Kritik bei solchen zu Hause
gewesen sein werde, die von ganz anderen Interessen beseelt
waren, einem anderen Bei-uf und anderen, der wissenschaft-
lichen Kritik weit femer stehenden Bildungskreisen an-
gehörten ?
Wie es in Wahrheit bei den alten Kirchenlehrern in
dieser Beziehung bestellt war, diess können wir schon aus
Einem bezeichnenden Zug abnehmen: aus der Leichtgläubig-
keit, mit der eine Menge der fabelhaftesten Ueberlieferungen
in der alten Kirche und selbst von ihren gefeiertsten Lehrern
V
historische Schule. 331
unter den christlichen Apologeten ist keiner, der nicht die
Sibylle so gläubig, Wie jeden alttestamentlichen Propheten, zum
Zeugen aufriefe, und als der Christengegner Celsus diese unter-
schobenen Zeugnisse zurückwies, trat ihm Origenes mit der
vollen Ueberzeugung von ihrer Berechtigung entgegen. —
Ebensowenig bezweifelt Clemens (Strom. V, 599), dass Zoro-
aster einige Zeit nachdem er in der Schlacht gefallen war
wieder in's Leben zurückgekehrt, und dass die Schrift acht
sei, worin er erzählte, was er im Todtenreich gesehen hatte.
Für uns freilich reicht seine eigene Mittheilung hin, um uns
in diesem Buch Zoroaster's die ungereimte Nachahmung eines
bekannten platonischen Mythus erkennen zu lassen. — Wie
femer griechische Schriftsteller im Interesse des Judenthums
von Juden gefälscht wurden , so erlaubten sich Christen schon
frühe in ihrem Interesse Fälschungen in der griechischen
Uebersetzung des alten Testaments. Der Verfasser des Bar-
nabasbriefes und Justin der Märtyrer, einer von den einfluss-
reichsten Theologen der älteren Kirche und der wichtigste
Zeuge über unsere neutestamentlichen Schriften, gebrauchen
mehrere solche von Christen unterschobene Stellen als Schrift-
zeugnisse. Dabei weiss Justin recht wohl, dass sie im ebräi-
schen Text fehlen. Aber statt sich dadurch auf die richtige
Spur leiten zu lassen, stellt er die völlig aus der Luft gegriffene
Behauptung auf, die Juden hätten die betreffenden Stellen aus
den ebräischen Exemplaren ausgemerzt; und statt sich über
den frommen Betrug seiner Glaubensgenossen zu schämen,
kanzelt er die Gegner — ohne Zweifel im besten Glauben an
sein Recht — wegen des entsetzlichen Verbrechens ab, das
sie durch ihre angebliche Schriftverstümmelung begangen
haben. -- Ein andermal hat derselbe Justin, wie es scheint,
gar selbst eine Urkunde gefälscht, ohne es zu wissen. Für
die Legende vom Magier Simon beruft er sich auf die Bild-
säule, welche diesem Zauberer auf der Tiberinsel gesetzt wor-
den sei, mit der Inschrift: Simoni deo Scmdo. Justin lebte
in Rom, und jene Inschrift konnte ihm aus eigener Anschauung
bekannt sein. Glücklicherweise ist sie aber auch uns bekannt,
historische Schule. 333
Buch Henoch z. B., dessen Grundschrift um HO v. Chr. ver-
fasst sein mag, schon in unserem Brief des Judas dem Vater
Methusalah's u. s. w. — Der Brief des edessenischen Fürsten
Abgar an Jesus und Jesu Antwortschreiben darauf wird von
Eusebius in gutem Glauben mitgetheilt, und weder an der
sonstigen Ungereimtheit dieses Briefwechsels, noch auch daran
nimmt er Anstoss, dass Jesus hier einen Ausspruch des Johan-
nesevangeliums mit der Formel anführt: „es steht von mir
geschrieben". — Selbst in Fällen, wo die Nähe der Zeit und
des Ortes eine Entdeckung der Täuschung leicht genug ge-
macht hätte, liess man sich doch täuschen. So hatte z. B.
ein Christ eine Erzählung über den Tod und die Auferstehung
Jesu verfertigt, welche mit unsem evangelischen Darstellungen
ganz übereinstimmend sich selbst für einen von Pilatus an
Kaiser Tiberius erstatteten amtlichen Bericht ausgab. Wäre
Quellenkritik die Sache der damaligen Kirche gewesen, so
hätten doch wohl Nachforschungen über die Aechtheit eines
so wichtigen Aktenstücks stattfinden müssen. Aber davon
zeigt sich keine Spur: der Bericht des Pilatus war der Christ-
liehen Sache zu günstig, als dass man seine Urkundlichkeit
hätte bezweifeln, und sich nicht ebenso zuversichtlich darauf
berufen sollen, wie sich Justin auch auf die Schatzungstabellen
des Quirinius beinift, die er ganz sicher mit keinem Auge ge-
sehen hat. — Das gleiche gilt von den angeblichen Erlassen
römischer Kaiser zu Gunsten der Christen. Nicht genug, dass
Eusebius ein solches dem Antoninus Pius unterschobenes Edikt
als acht mittheilt, und auf dasselbe, leichtfertiger Weise auch
Aeusserungen eines Zeitgenossen von Antoninus bezieht, welche
in Wahrheit auf ganz andere Rescripte gehen: schon Justin
beruft sich um's Jahr 150 gegen Antoninus Pius auf ein uns
erhaltenes Edikt Hadrian's, das aller Wahrscheinlichkeit nach
unächt ist, und TertuUian i. J. 198 auf einen gleichfalls noch
vorhandenen Erlass Mark Aurel's, worin dieser Kaiser die
wunderbare Errettung seines Heeres durch das Gebet christ-
licher Soldaten (das Wunder der sog. legio fulminafrix; s. o.
S. 107 f.) berichtet, den Christen Religionsfreiheit gewährt
historische Schale. 335
giebt, und da die Cherubim vier Gesichter haben. Wir werden
nicht bezweifeln, dass diese Gründe seinen Lesern ganz ein-
leuchtend gewesen sind : aber wer sich die Aufgabe der Kritik
auch nur im groben klar gemacht hat, dem wird eine der-
artige Beweisführung doch nicht in den Sinn kommen. Ein
solcher würde aber freilich auch jener allegorischen Auslegung
den Abschied geben, von welcher die ganze patristische Theo-
logie, wie schon vor ihr und gleichzeitig die giiechische und
die jüdische, beherrscht ist. Wenn einem Theologen der Buch-
stabe der heiligen Schriften so gleichgültig ist, dass ihm selbst
seine äusserste Misshandlung kein Bedenken macht, wenn er
den Schriftstellern', die er erklären soll, auch das fernste und
fremdartigste, falls es nur erbaulich oder geistreich lautet, mit
beruhigtem Gewissen unterschiebt, so zeigt er ebendamit, dass
er überhaupt für geschichtliche Dinge keinen Sinn hat; dem,
welcher das leichtere, die richtige Auffassung des gegebenen,
so gänzlich verfehlt, das schwerere, die geschichtliche Kritik
zutrauen, heisst Trauben an den Dornen suchen. Wenn man
die alten Kirchenlehrer als untadelhafte Zeugen über den
Ursprung der neutestamentlichen Schi*iften behandelt, wenn
man sich berechtigt glaubt, jeden Zweifel an ihrer Unfehlbar-
keit der Kritik als eine Majestätsbeleidigung gegen die Kirche
in's Gewissen zu schieben, so zeigt man damit nur, dass man
die Schriften jener Männer entweder nicht kennt, oder dass man
sich bei ihrer Lesung die Augen den klarsten Thatsachen
gegenüber zugehalten hat. Die Aufgabe dieser Männer war
nun einmal eine andere, als die des Geschichtsforschei*s , und
dieser ihrer Aufgabe sind sie mit glänzendem Erfolg und be-
wunderungswüi'diger Hingebung nachgekommen; zur literari-
schen Kritik dagegen fehlte es ihnen gleich sehr an der
inneren Befähigung, wie an den äusseren Hülfsmitteln ; eben-
desshalb darf man aber auch eine solche nicht von ihnen er-
warten und den Mangel an urkundlichen Zeugnissen über den
Urspmng der neutestamentlichen Schriften nicht durch ein
nebelhaftes Vertrauen auf ihre Zuverlässigkeit ersetzen wollen.
Nicht einmal die Voraussetzung ist begründet, dass diese
\
]
historische Schule. 337
ZU einem Werk grober Täuschung, und die Kirche, welche
diese Täusclmng nicht bemerkt haben soll, zu einem Haufen
von Einfältigen? Ist es aber nicht vielmehr gleich unglaub-
lich, dass sie den Betrug nicht entdeckt, und dass sie dem
entdeckten ihre Anerkennung ertheilt hätte ? Ehe man jedoch
diese oft so vernommenen Anschuldigungen wiederholt, wäre es
wohlgethan, sich zu besinnen, ob sich nicht vielleicht mehr
Eifer als richtiges Verständniss darin ausspricht. Denn für's
erste handelt es sich hier nicht um alle neutestanientlichen
Schriften. Einen ächten Grundstock derselben hat vielmehr
wenigstens die „tübinger" Kritik nie geläugnet. Ebensowenig
hat sie behauptet, dass alle die Schriften, deren Aechtheit sie
bestreitet, im strengen Sinne des Wortes für unterschoben
zu halten seien. Man muss hier vielmehr verschiedene Fäljp
unterscheiden. Ein Schriftsteller kann ein Werk, das er selbst
allein verfasst hat, einem anderen beilegen, wie wir diess
z. B. von den Verfassern der unächten Briefe von Aposteln
annehmen. In diesem Falle haben wir eine reine Unter-
schiebung. Es ist aber zweitens auch möglich, dass er das
fragliche Werk nicht seinem ganzen Inhalt nach selbst verfasst,
sondern nur ein älteres überarbeitet, und dieser Ueberarbei-
tung den Namen des ursprünglichen Verfassers gelassen hat.
In dieser Art mag z. B. aus der Spruchsammlung des Mat-
thäus durch mehrfache Bearbeitung unser Matthäusevange-
lium, aus unserem ersten und dritten Evangelium unter Bei-
ziehung einer weiteren, dem Markus beigelegten Evangelien-
schrift, unser Markus, aus dem Reisebericht des Lukas unsere
Apostelgeschichte entstanden sein. Wie bedeutend in einem
solchen Fall auch die Erweiterungen und Veränderungen w^aren,
die mit der Grundschrift vorgenommen wurden, so konnte
man sich doch berechtigt glauben, den ursprünglichen Titel
der letzteren stehen zu lassen. Es konnte drittens geschehen,
dass eine Schrift, deren Verfasser sich nicht genannt hatte,
von den Späteren nach eigener Vermuthung diesem oder
jenem bekannten Mann zugeschrieben wurde, wie der Ebräer-
brief dem Paulus oder von andern dem Barnabas. der Bar-
Zeller, Vorträge nnd Al)Iiandl. 22
historische Schule. 339
-der Buchstabe nicht der Geist ist und die Bibel nicht die Re-
ligion? Dass das Christenthum Jahrhunderte lang sich weit
mehr durch mündliche üeberüeferung , als durch Schriften,
fortgepflanzt hat? Dass diese Religion und ihr Stifter bleiben,
was sie sind, wie es sich auch mit unserer geschichtlichen
Kenntniss derselben und mit den Büchern verhalten mag,
denen wir diese Kenntniss verdanken ? Was jedoch die Haupt-
sache ist: von Betrug und Fälschung kann mit Beziehung auf
die neutestamentlichen Schriften auch dann nicht gesprochen
werden, wenn ein Theil derselben wirklich von späteren Ver-
fassern Aposteln und Apostelschülem mit Absicht und Be-
wusstsein beigelegt sein sollte. Denn wie ein solches Ver-
fahren moralisch zu beurtheilen ist, ob es sich als Fälschung
bezeichnen lässt, oder nicht, diess hängt ganz und gar von
den Begriffen und der Sitte der Zeit ab, um die es sich han-
delt, und diese hinwiederum werden zunächst von der Ent-
wicklung des literarisch-kritischen Bewusstseins bedingt sein.
Uns freilich erscheint es auf den ei"Sten Anblick fast unbe-
greiflich, dass es jemand für erlaubt halten sollte, einer
Schrift, die er selbst verfasst hat, einen beliebigen andern
Namen vorzusetzen, das eigene Werk einem Apostel oder sonst
«inem gefeierten Manne der Vorzeit zuzuschreiben. Aber diess
erscheint uns nur desshalb so, weil wir gewohnt sind, der
schriftstellerischen Infdividualität einen selbständigen Werth
iJeizulegen , dem Schriftsteller ein geistiges Eigenthumsrecht
auf sein Werk zuzugestehen, den Schriften, welche wir in die
Hand bekommen, uns kritisch gegenüberzustellen, sie zunächst
nur als Berichte und Meinungsäusserungen dieser bestimmten
Individuen zu behandeln, für deren Beurtheilung die Person-
lichkeit ihrer Verfasser wesentlich mit in Betracht kommt.
Denken wir uns dagegen eine Zeit, für welche alle diese Rück-
sichten nur in sehr geringem Masse vorhanden waren, welcher
die Persönlichkeit des Schriftstellers in seinem Werk unter-
gieng, welche nicht, wie wir, zuei-st nach dem Verfasser fragte,
um hieiTiach die Glaubwürdigkeit der Schrift zu bestimmen,
sondern welche umgekehrt, wie wir diess bei der alten Kirche
22*
•f
historische Schule. 34i
von den alten Historikern ausser Thucydides. Wenn Plato
seinen Sokrates ganze Bände hindurch sagen lässt, was er in
seinem Leben nie gesagt oder gedacht hat, und wenn er diese
Eeden recht geflissentlich an geschichtliche Veranlassungen an-
knüpft und mit allem Schein der geschichtlichen Wirklichkeit
zu umgeben sucht, wenn Xenophon, Aeschines und andere So-
kratiker in ihrer Art ebenso verfuhren, so kann man nicht
sagen, diese Männer wollen jene Reden damit nicht für ge-
schichtlich ausgeben ; das richtige ist vielmehr, dass sie gegen
die geschichtliche Wahrheit derselben, mit Ausnahme weniger
Darstellungen, vollkommen gleichgültig sind, dass ihnen das
geschichtliche nur ein unselbständiges Vehikel ihrer Gedanken
ist: was sich ihnen als die wahre sokratische Philosophie dar-
stellt, das lassen sie theils aus Pietät theils aus künstlerischen
Rücksichten von dem Stifter dieser Philosophie selbst vortra-
gen; dass sie damit ihm gegenüber, ein Unrecht, den Lesern
gegenüber einen Betrug begehen könnten, kommt ihnen nicht
in den Sinn. Nicht anders haben es aber, nach der Annal^e
der neuesten Kritik, auch diejenigen christlichen Schrifts^Uer
gemacht, welche ihre Auffassung der paulinischen oder petri-
nischen Lehre von Paulus oder Petrus, ihre Auffassung des
Christenthums von dem Stifter desselben aussprechen liessen:
an einen Betrug darf man hier so wenig wie dort denken, weil
es sich für diese Schriftsteller überhaupt nicht um die Ge-
schichtlichkeit, sondern um den Inhalt der betreffenden Reden
und Schriften handelte. Der Name eines Apostels, einer Schrift
vorgesetzt, soll dem Leser ihren Inhalt als einen acht aposto-
lischen an's Herz legen : ob der Apostel wirklich so gesprochen
hat, ist einerlei, wenn er nur nach der Meinung (|es Ver-
fassers so hätte sprechen können, und eben als Apo^el so
hätte sprechen müssen. Heutzutage werden wir freilich einem
Schriftsteller diese Freiheit nicht mehr gestatten; aber ehe-
dem verhielt es sich damit anders. Besonders in der späteren
Zeit des klassischen Alterthums, gerade in den Jahrhunderten,
welchen die neutestamentlichen Schriften angehören, war diese
Pseudonyme Schriftstellerei an der Tagesordnung. In diesen
iSBenhafte Unterschiebung pytha-
hon oben gedacht wurde. Aber
iB zu nehmen , belobt Jamblich
, dass sie ihre Werke, auf eigenen
ter der Schule zi^eschrieben ha-
; nennen, nennt er einen Akt der
leit — ähnlich wie der Verfasser
l Thekla, über seiner Erdichtung
er habe diess aus Liebe zu dem
den wird dasselbe von verschie-
Q doch keinen Anstand, wie man
so auch umgekehrt fremdes sich
iT Literatur dieser Zeit häufiger,
nze Abschnitte aus fremden Wer-
; in seine eigenen aufnimmt, ohne
men; und diess thun nicht etwa
- spätesten Jahrhunderte, sondern
er machen es ebenso, ohne dass
ts zu scheuen hätten, oder sich
en. Aristotelische Schüler z. B.,
ast, haben unter ihrem eigenen
s. w. herausgegeben, welche nur
elischen waren und diese oft wört-
bedeutende Theile seiner philo-
;u aus grieehischen Werken ent-
und anderemal namhaft gemacht
sere Begriffe von geistigem Eigen-
:ht vorhanden, sowohl der Name
lalt ihrer Werke, wurde in einem
lehr zulässig finden, als Gemein-
rher das Verfahren jener Zeit nach
beurtheilen wollte, so würde man
wenn man die Paragraphen eine»
oeignung fremden Eigenthums auf
das alte Sparta anwenden wollte,
id die Christen in ihrer religiösen
historische Schale. 343
Schriftstellerei nach den gleichen Voraussetzungen verfuhren,
lässt sich durch zahlreiche Beispiele d&rthun. Wer möchte
z. B. behaupten, dass jene alttestamentlichen Pseudepigraphen,
an deren Aechtheit nicht zu denken ist, wie das Buch Henoch,
das vierte Buch Esra, das Testament der zwölf Patriarchen,
ernste und religiöse Bücher, die auch von der Kirche fleissig
gebraucht wurden, von Fälschern und Betrügern herrühren?
Wer könnte dasselbe von christlichen Schriften, wie die igna-
tianischen Briefe, der Brief Polykarp's, die clementinischen
Homilieen und Recognitionen, die apostolischen Constitutionen,,
annehmen — Schriften ^^ von der höchsten Bedeutung, deren
Unächtheit aber theils allgemein zugestanden, theils wenig-
stens aus sachlichen Gründen unzweifelhaft ist? Nicht einmal
die jüdischen und christlichen Sibyllinen wird man nach un-
sem Begiiffen von Schriftfälschung beurtheilen dürfen, und
wenn der Gnostiker Marcion aus dem Lukasevangelium sich
ein eigenes nach seinem System zurecht machte, wird man
nicht sagen dürfen, er habe dasselbe verfälschen, sondeni viel-
mehr, er habe das vermeintlich verfälschte reinigen, das ächte
paulinische Evangelium wiederherstellen wollen; das gleiche
wird überhaupt von der Mehrzahl jener vielen neutestament-
liehen Apokryphen gelten, von denen wir noch Kunde haben»
Auch in unserer kanonischen Sammlung sind manche Bücher,
bei denen eine absichtliche Unterschiebung unbestreitbar vor-
liegt. Von den Sprüchwörtem Salomo's z. B., dem Prediger,
dem Buch der Weisheit wird kaum noch irgend jemand, von
den Weissagungen Daniers und dem zweiten Brief des Petnis
werden nur äussei-st wenige zu behaupten wagen, dass sie
acht seien ; ebenso unläugbar ist aber, dass diese Schriften sich
selbst dem König Salomo, dem Propheten Daniel, dem Apostel
Petrus beilegen, dass sie theilweise, wie eben der zweite
Petrusbrief und das Buch Daniel, recht geflissentlich darauf
ausgehen, diesen ihren Ursprung zu beglaubigen, dass auch
die Kirche bis auf die neuere Zeit herab sie jenen Männern
zugeschrieben hat, dass die pseudodanielischen und pseudo-
salomonischen Schriften schon von den späteren Juden für
/ • I
historische Schule. 345
diese Darstellungen zugleich durch die Namen von Aposteln
und Apostelschülern als acht apostolische zu bezeichnen?
Aehnlich, wie mit der bisher besprochenen Frage, verhält
es sich auch mit der Behauptung, welche der neueren Kritik
gleichfalls so sehr verübelt worden ist, dass in die biblischen
und so auch in die neutestamentlichen Darstellungen mög-
licherweise viel ungeschichtliches Eingang gefunden haben
könne ; wobei wir es übrigens hi e r eben nur mit der Behauptung
dieser Möglichkeit zu thun haben, ganz abgesehen von der Frage,
ob solche ungeschichtliche Bestandtheile in jenen Dar-
stellungen wirklich vorkommen, und wie weit das ungeschicht-
liche darin geht. So anstössig diese Behauptung dem sein muss,
welchem die Unfehlbarkeit der biblischen Schriften vor aller
Untersuchung feststeht, so natürlich wird sie der unbefangenen
geschichtlichen Erwägung erscheinen. Für's erste nämlich
lässt sich nicht bezweifeln, dass die Geschichte Jesu und der
Apostel anfangs ausschliesslich oder doch ganz überwiegend
durch mündliche Ueberlieferung fortgepflanzt wurde, und nur
eine willkührliche Voraussetzung ist es, wenn man meint, dieses
Uebergewicht der mündlichen Ueberlieferung über die schrift-
liche könne nur wenige Jahre gedauert, und es müsse mit der
ersten Abfassung christlicher Geschichtsbücher sofort aufge-
hört haben. Wir wissen vielmehr, dass noch im zweiten
Jahrhundert über die Reden und Thaten Jesu eine Menge Erzäh-
lungen im Umlauf waren, aus denen z. B. Papias (um 130—140)
die glaubwürdigen sammeln will, weil er sich von der münd-
lichen Ueberlieferung mehr Belehrung verspricht, als von
BücheiTi (s. 0. S. 321) ; wir sehen noch in der zweiten Hälfte dieses
Jahrhunderts Hegesippus die christliche Welt durchreisen, um
die Lehrüberlieferungen der Kirche, welche damals offenbar
noch keine normative Schriftsammlung gehabt haben kaim, zu
erkunden, noch am Ende desselben Irenäus und Tertullian
gegen die Gnostiker auf die kirchliche Tradition, als den ein-
zigen sicheren Haltpunkt, sich stützen, weil die Aechtheit und
Geltung der Schriften noch im Streit lag. Das Christenthum
ist ursprünglich ungleich mehr durch persönliche Verkündigung
346 I>>e Tübinger
als durch Schriftstellerei verbreitet, auch die Geschichte seines
Ursprui^s ist daher nothwendig zunächst von Mund zu Mund
überliefert worden*). Wie unwahi^cheinlich es aber ist, dass
ein geschichtlicher Bericht auf diesem Wege sich unvertodert
erhalte, zeigt schon die tägliche Erfahrung. Man beobachte
nur einmal die Wandlungen der Sage im grossen oder im
kleinen. Wie schwer ist es nicht in der Regel, über Dinge, die
sich kaum erst zugetragen haben, an Ort und Stelle selbst durch-
aus zuverlässige Nachrichten zu erhalten, sobald man es nicht mit
Augenzeugen zu thun hat! Auch wo niemand eine Täuschung be-
absichtigt, reichen wenige Tage, ja wenige Stunden oft hin, um
das geschehene vollständig zu entstellen und etwas rein sagen-
haftes an seine Stelle zu setzen. Was muss nicht alles mög-
lich sein, und was ist nicht alles nachweisbar schon vorge-
kommen, wo die Sage in Baum und Zeit weite Wege zu
durchlaufen hat, wo der spätere Erzähler von dem Schauplatz
der Begebenheiten entfernt, durch lange Jahre, vielleicht durch
mehrere Menschenalter von den Ereignissen getrennt, nach
mündlicher Ueberliefemng berichtet! Seihst dem soigfältig-
sten kritischen Geschichtsforscher ist es in solchen Fällen un-
zähligemale unmöglich, den Thatbestand auch nur mit einiger
Sicherheit herzustellen; um wie viel weniger solchen, bei denen
wir nur ein kleinstes von kritischer Kunst und rein geschicht-
lichem Interesse voraussetzen dürfen. Und diese Schwierig-
keit wird nicht vermindert, sondern in's unendliche vermehrt,
wenn eine Geschichtserzählung zugleich eine hohe religiöse,
überhaupt eine praktische Bedeutung hat. Denn je lebhafter
das eigene Interesse bei einer Erzählung hetbeiligt ist, um so
lebhafter wird auch die Phantasie anger^ werden, sich das
geschehene näher auszumalen-, um so grösser ist daher die
Gefahr, dass ungesehichtliche Zuthaten in die Ueberliefei-ung
sich einmischen und ihren geschichtlichen Kern am Ende, bei
öfterer Wiederholung dieses Hergangs, bis zur Unkenntlichkeit
überwuchern. Dass unsere neutestamentlichen G^chichts-
*) Einiges weitere luerüber in der Abhandlung über Strauss und Renan.
historische Schule. 347
bücher vor dieser Gefahr geschützt gewesen seien, liesse sich
nur dann behaupten, wenn die Augenzeugenschaft ihrer Ver-
fasser oder die Zuverlässigkeit ihrer Quellen nüt Sicherheit za
erweisen wäre; da aber dieser Beweis aus den äusseren Zeug-
nissen sich nicht führen lässt, kann man der Kritik nicht ver-
bieten, auch das Gegentheil wenigstens als möglich vorauszu-
setzen, und deipnach auch die Möglichkeit sagenhafter Zu-
thaten in ihren Erzählungen in weitem Umfang anzunehmen.
Ebensowenig lässt siÄi dann aber die weitere Möglichkeit
abweisen, dass diese Sagenbildung ganz oder theilweise von
bestimmten Motiven, von praktischen oder dogmatischen Inter-
essen beheri'scht war, dass sie nicht blos einfache Sagen, son-
dern auch Mythen erzeugt hat. Nichts anderes lässt sich viel-
mehr nach der Natur der Sache voraussetzen. Alle Reli-
gionen, welche wir kennen, ohne Ausnahme, haben ihre Mythen
und wer auch nur einigermassen mit der Eigenthümlichkeit
des religiösen Bewusstseins und der religiösen Ueberlieferung
vertraut ist, der wii-d diess sehr begreiflich finden. Dass es
beim Christenthum anders sein sollte, ist um so weniger zu
erwarten, da hier gerade die umstände einer raschen und
fruchtbaren Mythenbildung in vieler Beziehung höchst günstig
waren. Man hat zwar geglaubt, in einer so geschichtlichen
Zeit hätten sich keine Mythen mehr erzeugen können. Aber
dass die ersten christlichen Jahrhunderte eine durchaus ge-
schichtliche Zeit waren, diess ist theils in dieser Allgemeinheit
nicht richtig, da es vielmehr eben diese Zeit ist, welcher die
Geschichte der Philosophie und der Religion eine Menge von
Erdichtungen und falschen Angaben, die Literatur dieser
Fächer zahllose Unterschiebungen zu verdanken hat; theils
hat schon Strauss treffend bemerkt, eine Zeit könne recht
wohl für gewisse Völker und gewisse Bildungskreise eine ge-
schichtliche Zeit sein, ohne dass doch darum in derselben bei
allen Völkern imd in allen Kreisen geschichtlicher Sinn und
geschichtliches Bewusstsein zu finden sein müsste. Gerade im
jüdischen Volk hat sich dieses, wie bei den Orientalen über-
haupt, während seiner ganzen staatlichen Existenz niemals zu
historische Schule. 34^
liefeiiing schon in Schriften fixirt, kann man somit an ihr
selbst nichts mehr ändern, so ändert man ihren Sinn, indem
man ihr den eigenen Standpunkt gewaltsam aufdrängt, man
greift zur Allegorie, oder auch zu den Künsteleien einer ra-
tionalistischen Exegese; und wir wissen, wie eifrig die erstere
in der alten Kirche gehandhabt wurde, welche für die zweite
freilich nicht gemacht war. Ist dagegen die Ueberliefeiiing
noch flüssig, wie diess die christliche bis über die Mitte des
zweiten Jahrhunderts herab mehr oder weniger gewesen ist,
so hilft man sich einfacher : mit der üeberlieferung selbst wer-
den die Veränderungen vorgenommen, welche die fortge-
schrittene Zeit fordert, und es geschieht diess grossentheils^
ohne dass man sich dessen bewusst ist, durch eine unmittel-
bare Uebertragung des eigenen Standpunkts in die Vorzeit:
die religiöse Sage wird mit mythischen Elementen versetzt, sie^
nimmt vielleicht in manchen Parthieen einen rein mythischen
Charakter an. Und diess um so leichter, je mehr über die
Gegenstände, womit sie sich beschäftigt, schon vor ihr und un-
abhängig von ihr bestimmte dogmatische üeberzeugungen im
Umlauf sind. In diesem Falle befinden wir uns aber gerade
bei der evangelischen Geschichte. Was der Messias sein und
wirken werde, stand den Juden, wie ich schon früher bemerkt
habe, in allen Hauptpunkten bereits fest, als Jesus auftrat:
aus prophetischen Aussprüchen, aus alttestamentlichen Vor-
bildern und eigenen Erwartungen hatte man sich ein bis in's
einzelne ausgeführtes Messiasbild, eine messianische Dogmatik
entworfen, welche man nun in der Geschichte des erschienenen
Messias wiederzufinden erwarten musste. Was ist natürlicher,,
als dass sich diese Geschichte allmählich jener Erwartung ge-
mäss gestaltete, dass man ihre Lücken durch weitere, von dem
herrschenden MessiasbDd entlehnte Züge ausfüllte, dass man
Thatsachen, die ihr widersprachen, durch Zwischenglieder mit
ihr in Einklang brachte? Waren aber hiemit einmal gewisse
Bestimmungen in die Geschichte Christi eingeführt, so ergab
es sich von selbst, dass sie auch immer weiter ausgemalt
wurden. Dieser ganze Prozess der Mythenbildung kann für
historische Schule. 351
und seinen wunderbaren Tod! Wie gläubig wird von einem
Justin, Irenäus u. s. w., von allen, die seiner erwähnen, ohne
Ausnahme, auch das abenteuerlichste über ihn angenomm^ii!
Und doch ist diese altchristliche Faustsage so durch und durch
unliistorisch, dass man unsere Volksbücher über Faust gerade
so gut als Geschichtsquelle brauchen könnte, wie die Angaben
der Kirchenväter über Simon. Welches Uebermass des un-
glaublichen tritt uns aus den unzähligen Märtyi'erlegenden ent-
:gegen, und wie bereitwillig sind diese Legenden von den an-
gesehensten Kirchenlehrern nacherzählt worden, das Oelmär-
tyrerthum des Apostels Johannes z. B. schon von TeituUian,
die Wunder bei Polykarp's Tode, nach einem gleichzeitigen
Bericht der Gemeinde zu Smyma, von Eusebius! Welches
Licht fällt auf die Geschichtsforschung der alten Kirche, wenn
wir einen Bischof von Korinth um 170 n. Chr., trotz der
Apostelgeschichte und der Korintherbriefe, in einem amtlichen
Schreiben versichern hören, die korinthische Christengemeinde
sei von Petrus, als dieser mit Paulus nach Rom reiste, mit-
gestiftet worden ; oder wenn der gefeierte Eusebius, der Vater
der Kirchengeschichte, aufs bestimmteste behauptet, die von
Philo (um 30 n. Chr.) geschilderten jüdischen Therapeuten
seien Christen, und die heiligen Schriften derselben, deren
jener erwähnt, seien unsere neutestamentlichen Bücher ge-
wesen; oder wenn Tertullian mit voller Ueberzeugung berich-
tet, dass zu seiner Zeit in Palästina das himmlische Jerusalem
40 Tage lang jeden Morgen mit Mauern und Thürmen am
Himmel erschienen sei! Noch schlagender ist aber vielleicht
ein weiteres Beispiel, das ich mit Uebergehung aller andern
anführen will. Der grösste Kirchenlehrer des Abendlandes,
der heilige Augustinus, erzählt uns (Civ. D. XXII, 8) eine
Menge der ausserordentlichsten Wunder, die unter seinen
eigenen Augen vorgekommen sein sollen: Todtenerweckungen,
Teufelsaustreibungen, Blindenheilungen u. s. w. ; eine bösartige
Fistel in Augustin's Gegenwart durch Gebet so plötzlich ge-
heilt, dass der Arzt, der sie operiren wollte, eine festge-
schlossene Narbe an ihrer Stelle fand; eine Frau ebensoplötz-
382 Die Tübinger
lieh, auf einen Traum hin, dui'ch das Zeichen des Kreuzes vom
Brustkrebs befreit, und ähnliches. Ein alter verstockter Heide
wjrd durch Reliquien, welche man ihm unter das Kopfkissen
legt, im Schlafe bekehrt ; ein armer Schuster bittet die zwan-
zig Märtyrer um Kleider, und findet alsbald einen Fisch, der
einen goldenen King im Bauche hat, u. s. f. Dabei vei-sichert
Augustin, dass er von den ihm bekannt gewordenen Wundem
nur den kleinsten Theil erwähnt habe. Der heilige Stephanus
allein, sagt er, habe in den zwei Städten Hippo und Calama
so viele Kranke geheilt, dass er viele Bände schreiben müsste,
um alles zu erzählen. Und zugleich giebt er uns, wie man
glauben könnte, für die Wahrheit jener Wunder jede erdenk-
liche Bürgschaft. Er hatte nämlich die Einrichtung getroffen,
dass über alle derartige Vorfalle föiniliche Urkunden aufge-
nommen wurden. Solcher Urkunden waren ihm allein aus der
Stephanus-Kapelle bei Hippo in weniger als zwei Jahren gegen
siebzig zugekommen, in Calama gab es deren noch weit mehr.
Ueberdies behauptet Augustin noch, bestimmt zu wissen, dass
viele Wunder nicht au%ezeichnet seien. Was sollen wir nun
dazu sagen? Schliesslich werden wir in dieser beispiellosen
Häufung von Wundem doch nur einen Beweis für die Leicht-
gläubigkeit jener Zeit und die Unersättlichkeit ihres Wunder-
bedürfnisses, nur eine Bestattung des schwegler'scben Satzes
(Nachap. Zeit. I, 47) finden können: „Alles glaublich zu fin-
den, sobald es erbaulicher Natur ist, diess nun eben ist genau
der Matorische Standpunkt der ältesten Väter." Aber zugleich
werden wir uns nicht verbergen können, dass es vom ge-
schichtlichen Gesichtspunkt aus schwer ist, die neutestament-
liehen Wunder zu vertheidigen, wenn man die von Augustin
mitgetheilten bestreitet, und dass dieser Kirchenvater in seinem
Recht ist, wenn er sich auf diese, als die besser beglaubigten,
zum Beweis für jene beruft. Hier haben wir wirklich, was
wir dort fast durchaus vermissen. Der Berichterstatter ist ein
Zeltgenosse, theilweise selbst ein Augenzeuge der Begeben-
heiten, die er berichtet; er ist durch sein bischöfliches Amt
zu ihrer genauen Untereuchung vorzugsweise berufen; wir
historische Schale. 353
kennen ihn als einen Mann, an Geist und Wissen vor allen
seinen Zeitgenossen hervorragend, an religiösem Eifer, an Glau-
benskraft und sittlichem Emst hinter keinem zurückstehend.
Die wunderbaren Vorfälle haben sich an bekannten Personen,
mitunter vor grossen Volksmassen ereignet, sie sind auf amt-
liche Anordnung urkundlich verzeichnet worden. Und doch
glauben unsere Theologen, wenigstens die protestantischen,
nicht an diese Wunder, und doch feinden ebendieselben die
Kritik an, dass sie gleich ungeschichtliche Berichte in Schriften
für möglich hält, von denen wir lange nicht so sicher wissen, wann
und von wem und nach welchen Quellen sie verfasst wurden!
Doch gesetzt auch, unsere neutestamentUchen Schriften
seien von ungeschichtlichen Bestandtheilen nicht freizusprechen,
lässt sich auch annehmen, dass solche ungeschichtliche An-
gaben absichtlich gemacht wurden, dass nicht blos die be-
wusstlos dichtende Sage, sondern auch die bewusste schrift-
stellerische Thätigkeit daran Antheil hat? lässt sich diess
denken, ohne dass wir uns von den Urhebern solcher Täu-
schungen in moralischer Beziehung ein Bild machen müssten,
welches der geschichtlichen Wahrscheinlichkeit und der Ach-
tung vor jenen Männern gleich wenig entsprechen würde?
Unsere Antwort auf diese Frage ist die gleiche, wie oben in
Betreff der Unterschiebung von Schriften. Wo überhaupt kein
geschichtlicher Sinn und keine geschichtliche Kritik ist, da
wird die tendenzmässige Veränderung des überlieferten Ge-
schichtsstoffes ganz anders angesehen werden, und ebendess-
halb auch hinsichtlich ihrer sittlichen Zulässigkeit ganz anders
zu beui-theilen sein, als wo sie vorhanden sind. Das Ge-
schichtliche hat auf diesem Standpunkt noch gar keine selb-
ständige Bedeutung; seine Thatsächlichkeit wird allerdings
nicht bezweifelt, aber sein Werth imd Interesse liegt für die
Verfasser wie für die Leser der Schriften nur darin, dass es
gewissen religiösen Ideen und Bestrebungen zum Ausdruck
dient; ebendesshalb aber glaubt man sich auch berechtigt, es
mit voller Freiheit nach dogmatischen Zwecken umzubilden
und selbst neuzubilden, und man hat durchaus nicht das
Zeller, Vorträge und Abliandl. 23
nan die
tausche
}. Man
iie Ge-
tdpunkt
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ass die
tioclias
in Gott
oselben
. Aber
etrüger
historische Schule. 355
Eecht, die neuere Kritik desshalb in Anklagestand zu ver-
setzen, weil sie die Möglichkeit behauptet, dass auch noch
andere biblische SchrijFtsteller die Geschichte mit derselben
Freiheit behandelt haben könnten? über „Tendenzkritik" zu
klagen, gleich als ob nicht alle literarische KriJ,ik die Tendenz
der Schriften, mit denen sie sich beschäftigt, zu untersuchen
verpflichtet wäre, oder gar diesem Vorwurf die iiTefiihrende
Wendung zu geben, als ob die Resultate dieser Ki-itik selbst
aus gewissen theologischen Tendenzen und nicht vielmehr ein-
fach aus der Absicht entsprungen wären, den geschichtlichen
Thatbestand rein auszumitteln, von der Entstehung des Christen-
thums imd seinen ältesten Zuständen ein möglichst getreues,
vollständiges und in sich einstimmiges Bild zu erhalten?
Wie nun dieses Bild von der „Tübinger Schule" des
näheren ausgeführt wird, diess soll hier an der Hand von
Baur's Kirchengeschichte, so weit sie die ältere Kirche be-
trifft,*) in der Kürze gezeigt werden.
Um das Christenthum geschichtlich zu begreifen, sagt
Baur (Christenth. d. 3 erst Jahrh. S. 1 ff.), darf man schon
seinen Anfang nicht als jenes schlechthinige Wunder betrach-
ten, wofür er den meisten gilt ; man muss ihn in den geschicht-
lichen Zusammenhang hereinziehen und soweit als möglich in
*
seine natürlichen Elemente auflösen, man muss das Christen-
thum „als eine dem Geiste der Zeit entsprechende und durch
die ganze bisherige Entwickelungsgeschichte der Völker vor-
bereitete allgemeine Form des religiösen Bewusstseins auf-
*) Die vorliegende Abhandlung war ursprunglich zugleich eine Anzeige
der zwei ersten Bände von Baur's Kirchengeschichte, von denen der erste
u. d. T. „das Christenthum und die christliche Kirche der drei ersten
Jahrhunderte" 1853 (m zweiter Auflage 1860, in dritter 1863), der zweite:
„die christliche Kirche vom Anfang des vierten bis zum Ende des sechsten
Jahrhunderts" 1859 (2. A. 1863) erschien. Ich lasse diesen Theil derselben
mit abdrucken , wiewohl jene Schriften inzwischen auch unter den Nicht-
theologen einen bedeutenden Leserkreis gefunden haben: theils weil eine
Uebersicht über ihren wesentlichen Inhalt doch manchen erwünscht sein
wird, theils weil ich von ihr auch zu manchen eigenen Erläuterungen An-
lass genommen habe.
23*
hm durch die Eroberungen
;h das Römerreich nicht
Verbreitung gebahnt, son-
neinschaft herg^tellt, in
theile der Nationalitäten
üniversalismus des Gottes-
ft eines Weltreichs vor-
izeitig und im Zusammen-
eten des religiösen Lebens
gegangen. Während die
,uben und abergläubische
törten, das Judenthnm in
nathigem Fartikularismus
nerte, war zugleich hier
n Weltanschauung gelegt
liatte sieh durch die Phi-
jUere, auf das menschliche
Offenbarung der Gottheit
igiösen Lebens entwickelt;
linzufugen, der Monotheis-
■beitet, die sinnhch heitere,
ensansicht des Hellenen
alistischen Dualismus ver-
jenseitige Welt eröffnet
ben nur zur Vorbereitung
r in der alexandrinischen
dl umgebildet worden, es
zum grösseren Theil ab-
•ch allegorische Erklärung
ophen erfüllt, an die Stelle
ne innerliche, mit ängst-
imfassender Menschenliebe
der Armen und Stillen im
stellt sich so nicht als .
eothält nichts, was nicht
orbereitet und der Stufe
. historische Schule. 357
der Entwickelung entgegengeführt worden ist, auf welcher es
uns im Christenthum erscheint, nichts, was nicht, sei es in
dieser oder jener Form, auch zuvor schon als ein Eesultat
des vernünftigen Denkens, als ein Bedürfniss des menschlichen
Herzens, als eine Fordeining des sittlichen Bewusstseins sich
geltend gemacht hätte."
Auch an sich selbst ist die Lehi-e, welche der Stifter des
Christenthums ursprünglich aufstellte, nach Baur sehr einfach.
Lassen wir die johanneische Darstellung aus dem Spiele^
welche nun einmal mit derjenigen der drei andern Evangelien
nicht zu vereinigen ist, halten wir uns auch unter diesen zu-
nächst an das, welches wir für die „relativ ächteste und glaub-
würdigste Quelle der evangelischen Geschichte" zu halten
haben, an Matthäus, so finden wir in der Lehre Jesu im
wesentlichen „nichts, was nicht eine rein sittliche Tendenz
hätte, und nur darauf hinzielte, den Menschen auf sein eigenes
sittlich - religiöses Bewusstsein zurückzuweisen." (A. a. 0.
S. 35.) Die Armuth im Geiste, in welcher die Erhebung des
religiösen Bewusstseins über den Druck der Endlichkeit sich
ausspricht, die vollkommene Gerechtigkeit, bei der es nicht
auf die äussere That ankommt , sondern auf das Innere der .
Gesinnung, jene Selbstlosigkeit, andere ebenso zu lieben, wie
sich selbst, jene Herzenseinfalt und Demuth, welche nichts für
sich sein und alles von Gott empfangen will, jene Innigkeit
und Unbedingtheit des religiösen Lebens, welche sich in dem
Vatemamen Gottes ausdrückt (ich erweitere auch hier die
baur'sche Darstellung um einen, wie mir scheint, wesentlichen
Zug) — diess sind die hervorstechendsten Forderungen der
Lehre Jesu. Durch diese Vertiefung und Reinigung des sitt-
lich-religiösen Bewusstseins wird die mosaische Gesetzesreligion
grundsätzlich überschritten, die alttestamentliche Theokratie
zu einem sittlichen „Reich Gottes" vergeistigt. Doch hat
Jesus selbst weder mit d^m Mosaismus gebrochen, noch eine
eigene entwickeltere Dogmatik vorgetragen ; er hat namentlich
die späteren Bestimmungen über Sünde und Gnade noch nicht,
aufgestellt, sondern er wendet sich einfach an den freien ^
T-"
historische Schu/e. 359
Umgestaltung ihres inneren Lebens in Wahrheit noch Juden
waren: so weit waren sie doch noch lange Zeit nachher (wie
diess aus den paulinischen Briefen deutlich hervorgeht, und
dui-ch die dogmatisch umgefärbte Darstellung der Apostelge-
schichte nicht widerlegt werden kann) von einem klaren Be-
wusstsein über die Stellung entfernt, welche sie damit zum
Judenthum eingenommen hatten. Ihr neuer Glaube erschien
ihnen nur als die Vollendung, nicht als ein Aufgeben des alten ;
«ie wollten in der jüdischen Religionsgemeinschaft bleiben und
die christliche auf solche beschränken, die jener angehörten
oder dm-ch die Beschneidung zu ihr übertraten; sie fühlten
sich fortwährend an die Vorschriften des mosaischen Gesetzes
gebunden, sie sahen in Jesus nur den Messias der Juden,
nicht den Stifter einer neuen, Juden und Heiden gleichsehr
umfassenden, und beide gleichsehr ihres bisherigen religiösen
Charakters entkleidenden Weltreligion. Den ersten Schritt
nach dieser Eichtimg hin bezeichnet vielmehr das Auftreten
des Hellenisten Stephanus, und ihre principielle Begründung
erhielt die Unabhängigkeit des Christenthums vom Judenthum
erst durch den grossen Heidenapostel, durch Paulus. Erat in
ihm hat das christliche Bewusstsein grundsätzlich und bestimmt
mit dem Mosaismus gebrochen. Er zuerst hat es ausgespro-
chen, dass nicht das Judenthum, sondern nur das Ghristen-
thum den Menschen in das richtige Verhältniss zu Gott setzen
könne. Dieser Gedanke steht seit der Bekehrung des Apostels
im Mittelpunkt seiner religiösen Weltansicht, von hier aus hat
sich, wie diess Baur des näheren nachweist, der ganze pau-
linische Lehrbegriflf in seinen Grundzügen entwickelt. Es han-
delt sich bei dieser Theologie nicht blos um dogmatische Spe-
kulationen, soadern den Kern derselben bildet die praktische
Frage nach dem Verhältniss der beiden ßeligionsformen, nach
der wahren Eeligion und dem rechten Weg zur Seligkeit. Je
weiter sich aber hiebei Paulus von allem entfernte, was bis-
her bei Juden und Judenchristen als unantastbar gegolten
hatte, je schroffer er mit der Behauptung, dass die ganze alt-
testamentliche Religion nur ein Mittel, die Sünde zur Reife zu
ymger
adeDthum mid ChristeDtbunv
linbar seien, uicht allein den
igenosseti, sondern auch den
nen gestifteten Gemeinde ent-
ist es, dass er selbst bei den
[iristen mit fortgesetztem Miss-
en mit Hass und Widerspruch
(Verhandlung zwischen ihm und
lern Namen des Äpostelcondls
eigenen Darstellung (welcher
der Apostelgeschichte unbe-
!u einer grundsätzlichen Aus-
Ansätze, sondern nur zu einer
Macht der Thatsachen abge-
n seinem Wirkungskreise ge-
ler hiebe! der eine oder der
srigen Standpunkt verzichtet
)ei dem harten Zusammenstoss,
stiTis in Antioehien stattfand;
1 beiden Theilen unbekümmert
Weg gehen, ja wir erfahren
lass selbst in den von Paulus
griffe Eingang fanden, welche
ei, und uameatlich von aus*
pfehluDgen veraehenen Send-
sein Werk gerichtet wurden,
isen, schrieb Paulus den ge-
■; in ihnen liegt eine von den
n der beiden Korintherbriefe;
laben wir uns eadlieh auch den
will in diesem Sendschreiben
landersetzung seines ganzen
ne apostolische Stiftung ent-
idt, eine Gemeinde von vor^
Ige, gewinnen und ihre Vor-
stenthum , diesen glücklichen
historische Schule. 361
Nebenbuhler des Judenthums und seiner theokratischen Vor-
rechte; beschwichtigen. Zur Versöhnung der Partheien sollte
auch die Sammlung für die Jerusalemiten dienen, welche
Paulus unter seinen Gemeinden so eifrig betrieben hatte, und
deren Ertrag er persönlich nach Jerusalem überbrachte. Aber
dieser Versuch hatte einen unglücklichen Ausgang. Der Apo-
stel selbst wurde dadurch in die Gefangenschaft und schliess-
lich in den Tod geführt ; denn die Angabe, dass er damals wie-
der befreit und erst später, in einer zweiten römischen Ge-
fangenschaft, hingerichtet worden sei,, ist von Baur ebenso wie
die damit zusammenhängende; für die späteren kirchlichen
Verhältnisse so wichtig gewordene Sage von der Anwesenheit
des Petrus in Rom und seinem römischen Episkopat, längst
widerlegt worden. Auch das Versöhnungswerk des Apostels
muss aber in der Hauptsache misslungen sein; denn alle
Spuren weisen darauf hin, dass sich in der nächsten Zeit nach
seinem Tode die Partheien in der christlichen Kirche noch
schroff genug gegenüberstanden, und dass einige Menschen-
alter nöthig waren, um ihre allmähliche Annäherung und ihre
schliessliche Verschmelzung herbeizuführen. Es sind so hier
ähnliche Verhältnisse, wie sie später bei der Reformation des
16. Jahrhunderts hervortreten: über der abweichenden Auffas-
sung des gemeinsamen Werkes trennen sich schon die ersten
Wortführer der religiösen Bewegung; eine Ausgleichung wird
(auf dem sog. Apostelconvent) versucht, aber sie ist so wenig,
als dort die Wittenberger Concordie, von Bestand; erst nach
schroffer Spaltung, nach langen Imingen und gegenseitigen
Anfeindungen kommt es zur wirklichen inneren Uüion.
Die Spuren dieses Verlaufs sucht nun Baur sowohl inner-
halb als ausserhalb der neutestamentlichen Schriftsammlung
auf. Die reinste und wichtigste Urkunde des Paulinismus
sieht er, nächst den Briefen des Apostels, in dem Lukas-
evangelium, welches seiner Ansicht nach die evangelische Ge-
schichte eben aus dem Gesichtspunkt des paulinischen Univer-
salismus behandelt; während Matthäus die ursprüngliche evan-
gelische Ueberlieferung, wie sie sich in judenchristlichen Krei-
362 Die Tübinger
gen fortgepflanzt hatte, verhältnissmässig am reinsten wieder-
giebt; einen einseitigen Paulinismus finden wir in der Folge,
mit gnostischem Dualismus Hand in Hand gehend , bei Mardon.
Von judenchristlicher Seite ist die älteste Schrift, die wir be-
sitzen, die Offenbarung des JohanneSj welche 1—2 Jahre vor
der Zerstörung Jerusalems, aller Wahrscheinlichkeit nach von
dem Apostel, dessen Namen sie trägt, verfasst wurde, und
welche auch seiner — um diess beiläufig zu bemerken — gar
nicht unwürdig ist, sobald man sie nur mit geschichtlichem
Verständniss betrachtet. Denn wenn uns freüich ein auf
Jahrtausende berechneter prophetischer Abriss der Welt- und
Kirchengeschichte, falls er durch die nachfolgenden Ereignisse
bestätigt wurde, unbegreiflich, und falls er diess nicht wurde,
phantastisch erscheinen müsste, so ist dagegen nichts begreif-
licher, als eine Schrift, welche bei einer tief eingreifenden
Wendung der Geschichte die Erwartungen einer Religions-
parthei von der nächsten Zukunft ausspricht, und diese Parthei
für die bevorstehenden Ereignisse zu kräftigen und zu sam-
meln sich bemüht. Eben diess thut nun die Apokalypse.
Die ältesten Christen erwarteten bekanntlich mit jedem
Tage das Ende der Welt und die wunderbare Wieder-
kunft des Messias, welcher dann erst den letzten Zweck
seiner Erscheinung, die Stiftung des messianischen Kelches,
verwirklichen sollte. Die ganze apostolische und nachaposto-
lische Zeit, das ganze neue Testament, nur seine jüngsten
Bestandtheile ausgenommen, ist voll von dieser Erwartung;
sie ist es, welche den ersten Christen jene opferfreudige Hin-
gebung im Kampfe mit der heidnischen und der jüdischen
Welt möglich gemacht hat, und gerade die unmittelbare Nähe
der Wiederkunft Christi ist es, worauf hiebei alles ankam ;
denn wenn der Einzelne ein solches Ereigniss erst Jahrhun-
derte und Jahrtausende nach seinem Tode zu erwarten hat,
so hat es füi- ihn keine Bedeutung mehr. Als nun in der
neronischen Christenverfolgung das heidnische Weltreich der
Christengemeinde zum ersten Mal mit grausamer Wuth ent-
gegentrat, als in dem jüdischen Kriege die Geschicke des
■ »jii* i * *y^
historische Schule. 363
Volkes, das seinen Messias verworfen hatte, sich zu erftdlen
begannen, als nach Nero's Tod um den Thron der Cäsaren in
blutigem Bürgerzwist gekämpft wurde, da schien den Christen
die prüfungsreiche Wai-tezeit ihrem Ende sich zuzuneigen; es
tauchte das Geiilcht auf, welches in einem bedeutenden Theile
der römischen Welt bei der heidnischen und der christlichen
Bevölkerung Glauben fand, Nero sei seinen Mördern entronnen,
oder nach christlicher Wendung der Sage, er werde wieder
vom Tode ei*weckt werden, um demnächst mit orientalischen
Heeren zuiiickzukehren und an Rom furchtbare Rache zu
nehmen; die Christen sahen in ihm den Antichrist, der mit
Hülfe der Dämonen sein Werk zu Ende führen, alle treuen
Bekenner Christi vertilgen, dann aber vor dem wiedererschei-
nenden Messias in den Staub sinken sollte. Aus diesen Ver-
hältnissen und Erwartungen heraus ist die „Offenbarung" ge-
schrieben: sie will die Christenheit zum standhaften Bekennt-
niss und zur unverfälschten Bewahrung ihres Glaubens er-
mahnen, und sie auf das bevorstehende Märtyrerthum vorbe-
reiten, indem sie den Ausgang des nahen Kampfes und die
überschwänglichen Belohnungen der glaubenstreuen Streiter
nach Anleitung der herrschenden jüdischen Messiaserwartungen
in der längst herkömmlichen Form prophetischer Darstellung
schildert. Sie ist ein Manifest der Christenheit für den, wie
man annahm, unmittelbar bevorstehenden Entscheidungskampf
mit den widerchristlichen Mächten. Sie ist daher für ihre
Zeit ein Werk von der höchsten Bedeutung, und sie ist nur
desshalb von der Folgezeit umgedeutet, angezweifelt, sölbst
aus dem Kanon entfernt worden, weil spätere Jahrhunderte in
ihren alterthümlichen Anschauungen, in ihren von der Ge-
schichte längst überholten und widerlegten Erwartungen sich
nicht zurechtzufinden wussten. Nur um so bezeichnender ist
es aber, wenn ein solches Buch Dinge, welche Paulus verthei-
digt und erlaubt hatte, zu der Teufelslehre Bileam's rechnet,
wenn einer der angesehensten von den Judenaposteln selbst
damals noch die Heidenchristen nur wie Hintersassen zu dem
ächten judenchristlichen Stamm der Messiasgemeinde hinzukom-
864 I>ie Tttbinger
men lässt, wenn unter den zwölf Aposteln des Messias, derea
Namen auf den Grundsteinen des himmlischen Jerusalems ein-
gegraben sind, iQr den grossen Heidenapostel kein Baum bleibt,
■wenn die ephesische Gemeinde, in der er so lai^e gewirkt
hatte, belobt wird, dass sie die, welche sich selbst zu Aposteln
machen wollten, geprüft und sie falsch erfanden habe. Man
sieht auch hier, welche harte Gegensätze es waren, aus deren
Vermittlung die katholische Kirche allein hervoi^ehen konnte.
Weitere Beweise von der Stimmung der judaisirenden Parthei
gegen Paulus bringt Baui* aus Papias, Hegesippus und beson-
ders aus den pseudo-clementinischen Schriften bei, und eben-
dahin bezieht er mit Recht die Sage von dem Magier Simon,
über deren ursprüngliche Bedeutung schon anderwärts (S. 226)
das erforderliche beigebracht ist
Indessen lag es in der Natur der Sache, dass die Theiie
-dei' Christenheit, welche doch immer durch gemeinsamen Glau-
ben verbunden waren, nicht alle und nicht immer in dieser
Spannung beharren konnten, dass die Streitfragen ihre Schärfe
allmählich verloren, die gemeinschaftlichen Elemente bestimm-
ter heraustraten, dass die sich bekämpfenden Partheien im
Streite selbst sich näher kamen, manches von einander an-
nabmen, über anderes sich verglichen, dass mit der Zeit für
alle Christen eine gemeinsame Dogmatik und eine gemeinsame
Kirche entstand. Sowohl auf judenchristlidier als auf pauli-
nischer Seite lässt sieb, wie Baur zeigt, diese aoBgleichende
Thätigkeit wahrnehmen. Dort ist es bereits eine wesentliche
Mildeiimg des urspiünglichen Standpunktes, wenn schon frühe
auf die Beschneidung der Heidenchristen verzichtet und die
Taufe an ihre Stelle gesetzt wird, wenn das Heidenchristen-
thum, welches man als ein paulinisches nicht gelten lassen
wollte, zu. einem petrinischen gemacht, wenn in den Clemen-
tineu Petrus als der eigentliche Heidenapostel dargestellt und
so neben dem fortwährenden leidenschaftlichen Widerspruch
gegen die Person des Paulus sein Werk und der von ihm ver-
fochtene Grundsatz des Universalismus anerkannt wird. Unter
den neutestamentlichen Büchern legt der Jakobusbrief von
historisclie Schale. 365
dem Einfluss Zeugniss ab, welchen diese paulinische Auffas-
sung des Christentliums auch auf solche gewann, die ihr in
vielen Beziehungen noch grundsätzlich widerstrebten. Den
TJebergang vom Judenchristenthum zum Paulinismus bezeichnet
der Brief an die Ebräer ; nächst ihm stellen sich in den reiner
paulinischen Briefen an die Epheser, die Kolosser und die
Philipper, und in den bereits gegen die häretische Gnosis ge-
richteten Pastoralbriefen verschiedene Formen und Stufen
jener vermittelnden Bestrebungen dar, welche in der Apostel-
geschichte durch eine ganz und gar im conciliatorischen Inter-
esse gehaltene, den geschichtlichen Stoff mit grosser Freiheit
erweiternde und umbildende Darstellung ihre Spitze erreichen.
Von der Absicht, die dogmatischen Gegensätze möglichst zu
neutralisiren, ist das Markusevangelium geleitet, ein Auszug
aus Matthäus und Lukas, der für seine sonstige Farblosigkeit
nur in der stärkeren Ausmalung der äusseren Vorgänge einen
Ersatz sucht. Aehnliche Wahrnehmungen wiederholen sich
ausserhalb unserer neutestamentlichen Sammlung bei den
Schriften, welche uns unter den Namen des Barnabas, Ignatius,
Clemens, Polykarpus und Hermas tiberhefert sind, und bei
Justin dem Märtyrer. So sehen wir denn seit der zweiten
Hälfte des zweiten Jahrhunderts den Gegensatz, welcher die
apostolische und nachapostoHsche Zeit so tief bewegt hatte,
verschwinden, Petrus und Paulus erscheinen als durchaus ein-
verstanden in ihren üeberzeugungen und zu gemeinsamem
Wirken verbrüdert, und um uns hierüber keinen Zweifel übrig
zu lassen, werden sie von der römischen Kirche, in welcher
«ich diese Versöhnung der Partheien zuerst vollzogen zu haben
scheint, gemeinschaftlieh als ihre Stifter verehrt, und es wer-
den in der Stadt, welche Petms niemals betreten hat, die
Gräber der beiden Apostel als Denkmale ihres gemeinsamen
Märtyrertodes gezeigt. Schon unsere beiden petrinischen
Eriefe legen diese Tendenz deutlich an den Tag, wie denn
auch beide erst im zweiten Jahrhundert, wahrscheinlich in
Eom, geschrieben sind. Ihren letzten dogmatischen Abschluss
erhielt aber diese ganze Bewegung des religiösen Geistes
366 I>ie Tübinger
durch jenes Evangelium, welches um die Mitte des zweiten
Jahrhunderts ver&sst und nicht sehr lange nachher als ein
Werk des Apostels Johannes allgemein anerkannt wurde.
Das Judenthum liegt fUr den Standpunkt dieses Evangeliums
als eine längst überwundene Erscheinung in der Vergangen-
heit, das Ghristenthum ist als der einzige und allgemeine
Heilsweg festgestellt, alle Gegensätze, die es innerhalb des
jüdischen Partikularismus festhalten wollten, sind in seinem
Universalismus aufgehoben, ein neues absolutes Princip, das
weltschöpferische Wort Gottes, hat sich in ihm geoffenbart, und
die Aufgabe kann nur die sein, durch keine beschränktere
Form des religiösen Lebens beirrt, diesem Göttlichen sich ganz
hinzugeben, in Liebe mit dem Sohn Gottes und dui*ch ihn nüt
Gott selbst sich zu einigen. Von jenen Kämpfen, dm*ch welche
sich die Christenheit in ihrer Urzeit hindurcharbeiten musste,
wird diese ideale Darstellung nicht mehr berührt: wie der
Stifter des Christenthums zur Göttlichkeit erhoben ist, so ist
auch das Ghristenthum selbst ein unendliches, dem gegenüber
alles andere seine Bedeutung verliert ; das christliche Bewusst-
sein hat einep Buhepunkt erreicht und die Nebel hinter sich
gelassen, welche auf tieferen Stufen seinen Gesichtskreis um-
hüllt hatten.
Schon. bei diesen Entwicklungen sind nun zwei Erschei-
nungen betheiligt, deren Spuren namentlich dem Johannes-
evangelium eingedrückt sind, deren Wirkung aber im weiteren
Verlaufe sich noch vollständiger herausstellen sollte, die Gno-
sis u3J(S**^^ontanismus. Die erste hatte Baur schon im Jahre
1835 in einem eigenen Werke behandelt, und sie seitdem foi-t-
während im Auge behalten ; für eine gründlichere Erforschung
des Montanismus hatte Schwegler in der Schrift, mit der er
sich in die gelehrte Welt einführte, den ersten nachhaltigen
Versuch gemacht, an den weiteren Verhandlungen darüber
auch Baur theilgenommen. In seiner „christlichen Kiixhe der
drei ersten Jahrhunderte" (S. 175) fasst der letztere die Er-
gebnisse dieser Untersuchungen, in mancher Beziehung er-
gänzt und schärfer bestimmt, übersichtlich zusammen. Die
I
historische Schule. 367
ältere und bedeutendere von den zwei eben genannten Er-
scheinungen isti die Gnosis, jene vielgestaltige religiöse Speku-
lation, welche die christliche Kirche des zweiten Jahrhunderts
von Syrien und Pontus bis nach Spanien und Nordaiiika in
ihrer Tiefe aufgeregt, und einige Menschenalter hinduixh um
die Herrschaft in ihr gerungen hat. Wir können dieselbe aus
einem doppelten Gesichtspunkt betrachten. Einerseits erscheint
sie als eine Fortsetzung der jüdisch - alexandrinischen Philo-
sophie, von welcher sie auch geschichtlich ohne Zweifel zunächst
ausgieng, als eine Uebertragung griechischer und theilweiäe
auch orientalischer Spekulationen in's Christenthum. Anderer-
seits treffen wir aber bei den Gnostikem eine solche Energie
des eigenthümlich christlichen Bewusstseins, eine so hohe Mei-
nung von dem neuen und unterscheidenden der christlichen
Keligion, dass sie den geschichtlichen Zusammenhang derselben
mit dem vorchristlichen völlig abreissen, und im Judenthum
insbesondere nicht eine dem Christenthum gleichartige, gleich-
falls göttliche Offenbarung, sondern nur das Werk eines be-
schränkten, tief unter dem höchst^i Gott stehenden Wesens
zu finden wissen. Nach jener Seite könnte man sie flir Schü-
ler der heidnischen Philosophen, nach dieser für extreme Pau-
liner halten. Beides ist aber hier aufs engste verbunden»
Die Gnostiker wollten das Christenthum in seiner Reinheit und
Vollendung darstellen, sie wollten aus demselben alle jene
trübenden Bestandtheile ausscheiden, welche ihm als Ueber-
bleibsel des Judenthums bei der Masse der Christen noch an-
haften, sie verlangten, wie Paulus, ein vergeistigtes, pneuma-
tisches Christenthum. Das Mittel dazu sollte nun die höhere
Erkenntniss, die Spekulation sein, für welche sie nur bei den
jüdisch-alexandrinischen, und in letzter Beziehung mit diesen
bei den griechischen Philosophen die Anleitung finden konn-
ten; natürlich entlehnten sie aber von ihren Vorgängern vor
allem das, was ihrer eigenen religiösen Tendenz entsprach,
jenen schroffen, spiritualistischen Dualismus, der im Univer-
sum wie in der Menschenwelt überall nur ungöttliches, unvoll-
kommenes und böses erblickte, um alles göttliche und geistige
368 ^e Tübinger
auf die edleren, der gnostischen Erkenntniss fähigen Seelea
zu beschränken. So kraus es aber in dieser Spekulation auch
hergeht, so fremdartig und abenteuerlich das meiste darin uns
anspricht, so ausserordentlich war doch, wie schon aus ihrer
weiten Verbreitung und ihrer langen Dauer hervorgeht, ihre
Wirkung auf die christliche Kirche. Vergleichsweise von ge-
ringerem, an sich selbst aber doch immer noch von sehr be-
deutendem Einfluss ist der Montanismus, welcher vor der
Mitte des zweiten Jahrhunderts in Eleinasien entstand und
gleichfalls bald in der ganzen christlichen Welt Anhänger ge-
wann. Diese Denkweise bildet in vielen Beziehungen das Ge-
genstück zu der Gnosis. Auch sie hat es nämlich auf eine
Vollendung der Kirche, ein pneumatisches Christenthum ab-
gesehen, aber das Motiv derselben liegt für sie in der damals
bereits veraltenden, von ihr mit fanatischer Begeisterung er-
neuerten Erwartung des nahen Weltendes; ihr Inhalt besteht
nicht in der Reinigung des Christenthums von allem Jüdischen,
sondern im Gegentheil in einer Verschärfung jener Sitten- und
Kirchenzucht, die vorherrschend judenchristlichen Ursprungs
ist, in einer grösseren Strenge der Fasten- und Ehegesetze,
des Busswesens u. s. w., mit Einem Wort in einem „neuen
Gesetz"; das Mittel, um sie herbeizuführen, ist nicht die
Spekulation, sondern die Prophetie, die Ekstase, in welcher
der Mensch dem neuen prophetischen Geiste, dem Paraklet,
sich als willen- und bewusstloses Werkzeug hingiebt. Darin
jedoch treffen beide Erscheinungen, Gnosis und Montanismus,
zusammen, dass sie eine Reform der Kirche, einen Fortschritt
zu höherer religiöser Vollkommenheit, meist allerdings mit
entgegengesetzten Mitteln, verlangen. Und dass sie auch wirk-
lich für den weiteren Verlauf der kirchlichen Entwicklung von
der höchsten Wichtigkeit gewesen sind, lässt sich nicht ver-
kennen. Die Gnosis gab der theologischen Spekulation auch
ausserhalb der eigenen Parthei einen so kräftigen Anstoss, dass
sich selbst ihre erbittertsten Gegner, die . Ebjoniten, diesem
Einfluss nicht entziehen konnten, und in dem System der cle-
mentinischen Homilieen eine eigenthümliche Foim Judenchrist-
historische Schule. 369
lieher Gnosis erzeugten; innerhalb der katholischen Kirche
wiederholt sie sich in der rechtgläubigen Gnosis der grossen
alexandrinischen Kirchenlehrer, eines Clemens, Origenes und
ihrer über den ganzen Osten verbreiteten, Jahrhunderte lang
fortwirkenden Schule; dieser Gnosis, welche die Lehren der
gi-iechischen Philosophen so bereitwillig in die christliche
Dogmatik einführte, und sie mit der christlichen Ueberlieferung
zu so merkwüi'digen Lehrgebäuden verknüpfte. Der Monta-
nismus hat theils auf die christliche Dogmatik, namentlich in
der Lehre von der Dreieinigkeit, theils und besonders auf die
Gestaltung der christlichen Sitte und der kirchlichen Sittenzucht
eingewii'kt. Noch wichtiger ist aber, dass der Kampf mit die-
sen Gegnern, und vor allem , mit der Gnosis, die Kirche
nöthigte, sich zu einer schärfer abgegi-enzten Lehreinheit und
festeren Yerfassungsformen zusammenzufassen. Den Gnostikem
gegenüber half es nichts, sich auf die heiligen Schriften zu
berufen. Von den alttestamentlichen wollten sie nichts wis-
sen, die neutestamentlichen wurden von ihnen theils gleichfalls
nicht anerkannt, theils durch jene allegorische Auslegung, ge-
gen welche die damalige Theologie kein Mittel hatte, in ihrem
Sinn umgedeutet. Einer Auktorität aber, welche den Streit
schlichtete, konnte man nicht entbehren, denn der ganze
kirchliche Glaube beruhte auf Auktorität und Tradition ; wenn
man sich einmal darauf einliess, seine Geltung von dem Er-
folge der wissenschaftlichen Beweisfühmng abhängig zu machen,
so drohte alles in's Schwanken zu gerathen. So blieb nichts
übrig, als auf das Zeugniss zurückzugehen, von welchem auch die
Annahme der heiligen Schriften am Ende abhieng, das Zeugniss
der kirchlichen Ueberlieferung. In ihr sollte die ächte aposto-
lische Lehre bewahrt sein, welche man auch bereits, um alle
abweichenden Behauptungen desto sicherer auszuschliessen, in
übersichtlichen Bekenntnissen, in der sogenannten Glaubens-
regel, zusammenzufassen pflegte. Wer verbürgte aber die Treue
und den apostolischen Urspmng dieser Ueberlieferung? Wer
konnte überhaupt in dem Streit der Meinungen einen festen
Zeller, Vorträge und Abhandl. 24
ien Spaltungen in den Ge-
telpunkt darbieten, an dem
, vo das Recht und wo das
stliche Kirche, wo die wiU-
die Häresie, zu suchen sei?
die Nachfolger der Apostel,
i jenen die reine Lehrüber-
xilische Geist vererbt hatte,
lostischen Häresie und dem
a den Einzelgemeinden 2ur
[irchenverfessung. In den
sonst, bis g^en die Mitte
bedeuten die Namen der
ich dasselbe; jetzt dagegen
iheitliche, alle Rechte der
de Spitze derselben rasch
3,chgen, und jene hohe Idee
eiche zuerst in den pseudo-
aischen Schriften mit aller
it nun eine kirchliche Ein-
en gegebenen Verhältnissen
Baur a. a. 0. 302 f.) durch
m Grundform einer unend-
insofem die Elemente der
n Hierarchie in sich trägt.
biet der Kirche äusserlich
) und das Verhältniss der
Merkmalen, durch den Aus-
Auktorität, zu bestimmen;
rer Einheit, im Gegensatz
1*81 ist mit der Sache auch
atholischen Kirche ge-
h diese Idee sich in noch
. Die Bischöfe treten nicht
ien zusammen, welche zu-
historische Schule. 371
nächst allerdings noch auf einzelne Provinzen beschränkt sind ;
sondern frühe schon erheben gewisse Gemeinden den An-
spruch, dass sie als apoitolische Stiftungen die Lehre der
Apostel reiner und zuverlässiger, als andere, bewahrt haben,
dass daher ihnen und ihren Bischöfen bei Lehrstreitig-
keiten eine vorzugsweise Geltung zukomme. Keine andere
Gemeinde hat aber diesen Anspruch höher gespannt . und keine
ist mit ihm vollständiger durchgedrungen, als die der Welt-
hauptstadt, von der die Völker nun schon einmal ihre Gesetze
zu erhalten gewohnt waren, die römische. Sie war nicht allein
im Abendlande die einzige , welche sich eines apostolischen
Ursprungs rühmen konnte: sie führte auch ihre Stiftung auf
die zwei grössten Apostel, Paulus und Petrus, zurück, und
ihre Bischöfe wollten desshalb nicht allein Nachfolger der
Apostel in ihrem Amte, sondern auch Nachfolger des Petrus
in seinem Primat sein. Schon gegen das Ende des zweiten
und im Laufe des dritten Jahrhunderts gelangt dieser An-
spruch im Abendland allmählich zur Anerkennung, und es wird
so im Glauben der Völker der Gnind gelegt, auf dem in der
Folge, unter der Gunst der Verhältnisse, die päpstliche Macht
aufgebaut wuide. In Wahrheit ist freilich die römische Kirche,
wie bemerkt, weder von Paulus noch von Petrus gestiftet worden,
ja Petiiis ist sicher niemals nach Rom gekommen. Nicht die
apostolische Stiftung, sondern die politische Bedeutung Rom's.
ist es, welcher die römische Kirche ihre hohe Stellung zu ver-
danken hat, und nur weil man in Rom schon frühe dieser
massgebenden Bedeutung der eigenen Gemeinde sich bewusst
wurde, hat die römische Sage die beiden Apostel am Schluss ihres
Lebens zu gemeinsamem Märtyrertod hier zusammengeführt,
und in der Folge den Apostelfürsten Petrus sogar zum Stifter
und ersten Bischof der römischen Kirche erhoben. Dem da-
maligen kirchlichen Bewusstsein musste sieh aber die Sache
freilich anders darstellen: wenn die Gemeinde der Weltstadt
unter allen Christengemeinden die erste. Stelle einnahm, so
musste sie auch von den ersten unter den Aposteln ge-
stiftet sein.
24*
372 I>ie Tübinger
Mit dieser Ausbildung der kirchlichen Verfassung und
Auktorität steht nun die Entwicklung des Dogma in einer
merkwürdigen Wechselbeziehung, iffie das Bedürfhiss einer
festen Glaubensnorm der Haupthebel für die Steigerung der
bischöflichen Macht und der kirchlichen Einheit, für den Fort-
schritt der Kirche zur Katholicität war, so spiegelt sich an-
dererseits in dem Inhalt der kirchlichen Lehre das Bewusst-
sein der Kirche über sich selbst ab, und wenn wir die Geschichte
derselben genauer verfolgen, so können wir deutlich wahr-
nehmen, wie sie nur dasselbe ideal, für die Anschauung der
Gemeinde , ausdrückt , was in den gegebenen Zuständen als
ein reales vorhanden ist, wie jeder neuen Stufe in der Lehr-
bildung eine Veränderung in den thatsächlichen Verhältnissen
der Kirche, in ihrer Macht und ihrer Verfassung entspricht.
Der Mittelpunkt der christlichen Dogmatik, die Lehre, welche
noch alle anderen in sich schliesst und zu keiner selbständigen
Entwicklung kommen lässt, ist in den ersten Jahrhunderten
die Lehre von der Person Christi. Gerade von ihr gilt aber
im strengsten Sinn der Kanon, dass das Dogma nur ein Reflex
des unmittelbaren religiösen Bewusstseins ist. Die Kirche im
ganzen und jede Parthei in derselben hat dem Stifter des
Christenthums jederzeit genau diejenigen Eigenschaften bei-
gelegt, deren er ihrer Meinung nach bedurfte, um Urheber
der eigenthümlichen Segnungen zu sein, die vom Christenthum
erwartet wurden. Worin aber diese gesucht wurden, und
welche Vorstellungen man sich demnach über Christus bildete,
diess musste natüi'lich ganz und gar von der Beschaffenheit
des jeweiligen religiösen Bewusstseins abhängen, und es ver-
hielt sich in dieser Beziehung von Anfang an nicht anders,
als es sich heute noch verhält. So lange man im Christen-
thum nicht mehr sah, als die Vollendung des Judenthums,
genügte der christlichen Gemeinde, um die Würde ihres Stif-
ters zu bezeichnen, die jüdische Vorstellung vom Messias: er
war ein Mensch wie* andere Menselien, wenn auch ein wunder-
bar erzeugter, mit dem göttlichen Geist im höchsten Mass
ausgerüsteter Mensch, er war nur der grösste von den Pro-
■I*
historische Schule. 373
pheten. So in unsern drei ersten Evangelien; so trotz der
gesteigertsten Messiasprädikate in der Offenbaioing des Johan-
nes. Als Paulus das Christenthum vom Judenthum losriss^
um in ihm eine selbständige Macht, das letzte Ziel und den
ursprünglichen Zweck der ganzen Menschheit zu erkennen, da
überschritt er sofort auch den jüdischen Messiasbegriflf ; Christus
wurde ihm aus einem idealen Repräsentanten des jüdischen
Volkes zum Ideal der Menschheit, aus einer einzelnen, erst
im Verlauf der Geschichte in's Leben getretenen Erscheinung,,
zum schöpferischen Princip des Ganzen, zur Voraussetzung
aller Geschichte: er beschrieb ihn als den Urmenschen, den
himmlischen oder pneumatischen Menschen, welcher schon vor
seinem irdischen Leben präexistirt habe, durch welchen Gott
alles in's Werk setzte. In demselben Masse sodann, wie die
christliche Kirche zum sicheren Gefühl ihrer selbständigen
Eigenthümlichkeit und ihrer universellen Bestimmung kam,
wie sie sich äusserlich über die ganze römische Welt ver-
breitete, innerlich sich durch den Episkopat organisirte und
allen abweichenden Partheien gegenüber sich als katholische
Kirche zusammenfasste , sehen wir auch die paulinische Vor-
stellung über Christus sich verbreiten und gleichzeitig zu einer
noch höheren fortschreiten; im Ebräerbrief, in den kleineren
paulinischen Briefen, bei Pseudoignatius und Justin lässt sich
dieser aufeteigende Gang des Dogma bis zu dem Punkte ver-
folgen, auf dem es in der Lehre des vierten Evangelisten vom
Wort Gottes zu einem vorläufigen Abschluss gelangte. Be-
merkenswerth ist dabei einerseits der Einfluss, welchen die
philonische Theorie vom Logos, und durch diese die griechische
Philosophie, auf die Fassung der christlichen Grundlehre er-
hielt, andererseits der enge Zusammenhang, in welchen die
Christoiogie schon von dem angeblichen Ignatius mit seiner
Idee vom Episkopat gebracht wird: je höher Christus steht,
um so höher steht auch der Stellvertreter Christi, der Bischof;
das hierarchische Interesse , wenn es auch bei der christologi-
sehen Entwicklung nicht das entscheidende gewesen ist, war
doch dabei schon frühe mit im Spiel, und es ist insofern
>T
Y7\
374 Die Tübinger
schwerlich ganz zufällig, dass auch im Vierten Jahrhundert
ein Presbyter, Arius, es war, welcher die äussei-ste Steigerung
der Lehre von der Göttlichkeit Christi bekämpfte und eine
Versammlung von Bischöfen, welche sie dui'chsetzte (Baur a. a.
O. 363). Denn auf die Dauer konnte man sich bei jener Lehr-
form, welche das vierte Evangelium darstellt, doch nicht be-
ruhigen. Wie liess sich ein zweites göttliches Wesen neben
Gott denken, ohne den Grundsatz des Monotheismus zu ge-
fährden? wenn andererseits jenes Wesen dem höchsten Gott
untergeordnet wurde, wie diess bis zum Anfang des vierten
Jahrhunderts allgemein, und so namentlich auch in den neu-
testamentlichen Schriften geschieht, mit welchem Recht liess
es sich doch zugleich als ein göttliches Wesen betrachten,
und inwiefern konnte es dem Bedürfiiiss gentigen, eine volle
Einigung des Menschen mit Gott zu vermitteln? Wie tief
diese Fragen die alte Kirche beschäftigt haben, zeigt die Ge-
schichte der Christologie. Nur in langsamem Fortschritt,
unter fortwährenden Kämpfen mit den „Monarchianem", welche
Christus bald zur menschlichen Natur eines blossen Propheten
herabsetzten, bald umgekehrt seine persönliche Vei-schiedenheit
von Gott läugneten, hat sich die kirchliche Lehi*e entwickelt.
Wo aber diese Entwicklung hinfuhren würde, konnte längst
nicht mehr zweifelhaft sein. Nachdem man einmal begonnen
hatte, den Stifter des Christenthums zu übermenschlicher
Natur und Würde zu erheben, konnte diese Bewegung nicht
eher zur Ruhe kommen, als bis das Interesse, von dem sie
ausgieng, der unendlichen Bedeutung des Christenthums in ihm
sich bewusst zu werden, die durch ihn gestiftete Gemeinschaft
des Menschen mit Gott in seiner Person als eine absolute an-
zuschauen, vollkommen befriedigt war. Diess konnte es aber
nur dann sein, wenn er in einem Verhältniss zu Gott stand,
welches keine Steigerung mehr zuliess, wenn er selbst Gott
im vollen Sinne des Wortes war. In demselben Zeitpunkt
daher, in welchem die christliche Religion die^errschaft über
das römische Reich in Besitz nahm und sich so als die absolute
Religion verwirklichte, erhob sie auch ihren Stifter zur Ab-
historische Schule. 375
solutheit: die erste allgemeine Kirchenversammlung , die erste
Oesammtvertretung des christlichen Episkopats war es, welche
xinter der Leitung des ersten christlichen Kaisers die Wesens-
gleichheit Christi mit Gott dem Vater, eine Lehre von sehr
jungem Ursprung, als kirchliches Dogma verkündete.
Die Vorgänge, durch welche das Christenthum bald nach
dem Anfang des vierten Jahrhunderts zur römischen Reichs-
religion geworden ist, das frühere wechselnde Verhältniss des-
selben zur Staatsgewalt, die Geschichte der Christenverfol-
gungen, von denen man sich gewöhnlich so schiefe und
übertriebene Vorstellungen macht, die literarischen Angriffe
heidnischer Schriftsteller auf die christliche Religion und ihre
Vertheidigung durch die christlichen Apologeten können hier
nicht dargelegt werden. Auch auf den letzten Abschnitt des
bäurischen Werkes über die drei ersten Jahrhunderte: „das
Christenthum als sittlich-religiöses Princip", will ich hier nicht
näher eingehen, so belehrend es auch an sich wäre, sich die
sittlichen Zustände der altchristlichen Kirche nicht blos nach
ihren Lichtseiten, sondern auch nach ihren meist viel zu wenig
beachteten Schattenseiten von ihm schildern zu lassen, und
schon in jenen ersten Jahrhunderten die Keime so mancher
Erscheinungen nachzuweisen, in deren späterer Entwicklung
die protestantischen Kirchenhistoriker in der Regel nur einen
Abfall von der Reinheit des ursprünglichen Christenthums zu
sehen wissen. Dagegen soll die geschichtliche Entwickelung
der Kirche während der nächsten Jahrhunderte und Baur's
Behandlung derselben noch in der Kürze berührt werden.
Es ist diess die Zeit, in welcher das Christenthum die
Staatsreligion des römisch -griechischen Kaiserreichs war, zu
seiner Herrschaft unter den germanischen Völkern dagegen
und zu der eigenthümlichen kirchlich-politischen Gestaltung der
abendländischen Welt erst der Grund gelegt wurde. Der
Kampf mit dem Heidenthum war jetzt innerhalb des römischen
Reichs entschieden, und die kaiserlichen Edikte brachten ihn
auch äusserlich zum Abschluss.; auch der Versuch einer philo-
sophisch-religiösen Restauration des Heidenthums unter Julian's
1 •
376 I>w Tübinger
kurzer Regierung war nur eine vorübergehende Episode.
Gleichzeitig trat von den geimanischen Stämmen, welche das
römische Westreich unter sich theilten, ein^r nach dem andera
in den Kreis der Kirche ein; wobei es als eine eigenthümliche
Fügung oder, wie wir auch sagen können, als ein Beweis von
Chlodwig's politischem Schartblick erscheint, dass die Franken
von Anfang an dem katholisch - orthodoxen Glauben zugethan
waren , und dadurch mit Rom in engere Verbindung kamen,
während alle andern Germanen zuerst dem Arianismus hul-
digten. So leicht aber diese Eroberungen der Kirche seit
Constantin's üebertritt wurden, so bedeutend stand ihr fort-
während die geistige Macht des Heidenthums gegenüber. Von
den schiiftstellerischen Angrififen eines Julian fieilich hatte sie
noch weit weniger, als von seinen politischen Massregeln zu
fürchten, der Polytheismus von seiner neuplatonischen Um-
deutung der Mythologie und von den christlichen Ideen, welche
er griechischen Göttergestalten unterlegte, nichts zu hoffen;
gegen das Römerthum wurde die christliche Religion von
Augustin in seinem grossen Werke vom Gottesstaat geistvoll
und für die damalige Zeit glänzend vertheidigt. Weit schwie-
riger war es dagegen, zwei Systeme von heidnischem Ursprung,
den Piatonismus und den Manichäismus, nicht blos als Gegner
abzuwehren, sondern auch vor ihrem Eindringen in die christ-
liche Theologie sich zu schützen. Der Piatonismus, oder das was
man damals Piatonismus nannte, war von Anfang an in einer
eigenthümlichen Beziehung zum Christenthum gestanden. Schon
zu der ersten Entstehung desselben hatte er ohne Zweifel durch
Vermittlung der alexandrinischen Theologie und des Essäismus
seinen Beitrag geliefert. In der Folge hatte er nicht allein auf die
häretische Gnosis und durch sie auf die Gesanmitkirche höchst
bedeutend eingewirkt, sondern auch die Vertreter der kirch-
lichen Wissenschaft waren grösstentheils , und gerade die be-
deutendsten unter denselben am unverkennbarsten, bei dem
alexandrinischen Piatonismus in der Lehre gewesen. Als sodann
seit dem dritten Jahrhundert die neuplatonische Schule alle noch
lebensfähigen Elemente der griechischen Philosophie zu einem
^ I [■*
Mstorisclie Schule. 377
umfassenden, von Plato's ursprünglicher Lehre freilich ziemlich
weit abliegenden System verknüpfte und alle andern Schulen
in sich aufzehrte, trat sie zwar zunächst als die letzte und
bedeutendste Vorkämpferin des alten Glaubens der christ-
lichen Kirche feindselig entgegen; zugleich waren sich aber
beide, das Christenthum und der Neuplatonismus , innerlich
viel zu nahe verwandt, als dass nicht eine gegenseitige An-
ziehung und Einwirkung zwischen ihnen hätte Platz greifen
sollen; wozu noch hinzukommt, 3ass die Christen eine höhere
wissenschaftliche Bildung nur in den Schulen der griechischen
Gelehrten finden konnten. Diese huldigten aber bald alle,
Khetoren, Grammatiker und Philosophen, dem Neuplatonismus.
So geschah es, dass diese Philosophie die allgemeine Voraus-
setzung der christlichen Theologie wurde, denn einer Philosophie
bedurfte man nun einmal, und eine andere hatte man nicht
zur Verfügung. Auch die orthodoxesten Kirchenlehrer konnten
sich diesem Einfluss nicht entziehen, und in den dogmatischen
Verhandlungen des vierten und fünften Jahrhunderts, sogar
in den Glaubensbekenntnissen^ welche sich aus jener Zeit in
die unsrige vererbt haben, lassen sich die neuplatonisch-
aristotelischen Kategorieen, an welche man damals gewöhnt
war, noch deutlich erkennen. Selbst wo diese Philosophie mit
der kirchlichen Dogmatik in Konflikt kam, wurde ihr oft mehr
eingeräumt, als man glauben sollte. Der christliche Neupia-
toniker Synesius z. B. wurde zum Bischof von Ptolemais ge-
wählt und von dem sonst so hierarchisch gesinnten Patriar-
chen Theophilus in Alexandiien als solcher bestätigt, wiewohl
er offen erklärte, dass er Dinge, wie die Aufei-stehung des
Leibes und der einstige Weltuntergang, nicht glauben könne,
dass er sich zwar dem Volke gegenüber an die Mythen, für
sich selbst dagegen an die Philosophie halten wolle. Am
schlagendsten zeigt sich aber der Einfluss, welchen der Neu-
platonismus auf die christliche Kirche gewann, und seine Ver-
wandtschaft mit dem damaligen Christenthum an den Schrif-
ten, welche ein christlicher Neuplatoniker um den Anfang des
sechsten Jahrhunderts unter dem Namen des Areopagiten Dio-
'^*'.,
378 Die Tübinger
nysius, des von Paulus bekehrten angeblichen ersten Bischofs
Ton Athen verfasst hat. Die Theologie dieser Schriften ist
beim Lichte betrachtet ungleich mehr platonisch als christ-
lich: selbst die Grundlehren von der Dreieinigkeit und der
Menschwerdung Gottes finden hier im Grunde nur dem Namen
nach eine Stelle. Nichtsdestoweniger sind die Werke des
Areopagiten von Anfang an als acht anerkannt worden; in
der östlichen Kirche rasch verbreitet, später auch in die
abendländische tibergetragen, bildeten sie eine von den gel
feiertsten Auktoritäten der mittelalterlichen Theologie; sie
waren namentlich das Lieblingsbuch und die Hauptquelle der
spekulativen Mystik, welche in jenen Jahrhunderten eine so
bedeutende Rolle spielt, ja bis auf unsere Zeit herab erstreckt
sich durch Vermittlung katholischer und protestantischer Mystiker
ihr Einfluss. So viel abstossendes auch ihr Inhalt für die
Orthodoxie hätte haben sollen : ihre Lehre von der himmlischen
Hierarchie der Engel und von der ihr nachgebildeten irdischen
Hierarchie entsprach theils der unbewusst polytheistischen
Neigung jener Zeit, theils dem Interesse des Klems viel zu
sehr, sie hatte in der herrschenden Denkweise viel zu feste
Anknüpfungspunkte, als dass man nicht darüber alles andere
bereitwillig vergessen hätte. — Weit feindseliger verhielt sich
die Kirche zum Manichäismus ^ diesem aus der persischen Re-
ligion und dem Buddhismus in's Ghiistenthum eingedrungenen
und dann mehr und mehr christianisirten Dualismus, der aber
seinen Ursprung doch nie ganz verläugnen konnte. Augustin
und andere Eirchenhäupter kämpften bis aufs äusserste gegen
die Manichäer, Synoden wurden gegen sie abgehalten, die
Staatsgewalt — so weit war man nun schon längst — zu ihrer
Unterdrückung aufgerufen: die ersten Häretiker, welche hin-
gerichtet worden sind, waren spanisdie Priscillianisten, ein Sei-
tenzweig der Manichäer (denn Spanien, scheint es, war schon
damals vom Schicksal bestimmt, mit dem Beispiel der Eetzer-
verfolgung voranzuleuchten). Und dennoch war die Einwirkung
des Manichäismus auf die Kirche höchst bedeutend, und es
sind nicht blos jene mittelalterlichen , für die ganze Kiixhen-
historische Schule. 379
geschichte so wichtigen Partheien der Katharer, Albigenser
u. s. w., welche mit dieser Häresie in offenkundigem Zusam-
menhang stehen, sondeni auch die kirchliche Dogmatik hat
ohne Zweifel mehr, als sie weiss, von ihr entlehnt. Denn der
bedeutendste Begründer der späteren Theologie, der heilige
Augustinus, hat viele Jahre lang der manichäischen. Sekte an-
gehört; und wenn er sich nachher von ihi* losgesagt und sie
im Namen der Kirche aufs lebhafteste bestritten hat, so folgt
doch daraus nicht im geringsten, dass er auch in sich selbst
alle Nachwirkungen seiner früheren Ueberzeugung getilgt
hatte. Gerade in der Lehre vielmehr, durch welche er in
der Geschichte der Theologie Epoche gemacht hat, in seiner
Lehre von der Sünde und der Gnade, glauben wir diese Nach-
wirkungen recht deutlich zu erkennen, und mit demselben
Recht und in demselben Sinn , wie wir einen Clemens und
Origenes kirchUche Gnostiker nennen, würden wir Augu-
stin's System als einen kirchlich gewordenen Manichäismus
bezeichnen dürfen.
Dieses System bildet den anziehendsten und wichtigsten
Punkt in der Geschichte der Theologie vom 4. bis zum 6.
Jahrhundert. Diese Periode ist bekanntlich vor allen andern
durch lebhafte dogmatische Streitigkeiten, langwierige Ver-
handlungen und kirchliche Glaubensgesetze ausgezeichnet ; und
namentlich ihre erste Hälfte, von der nicänischen bis zur
chalcedonensischen Kirchenversammlung, ist die Zeit, in welcher
die Hauptlehren des kirchlichen Glaubens: von der Dreieinig-
keit und der gottmenschlichen Natur Christi, von der mensch-
lichen Sündhaftigkeit und der göttlichen Gnade, zum Ab-
schluss gebracht wurden. Dabei hat sich der Osten und der
Westen in die dogmatischen Aufeaben der Zeit in bezeichnen-
der Weise getheilt. Während jener ganz und gar durc);i die
Verhandlungen über die Dreieinigkeit und die Person Christi
in Anspruch genommen ist und das übrige kaum irgend einer
Aufinerksamkeit würdigt, liefert umgekehrt die abendländische
Kirche für diese Erörterungen im ganzen kaum einen selb-
ständigen Beitrag, und nur in einzelnen entscheidenden Mo-
historische Schule. 381
dejitung hervorhebt, welche die orthodoxen Lehrbestimmungen
für die Einheit und Unabhängigkeit der Kirche, für die Sache
der Katholicität und der Hierarchie hatten. Ausführlicher be-
spricht er (S. 123 — 216) die augustinische Lehre von der
Sünde und Gnade, die pelagianische Opposition gegen die-
selbe und den sogenannten Semipelagianismus, dem aber nach
seiner richtigen Wahrnehmung auch eine Milderung der augu-
stinischen Sätze, ein Semiaugustinismus, zur Seite geht. Gerade
hier war aber auch zur Feststellung der richtigen Gesichtspunkte
noch besonders viel zu thun. Augustin's Lehre ist von den
protestantischen Theologen von Anfang an und bis auf den
heutigen Tag herab desshalb in ein falsches Licht gertickt
worden, weil sie viel zu unbedingt mit der altprotestantischen
identificirt wurde. So entsteht aber das Unbegreifliche, dass
derselbe Mann, welchen die katholische Kirche mit Recht als
einen ihrer grössten Kirchenfürsten und als den Hauptbe-
gründer der abendländischen Theologie im Mittelalter verehrt,
welcher im Kampfe mit Häretikern und Schismatikern den acht
katholischen Standpunkt so streng und eifrig gewahrt hat, —
dass eben dieser Mann in seiner epochemachenden dogmati-
schen Thätigkeit die protestantischen Grundsätze verfochten,
dass sich die katholische Kirche auf dem Grunde derselben
Ueberzeugungen auferbaut haben soll, durch welche Luther
und Calvin diese Kirche in einem grossen Theil der christ-
lichen Welt gestürzt haben. Kann man sich zu einer so un-
wahrscheinlichen Annahme nicht entschliessen, will man über-
haupt den grossen afrikanischen Kirchenlehrer, dessen klein-
ster Fehler der Mangel an hierarchischer Folgerichtigkeit war,
in der Einheit seines Wesens und in dem Zusammenhang
seines vielseitigen Wirkens veratehen, so wird man vor allem
fragen müssen, ob jene Sätze, welche die Protestanten freilich
dem Buchstaben nach von ihm entlehnt haben, für ihn auch
die gleiche Bedeutung, wie für sie, hatten. Und da zeigt sich
denn bald, was wir in der Dogmengeschichte so oft wahr-
nehmen können, und was von den meisten so wenig beachtet
wird, dass die gleichen oder nahe verwandte dogmatische
r «.^
382 I>ie Tübinger
Formeln bei verschiedenen einen sehr verschiedenen - Sinn h^-
ben und ganz entgegengesetzten Interessen dienen können.
Bei Augustin hat die Lehre von der natürlichen Unfähigkeit
des Menschen zum Guten und von der allein wirkenden Gnade
Gottes nicht die Bedeutung, wie im Protestantismus, den Men-
schen in der Kraft seines Glaubens auf Gott allein zu stellen»
und ihn ebendamit von jeder menschlichen Bevormundung in
Glaubenssachen, von Glaubenszwang und Hierarchie zu be-
freien; er will nicht desshalb der Gottheit gegenüber auf alles
Verdienst und alle Freiheit verzichten, um eben diese Freiheit
den Mensehen gegenüber desto reiner und unbedingter zu be-
haupten. Sondern wenn er dem Menschen vorhält, dass et
von Natur grundverdorben sei und durch sich selbst nichts^
vermöge, so will er ihn damit nur antreiben, um so mehr alles
von der Kirche zu hoffen, ihr gegenüber jedes eigene ür-
theil aufzugeben; wenn er alles Gute von der Gnade her-
leitet, so setzt er dabei voraus, dass die Gnade durch die
kirchlichen Heilsmittel wirke; wenn er die Menschheit in die
Minderzahl der Erwählten und die grosse Mehrheit der Ver-
worfenen scheidet, so versteht es sich für ihn von selbst, dass
kein Ungetaufter und kein Häretiker, dass nur Mitglieder der
katholischen Kirche zu den Erwählten gehören können. Die
gleichen Sätze, welche einem Luther und Zwingli, einem
Wicleff und Huss dazu dienten, die Allgewalt der Kirche und
des Klerus zu brechen, dienen einem Augustin dazu, sie zu
befestigen. Desshalb hat denn auch die Kirche seiner Lehre,,
so weit sie immer über die bisherige Ueberlieferung hinaus-
gieng, und so bedenklich sie in vielen Beziehungen erscheinen
musste, doch sofort ihre Beistimmung geschenkt. Zugleich hat
sie aber auch den sogenannten Semipelagianismus fortwährend
geduldet, und dem Augustinismus selbst in ihren massgeben-
den Erklärungen seine äussersten Spitzen abgestumpft; denn
so entschieden es in ihrem Interesse lag, dass der ausser-
christUchen Menschheit jede sittliche Kraft abgesprochen, dass
alles Gute und alle Hoffnung auf die Seligkeit ausschliesslich
an die tirchMchen Gnadenmittel geknüpft werde, so wenig
■^Ä*^~ -C^
historische Schale. 38$
konnte sie doch andererseits eine solche Auffassung der augu^
stinischen Sätze gutheissen, bei welcher auch flir die Mitglie-^
der der Kirche der Nutzen und das Verdienst der guten
Werke aufgehoben, die kirchlichen Heilsmittel gegen die gött-
liche Vorherbestimmung zurückgestellt, die Unfehlbarkeit der
kirchlichen Entscheidungen und die Vollkommenheit der Hei-
ligen durch die Erinnerung an die Sündhaftigkeit aller Men-
schen unmöglich gemacht worden wäre. Die Folgerungen^
welche sich aus Augustin's Voraussetzungen unweigerlich er-
geben, durften nicht gezogen, neben seinen Annahmen mussten
auch die entgegengesetzten geduldet und benützt , die dogma-
tische Folgerichtigkeit musste dem praktischen Bedtirfniss und
dem kirchlichen Interesse zum Opfer gebracht werden. Wenn
daher die mittelalterliche Theologie mit Augustinismus be-
gonnen hat, um im Semipelagianismus zu enden, so erklärt
sich diess sehr einfach: das, was wir pelagianisch nennen, ist
eben nicht allein bei den Zeitgenossen Augustin's, sondern ea
ist auch in ihm selbst weit mächtiger, als man wenigstens auf
protestantischer Seite in der Regel geglaubt hat.
Und wie jenes kirchlich-katholische Interesse die Dogmen-
bildung beherrscht und selbst in den Vorstellungen über Gott
und Christus sich ausgeprägt hat, so sehen wir überhaupt die
christliche Kirche, seit sie in Constantin das Römen-eich er-
obert hat, sich mehr und mehr zur Einheit zusammenfassen
und sich zu einem auch äusserlich mächtigen Gemeinwesen
gestalten. Jene hohe Idee der Kirche, welche namentlich
Augustin gegen die donatistischen Schismatiker entwickelt hat,
wird unbedenklich und uneingeschränkt auf die bestehende
katholische Kirche übertragen, und wenn man sich auch nicht
verbergen kann, dass vieles an ihr ist, was der Idee nicht ent-
spricht, dass die Heiligkeit der Kirche durch so viele ihrer
Mitglieder in Frage gestellt wird, so lässt man sich doch da-
durch in dem Glauben an die Vollkommenheit des Ganzen
nicht irre machen. In der kirchlichen Anerkennung sieht man
die sicherste Bürgschaft für die Wahrheit einer Lehre, denn
was von allen geglaubt wird, das kann, wie diess z. B. Vin-
inger
lerUhmten Commomtoriiim zu
ler Ueberlieferung, aus gött-
Die Aussprüche der Kirche
in Augustin sich nicht scheut,
Svangelium würde er glaubeu,
Kirche ihn dazu bestimmte.
Verhandlungen oft zi^ei^,
sr Kirche herheigefohrt wurde,
viel bei den EirchenmäQuem
und Beweggillnde bei jenen
itten, so unkirchlich und un-
ui'ch welche ihre Anerkennung
e der kirchlichen Einheit war
lie ganze Zeit war im religiö-
«ren Leitung zu bedürftig, als
)etretenen Wege wieder hätte
ölkem , welche seit Jahrhun-
ä römischen Kaiserreichs ge-
ten, aller sittlichen Selbstbe-
ilter, bUeb der Welt nichts
ikten Auktorität willentos zu
icht der Kirche zu begeben,
i beherrschende Stellung ihrer
1 und sich durch- eine Periode
isten Mittelpunkt für künftige
e Geschichtsforschung recht-
, indem sie dieselbe in ihrer
begreift, sie rechtfertigt aber
ihe sie nicht länger aufrecht
ichichtlichen Zustände, dui'ch
re geworden sind,
welche der Kirche zuerkannt
der Klenis; und schon frühe
: ursprünglichen Verhältnisse
[er als die Kirche im engereu
bilden jetzt ein Fatiiciat mit
historische Schule. 385
eigenem Standesgeist, eigenen Standeseinrichtungen und Ab-
zeichen, dessen Glaubens- und Sittengesetzen, dessen geist-
licher Gerichtsbarkeit und Kirchenleitung die Plebejer, die
Laien, sich unbedingt zu unterwerfen haben, durch dessen
Vermittlung allein sie die Vergebung der Sünden und alle
göttlichen Gnadengüter erhalten können. Aus der Masse der
Kleriker hatte sich aber schon vor dem Beginn des vierten
Jahrhunderts der Episkopat zu einer solchen Höhe emporge-
hoben, dass die übrigen Kleriker ihrerseits wieder zu den Bi-
schöfen in dasselbe Abhängigkeitsverhältniss traten, wie die
Laien zum Klerus im ganzen. Nur die Bischöfe sind es,
welche auf den Synoden die Gesammtkirche darstellen, nur
sie haben die kirchliche Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und
Verwaltung in der Hand, nur sie können im Namen des hei-
ligen Geistes über den Glauben der Kirche entscheiden. In-
dessen wachsen sehr schnell und mit immer bedeutenderen
Rechten die Bischöfe der Provincialhauptstädte, oder die Me-
tropolitane, über ihre Mitbischöfe hinaus, und über diese wieder
die fünf (bzw. sieben) Patriarchen, die Bischöfe der wichtigsten
Hauptstädte des Reichs. Von diesen selbst treten dann wieder
zwei vor den andern hervor: der Bischof von Rom und der
Bischof von Neu-Rom, von Konstantinopel. Auch ihre Macht-
verhältnisse und Aussichten waren freilich in Wahrheit sehr
ungleich. Der Patriarch von Konstantinopel hatte neben sich
die Patriarchen von Alexandrien und Antiochien, welche sich
ihm unterzuordnen nicht geneigt waren, über sich in unmittel-
barster Nähe den Kaiser; er konnte es auch nach der muha-
medanischen Eroberung, welche seine orientalischen Neben-
buhler unschädlich machte, nicht weiter bringen, als zum
höchsten geistlichen Würdenträger eines verkommenden Reiches.
Rom dagegen stand ohne Nebenbuhler im Abendland da; die
politische Abhängigkeit von Konstantinopel war immer nur
eine bedingte und vorübergehende; und während das Patriar-
chat von Neu-Rom seine Ansprüche nur auf die VoiTCchte der
Residenz gründen konnte, wies es selbst einen so weltlichen
Ursprung der seinigen beharrlich ab, um sich statt dessen auf
Zeller, Vorträge und Abhandl. 25
historische Schule. 387
in demselben Masse , wie die äussere Ausbreitung der Kirche,
der Glanz ihrer Stellung, die Macht ihrer Diener, die Masse
der kirchlich festgestellten Lehren, die Pracht und Mannig-
faltigkeit des Gottesdienstes zunahm, hat die Reinheit des
sittlichen, der Ernst und die Lauterkeit des religiösen Lebens
abgenommen. Ja noch mehr: sie hat gerade desshalb abge-
nommen, weil das andere zunahm. Auch die früheren Jahr-
hunderte waren zwar keinesw^s jenes goldene Zeitalter der
Frömmigkeit, wofür sie nicht selten gehalten werden, und auch
in unserer Periode lassen sich die wohlthätigen Wirkungen
des Christenthums in vielen Erscheinungen nachweisen. Aber
im ganzen lässt sich nach dieser Seite hin eine rasche und
bedenkliche Verschlimmerung nicht verkennen. In den gottes-
dienstlichen Handlungen nimmt eine Aeusserlichkeit überhand,
welche gegen die Einfalt und Innigkeit des ursprünglichen
Christenthums auffallend absticht. Die Sacramente werden
mehr und mehr zu unverstandenen Mysterien, welche nicht
durch den frommen Sinn, mit dem sie gefeiert werden, son-
dern duixh sich selbst wirken sollen, und je höher die Vor-
stellungen vom Abendmahlsopfer und von der Taufe sich
steigern, je glänzender der Schein ist, welcher von ihnen auf
die Priester zuiilckf ällt , um so allgemeiner wird auch eine
magische Auffassung und eine äusserlich abergläubische Be-
handlung derselben. In der Heiligenverehrung mit allem, was
von Reliquiendienst, Wallfahrten und Wunderlegenden daran
hängt, wird ein Element in den christlichen Kultus aufge-
nommen, über dessen religiösen Werth verschiedene verschie-
den urtheilen werden, bei dessen geschichtlicher Wüi-digung
aber sein Zusanunenhang mit dem Polytheismus und den heid-
nischen Religionsgebräuchen sich nicht verkennen lässt; und
je bedeutender dieses Element für das religiöse Leben jener
Zeit und der folgenden Jahrhunderte geworden ist, um so
klarer liegt auch am Tage, was eine natürliche Betrachtung
der Dinge zum voraus nicht anders erwarten wird, dass auch
das Christenthum die Menschen, ihre Vorstellungen und Sitten
nicht mit einemmal verwandeln, dass es die heidnische Welt
25*
^
Mstorisclie Schule. 389
ihren Bedürfnissen entsprach, desshalb verurtheilt werde, weil
es mit unsem Begriffen, Gewohnheiten und Zuständen nicht
mehr übereinstimmt.
Die Pflicht dieser geschichtlichen Gerechtigkeit nach beiden
Seiten hin gegen das Christenthum und die christliche Kirche
zu üben, von ihrer Entstehung und ihrer Entwicklung ein
möglichst treues, dem wirklichen Thatbestand entsprechendes,
mit dem geschichtlich möglichen und wahrscheinlichen über-
einstimmendes Bild zu gewinnen, diess ist die Aufgabe, welche
die „Tübinger Schule" sich gesetzt hat. Die Natur ihres
Gegenstandes brachte es mit sich, dass sie hiebei sich zu-
nächst kritisch verhalten, dass sie viele allgemein herrschende
Annahmen bestreiten, manche festgewurzelte Ueberzeugung
verletzen musste. Aber wer ihre Arbeiten, und wer nament-^
lieh die letzten Werke ihres Stifters mit unbefangenem Auge
betrachtet, der wird sich leicht überzeugen, dass ihr letztes
Ziel das rein positive der geschichtlichen Erkenntniss ist, und
wie weit auch über ihre einzelnen Ergebnisse die Ansichten
auseinandergehen mögen, die Anerkennung wird man ihr nicht
versagen dürfen, dass ihre leitenden Grundsätze nur dieselben
sind, welche ausserhalb der Theologie die ganze deutsche Ge-
schichtschreibung seit Niebuhr und Ranke beherrschen.
Ferdinand Cäuistian Baur. 391
hegerschen Religionsphilosophie, und aus dem ganzen Stand-
punkt der neueren Wissenschaft überhaupt, für die christliche
Religion, ihre Geschichte und ihre heiligen Schriften zu er-
geben schienen; sie verlangte, dass über die Wahrheit der
Lehren, über die Richtigkeit der Ueberlieferungen, einzig und
allein nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten entschieden,
dass die Kritik, welcher selbst ein so hervorragend kritischer
Kopf, wie Schleiermacher, immer wieder die gefährlichsten
Spitzen umgebogen hatte, rücksichtslos durchgeführt, in das
Verhältniss des positiven Glaubens zur Wissenschaft die vollie
Klarheit gebracht werde. Je nachdrücklicher aber diese Min-
derheit vorwärts drängte, um so sehnsüchtiger wandte die über-
wiegende Mehrheit der Theologen, gleich unfähig, jenen zu
folgen und sie wissenschaftlich zu widerlegen, ihre Blicke
rückwärts. Jene dämmernde Unbestimmtheit, jene gemüth-
liche oder scholastische Halborthodoxie, bei welcher sich bis-
her die meisten so wohl befunden hatten, wurde immer un-
möglicher. Die Mittelparthei, wie sie sich aus der Fusion von
ehemaligen Rationalisten und Supranaturalisten, aus der hegel'-
schen Rechten, vor allem aber aus der zahlreichen schleier-
macher'schen Schule gebildet hatte, verlor Schritt für Schritt
den Boden unter den Füssen; das heranwachsende Ge-
schlecht begann sich von diesem „überwundenen Standpunkte"
abzuwenden , und sich seiner Mehrzahl nach unter der Fahne
der Orthodoxie und der confessionssüchtigen Hyperorthodoxie
zu sammeln, welche unter dem ausgiebigen Schutze reaktio-
närer Regiemngen bald aller Orten üppig aufschoss; die ehr-
geizigen und herrschsüchtigen, die schwachen und auktoritäts-
bedürftigen unter den Anhängern der bisherigen Partheien
wussten sich oft wunderbar schnell von der Nothwendigkeit
des „Fortschiitts" von Schleiermacher zu Calov, von Hegel
zur Concordienformel , zu überzeugen; und bald genug hatte
man in den weitesten Kreisen auch praktisch zu erfahren,
was es heisst, wenn dogmatische Fanatiker und unduldsame
Hierarchen die Leitung von Kirche und Staat in die Hand
bekommen. In der neuesten Zeit hat nun allerdings der
Ferdinand Christian Baur. 393
man bei dem Bilde eines Mannes verweilen, der gerade in
dieser Beziehung in der jüngsten Vergangenheit ganz einzig
dasteht. Und das um so mehr, wenn sich in diesem Bilde
zugleich ein bedeutender, und seinem Gehalte nach vielleicht
der wichtigste Abschnitt aus der Geschichte der neuesten
Theologie zur Anschauung bringt; und wenn andererseits den
wissenschaftlichen Leistungen persönliche Eigenschaften zur
Seite stehen, welche uns in dem Gelehrten, dessen Wissen, in
dem Forscher, dessen Geist wir bewundem, zugleich auch den
edeln und liebenswürdigen Menschen verehren lassen. Eben
diess ist aber bei dem Theologen der Fall, dessen Andenken
diese Blätter gewidmet sind. Um ihn freilich nach allen diesen
Seiten hin erschöpfend zu schildern, wäre mehr Raum erfor-
derlich, als wir hier für uns in Anspnieh nehmen dürfen.
Die vorliegende Darstellung gilt ihrer Hauptabzweckung nach
zunächst Baur's wissenschaftlichen Arbeiten, sie soll an der
Hand seiner Schriften die allmähliche Entwicklung seiner Ge-
schichtsansicht und seines theologischen Standpunkts nach-
weisen , und ebendamit dem Leser von der Entstehung und
dem Gange der Forschungen, durch welche er in die Theo-
logie unserer Zeit so tief eingegiiffen hat , eine genauere Vor-
stellung gewähren. Aber doch wollen und dürfen wir es nicht
unterlassen, ihm auch die Persönlichkeit des Mannes vollzu-
führen, mit dessen Geistesarbeit wir ihn bekannt machen
möchten. Mit diesem biographischen Theil unserer Aufgabe
werden wir uns zunächst beschäftigen.
Baur wurde den 21. Juni 1792 in dem würtembergischen
Dorfe Schmiden, nahe bei Stuttgart, geboren, in welchem sein
Vater das Amt des Ortspfarrers bekleidete; seine Knaben-
jahre verlebte er aber grösserentheils in Blaubeuren, einem
Städtchen am südlichen Fuss der schwäbischen Alp, zwei
Meilen von Ulm, wohin der Vater im Jahr 1800 als Decan
befordert worden war. Im elterlichen Hause waltete ein ern-
ster und verständiger Geist: Vater und Mutter in ihrer Art
beide gleich tüchtig, die Mutter nicht ohne einen Anflug von
Schwermuth, die Erziehung der Kinder auf Einfachheit, Ge-
••<
394 Ferdinand Christian Baur.
horsam, Fleiss, strenge Gemssenhaftigkeit gerichtet. Schon
4er Knabe zeigte einen ernsten Sinn, und bei hervortretender
Ifeigung zu geistiger Beschäftigung wenig Bedarfiiiss nach Um-
gang mit Kameraden; eine natürliche Schllchtemheit , wie
man sie bei dem kühnen Kritiker, der er später wurde, nicht
gesucht hätte, wie sie aber auch bei einem Kant, einem Cal-
vin und manchem andern mit dem höchsten moralischen und
wissenschaftlichen Muthe verbunden war, hat ihn noch im
Mannesalter nicht verlassen, und sie hieng bei ihm mit einer
Feinheit und Empfindlichkeit des Gefühls zusammen, welche
auch für die wissenschaftliche Ausrüstung des Kritikers, für
jene geistige Splirkraft, deren er zu seinem Geschäfte bedarf,
nicht ohne Bedeutung ist. Baur's Vater war ein Mann von
grosser Pflichttreue und unermüdlichem Fleisse; die gleichen
Eigenschaften entwickelten sich frühzeitig auch in dem Sohne.
Seinen Untemcht erhielt dieser bis in sein vierzehntes Jahr
von dem Vater, welcher denselben neben einem geschäftsvollen
Amte mit aufopferndem Eifer ertheilte; dann wurde er den
Seminarien übergeben, in dehen bekanntlich bis auf den heuti-
gen Tag der grössere Theil der würtembergischen Theologen
die Gymnasial- und Universitätsstudien zu machen pflegt. In
Würtemberg nennt man diese in ehemaligen Klöstern errichte-
ten Anstalten schlechtweg Klöster; und in jener Zeit hatten
sie^wirklich noch, namentlich die „niederen", für die Zeit vom
vierzehnten bis achtzehnten Jahre bestimmten, eine durchaus
klösterliche Einrichtung und Disciplin, unter welcher die jungen
Leute, wenn sie von pedantischen Vorgesetzten gehandhabt
wurde, oft nicht wenig zu leiden hatten. Auch Baur machte
diese Erfahrung, als er im Jahr 1805 in das „Kloster" seiner
Vaterstadt Blaubeuren eintrat; durch die Verkehrtheit einer
mönchischen Erziehung wurde ihm die natürliche Heiterkeit
des beginnenden Jünglingsalters verkümmeit, und noch nach
langen Jahren erinnerten sich seine Geschwister des finsteren
>. Wesens, welches sie in jener Zeit von ihm zurückscheuchte.
Mildere Vorgesetzte und bessere Lehrer fand er nach zwei
Jahren in dem Kloster Maulbronn, und als er 1809 in das
Ferdinand Christian Baur. 395
tübinger Seminar übergieng, standen die Beschränkungen, wel-
chen auch diese Anstalt ihre Zöglinge uinterwarf , dem massi-
gen Antheil am akademischen Leben, über den seine Wünsche
nicht hinausgiengen, nicht im Wege. Bisher war von ihm fast
ausschliesslich die classische Philologie getrieben, und zu den
gründlichen Kenntnissen, welche er auf diesem Gebiete besass,
der Grund gelegt wurden; jetzt sollten, der bestehenden Stu-
dienordnung gemäss, zunächst zwei Jahre durch philosophische,
in zweiter Beihe auch durch historische und philologische,
sodann drei weitere Jahre durch theologische Studien ausge-
füllt werden. Baur widmete sich beiden gleichsehr mit der
vollen Arbeitslust und Beharrlichkeit, die ihm schon frühe zur
anderen Natur geworden war, und beim Abgang von der Uni-
versität hatte er sich unter mehreren talentvollen Altersge-
nossen, zu denen neben andern auch der Dichter Gustav
Schwab gehörte, so emporgearbeitet, dass er entschieden als
der kenntnissreichste und wissenschaftlich bedeutendste von
ihnen anerkannt war. In der Richtung seiner Studien tritt,
so weit wir darüber unterrichtet sind, das doppelte Interesse
für die Philosophie und für die Geschichte der Religion und
der Theologie hervor. Dort waren es, unter den alten Philo-
sophen PlatO; unter den neueren Fichte und Schelling, die
seinem idealen Sinn am meisten zusagten; auf seine Beschäf-
tigung mit der historischen Theologie hatte E. G. Bengel den
grössten Einfluss, ein Vertreter jenes Supranaturalismus , der
in Tübingen durch Christian Gottlob StoiT und seine Schule
aufrecht erhalten wurde, aber zugleich auch ein Freund der
kantischen Philosophie, ein Theolog, der sich, wiie Strauss im
Leben Märklin's sich ausdrückt, „zwar auf dem Gebiete des
kirchlichen Supranaturalismus, doch nicht weit von der Grenze
des Rationalismus, niedergelassen hatte;" für den Schüler,
welcher später sein Nachfolger wiirde, auch dadurch von be-
sonderer Wichtigkeit, dass er zuerst die Kirchengeschichte,
die Dogmengeschichte und die Symbolik in Tübingen in den
Kreis der regelmässigen Vorlesungen einführte. Neben ihm
war der ehrwürdige, als Orientalist eines verdienten Ruhmes
F«4linan>I nhristinix BauT.
1er theologischen Facultät;
Gelehrte konnte nach der
lum zu den eigentlichen
r Baur's sonstigen theolo-
Flatt die angesdiensteo ;
lendere Anregung zu ver-
aus der anziehenden und
r theologischen Facultät
eschichte der Univefsität
Universität (1814) wirkte
Is Hülfsprediger auf dem
m der niederen Seminare,
r aber als Kepetent nach
Igelische Seminar zurück,
hier verweilen. Im Juli
Mutter schon zwei Jahre
3chs Geschwistern war er
ts halbwegs versorgt war. -
Famihe wirkte dazu mit.
Igen Manne eine der zwei
ben damals an dem Semi-
waren. Auch im Intere^e
ire Wahl getroffen werden
SS (in seiner Schrift über
hrend und anregend Baur's
bedeutend seioe sittlich
liwung seines Geistes, das
Berufetreue, das er gab,
Ete, und man wird die An-
ihen , mit der ihm seine
ihme lebenslang zugethan
die neun Jahre, welche er
zubrachte, zu den glück-
> seiner Erinnerung immer
'arben auftauchten. Zwar
Ferdinand Christian Baur. 397
fehlte es an der Anstalt, die nach längerer Unterbrechung eben
erst neu hergestellt war, nicht an Schwierigkeiten und Kämpfen,
welche theils in den allgemeinen Verhältnissen derselben, theils
in der Persönlichkeit ihres Vorstehers, des Ephorus Reuss,
begründet waren, dessen originelle, bei seinen dereinstigen
Untergebenen heute noch im lebendigsten und heitersten An-
denken stehende Eigenthümlichkeiten den übrigen Lehrern
ihre Aufgabe nicht eben erleichterten. Aber Freude am Beruf
und frisches Kraftgefühl Hessen diese Schwierigkeiten um so
leichter überwinden, da Baur's nächster College Kern, sein
etwas älterer Studiengenosse, ein Mann von gebildetem Geist,
wohlwollendem Charakter und gewinnender Humanität war,
der seine aufrichtige Zuneigung erwarb und fortan in vertrau-
ter Freundschaft mit ihm verbunden blieb. Auch mit den
jüngeren Lehrern des Seminars bildete sich ein angenehmes
Verhältniss; in die Häuser der Professoren und der übrigen
gebildeten Familien in dem kleinen Orte wurde den Zöglingen
der Zutritt freundlich gewährt , und unter den letzteren fanden
sich immer nicht wenige, deren Entwicklung die Mühe der
Lehrer belohnte. Namentlich die vier Jahre von 1821 — 1825
waren in dieser Beziehung die Glanzzeit der Anstalt; und
es war freilich ein seltener Glücksfall, dass dieselbe damals
gleichzeitig unter ihren fünfzig Schülern einen D. F. Strauss,
Fr. Vischer, G. Pfizer, W. Zimmermann, Chr. Märklin und
noch eine Reihe weiterer fähiger Köpfe, und unter ihren fünf
Lehrern einen Baur und Kern hatte. In Blaubeui*en be-
gründete Baur auch sein Familienleben durch seine Verbin-
dung mit einer Gattin, die ihm eine treue Lebensgefährtin,
ihren Kindern eine liebevolle, sorgsame und verständige Mutter
gewesen ist, Emilie Becher aus Stuttgart; einer Frau von
lebhaftem und einnehmendem Wesen, welche seinen Enist
mit ihrer Beweglichkeit, seine wissenschaftliche Idealitä<t mit
ihrem praktischen Geschick glücklich ergänzte. Von fünf Kin-
dern, die aus dieser Ehe entsprangen, verloren die Eltern
eines in den ersten Monaten, zwei Söhne und zwei Töchter
überlebten dieselben ; indessen starb der jüngere von den Söh-
398 Ferdinand Christian Baur.
nen, Dr. Albert Baur, ein sehr begabter junger Mann,
schon 1868, acht Jahre nach seinem Vater, nachdem er sich
durch anatomische und zoologische Arbeiten einen guten Namen
gemacht und die schönsten Hoflfhungen für die Zukunft erweckt
hatte. Neben dem häuslichen Leben fand Baur , der ein rüsti-
ger Fussgänger war, seine liebste Erholung von der Arbeit
des Tages in der schönen Gebirgsnatur seiner Heimath, und
noch nach zwanzig Jahren sagt er in der Gedächtnissrede auf
Kern: er denke sich den hingegangenen theuren Freund am
liebsten auf einem jener zahllosen Gänge, auf denen sie Tag
für Tag alle Berge und Thäler derselben durchwandernd, alle
Gefühle und Erfahrungen, alle Studien, Forschungen und Plane
ausgetauscht haben. Und wie sich so seine persönlichen Ver-
hältnisse aufs erfreulichste gestaltet hatten , so war dieser
Abschnitt seines Lebens auch für seine wissenschaftliche Ent-
wicklung, seine Anerkennung in der gelehiiien Welt und seine
spätere Lebensstellung von entscheidender Bedeutung. Durch
Schleiermacher's Glaubenslehre (1821), in die er sich
sofort mit eindringendem Verständniss vertiefte, gewann er
einen festen Mittelpunkt für seine wissenschaftliche Ueberzeu-
gung ; in ihr fand er ein System, welches ihn von . dem Supra-
naturalismus der tübinger Schule für immer befreite, welches
seinem philosophischen und seinem theologischen Bedürfiiiss
gleich sehr und gleich befriedigend entgegenkam; mit dem
Geiste dieses Systems durchdrang er sich so gründlich, und
auch als er in der Folge einzelnen seiner Lehrbestimmungen
mit selbiständiger Kritik entgegentrat, der hegel'schen Philo-
sophie grösseren Einfluss verstattete, und in der historischen
Kritik weit über Schleiermacher hinausgieng, blieb er doch
diesem Geist seiner Lehre so getreu, dass wir ihn, wenn er
überhaupt nach einem Vorgänger genannt werden sollte, nach
keinem anderen eher, als nach Schleiermacher, nennen wür-
den, unter diesem Einfluss verfasste er nun das Werk, mit
dem er seine schriftstellerische Lauibahn zuerst in selbständi-
ger Weise eröffnete, seine „Symbolik und Mythologie" (3 Bde.
1824 ff.). Dieses Werk, dessen Bedeutung man nur nicht an
Ferdinand Christian Baur. 399*
dem heutigen Stand der religionsgesehiehtlichen Foi-schung
messen darf, legte für die Gelehrsamkeit und den Geist seines
Verfassers ein so entschiedenes Zeugniss ab, dass es wesent-
lieh dazu beitrug, in dem Lebensgang desselben eine Wendung^
herbeizuführen, welche nicht allein für ihn selbst, sondern
für die ganze Theologie unserer Zeit von hoher Wichtigkeit
wui'de.
Im März 1826 war durch Bengel's plötzlichen Tod die
Lehrstelle für historische Theologie in Tübingen er]0tlgt wor-
den. Unter den Männern, welche für dieselbe in's Auge zu
fassen seien, wurde von Anfang an Baur genannt, und die
Studirenden erbaten ihn sich bei der vorgesetzten Behörde zum
Lehrer. Die theologische Facultät freilich ^tte bei aller
wissenschaftlichen Anerkennung gegen die Reinheit seines
Supranaturalismus Bedenken, die auf ihrem Standpunkt auch
nicht ohne Grund waren, und brachte einen anderen in Vor-
schlag. Allein die Regienmg griff durch, und da auch noch
eine zweite theologische Lehrstelle sich aufthat, wurde Baur
zugleich mit Ketn als Professor der Theologie nach Tübingen
berufen. *)* Hiemit war er auf den Platz gestellt , an welchem,
unL der Wissenschaft zurückgegeben, in welcher sich ihm der
bedeutendste Wirkungskreis darbot. Auch äusserlich angesehen,
brachte die Veränderung seiner Lage so viel Ehre und Ge-
winn, dass sie jeder andere mit beiden Händen ergriffen haben
würde. Er selbst jedoch , in seiner hohen Anspruchslosigkeit
und seiner selbstlosen Gewissenhaftigkeit, fasste nur die Pflich-
ten, die sie ihm auferlegte, nicht die Vortheile, die sie ge-
währte, in's Auge; und wie er nicht das mindeste gethan
hatte, um sie herbeizuführen, so wusste er sich auch über
seine eigene Befähigung für die schwierige Aufgabe nicht zu
beruhigen; ja er war bereits in der Residenz angekommen,
um sich die ihm zugedachte Beförderung zu verbitten, als er
*) M. vgl. über diese Verhandlungen, und namentUch über das för
seinen Verfasser höchst bezeichnende Gutachten der theologischen Facultät,.
Baur's eigene Erzählung bei Elüpfel a. a. 0. S. 401 ff.
Ferdinand Christian Banr.
Ferdinand Christian Banr. 401
die Tinte einfrieren; und von da an war der regelmässige
Mittags- oder Abendspaziergang gewöhnlich die einzige längere
Unterbrechung des gelehrten Tagewerks. Bei solcher An-
strengung gelang es seinem durchgreifenden Geiste nicht allein,
in seine Lehrfächer sich rasch einzuarbeiten, sondern bald
fand er auch die Müsse, um die Keihe jener Schiiften zu be-
ginnen, welche ihm in der Geschichte der deutschen Theologie
eine so bedeutende Stelle erworben haben. Seine Forschungen
galten zunächst der Geschichte der alten Kirche und einigen
mit ihr verknüpften Fragen der neutestamentlichen Kritik.
Einigen kleineren Arbeiten auf diesem Felde folgte 1831 die
schöne Untersuchung über das manichäische Religionssystem,
1835 die wichtige Schrift über die christliche Gnosis; in die-
selben Jahre gehören, um anderes zu übergehen, die grund-
legenden Abhandlungen über die Christusparthei in iCorinth
(1831), über die Ebioniten (1831), über die Pastoralbriefe
(1835), über den Zweck des Römerbriefes (1836), welche be-
reits die leitenden Gedanken seiner späteren umfassenden Ge-
schichtsconstruction aussprechen, und ihre ersten Grundlinien
entwerfen. Dazwischen nahm eine confessionelle Fehde seine
Mitwirkung in Anspruch. Um die Angriffe der Möhler'schen
Symbolik gegen den Protestantismus und seine Lehre zurück-
zuweisen, schrieb Baur seinen „Gegensatz des Katholicismus
und Protestantismus", der 1883 in erster, 1836 in zweiter,
erweiterter Ausgabe erschien.
In dieser Schrift tritt nun neben dem schleiermacher'schen
zuerst auch der Einfluss des hegel' sehen Systems bei Baur
hervor. Er war diesem System zunächst durch Hegel's Vor-
lesungen über die Religionsphilosophie, dann auch durch andere
von seinen Schriften näher gekommen, und er hatte sich aus
demselben so viel angeeignet, dass ihn ferner stehende nicht
selten geradezu der hegePschen Schule zuzählten. Es machte
sich diess bei ihm um so leichter, da ihm aus der hegel'schen
Lehre nur die folgerichtige Fortbildung der Gedanken ent-
gegentrat, die er schon früher aus Schelling's Schriften in
sich aufgenommen hatte. Was ihn darin anzog, war vor allem
Zeller, Vorträge und Abhandl. 26
402 Ferdinand Christian Baur.
die grossaxtige, mit seinen eigenen Bestrebungen durchaus
übereinstimmende Auffassung der Geschichte, die Idee einer
innerlich nothwendigen , mit inunanenter Dialektik sich voll-
ziehenden, alle Momente, welche im Wesen des Geistes liegen,
nach einem festen Gesetz zur Erscheinung bringenden Ent-
wicklung der Menschheit. So unstreitig aber die hegePsehe
Philosophie nach dieser Seite hin auf seine eigene Geschichts-
behandlung eingewirkt hat, so ist doch, wie ich schon oben
angedeutet habe, dieser Einfluss lange nicht so hoch anzu-
schlagen, als der des schleiermacher'schen Systems. Dieser
traf ihn noch ehe er den Schwerpunkt fttr seine eigenen Be-
strebungen gefunden hatte, er bot ihm ein wesentlich neues
Princip; jener konnte dem gereifteren Manne, welcher sich
schon seinen eigenen Weg gesucht hatte, mehr nur eine Un-
terstützung und wissenschaftliche Formulirung dessen gewähren,
was er der Sache nach bereits hatte.
Wie aber bei ihm schon von Hause aus der Neigung und
Befähigung zu umfassenden historischen Combinationen ein
ebenso ausgeprägtes kritisches Talent und Bedürfniss das
Gleichgewicht hielt, so brachten ihm die gleichen Jahre auch
nach dieser Seite die bedeutendste Förderung dui-ch Strauss^
Leben Jesu (1835 f.). Auch hier ist man zwar viel zu weit
gegangen, wenn man die Sache bisweilen so dargestellt hat,
als ob Baur in der Kritik nur der Schüler seines Schülers ge-
wesen wäre. Diess ist durchaus unrichtig. Schon vor Strauss
hatte er selbständig den Weg betreten, dem er seitdem
treu blieb, und er hatte den Satz, welcher den Ausgangspunkt
seiner späteren Ausführungen bildet, dass der Gegensatz des
Paulinismus und Ebionitismus der Grundgegensatz innerhalb
des ältesten Christenthums sei, bereits in tiefgreifenden For-
schungen festgestellt; und er hatte diesen seinen Gedanken
auch für die Untersuchung über einige neutestamentliche
Schriften in einer Weise benützt, durch die er sich als einen
Meister der historischen Kritik bewährt hatte. Aber zur
vollen Reife und rücksichtslosen Durchführung kam sein kriti-
scher Standpunkt doch erst in den Jahren nach dem Erschei-
Ferdinand Christian Baur. 403
nen des Lebens Jesu. Dieses Werk gab ihm nicht allein den
nächsten Anstoss, sich der Evangelienfrage zuzuwenden, der
er freilich auf die Dauer keinenfalls hätte ferne bleiben können,
sondern es verhalf auch durch seine unerbittliche Prüfung der
evangelischen Berichte und der Ansichten über diese Berichte
seiner eigenen Kritik zu einer Freiheit und Kühnheit, von der
wir nicht wissen können, in welchem Umfang und wie bald
sie ihr ohne diesen Vorgang zu Theil geworden wäre.
Baur stand jetzt in der vollen Kraft des männlichen
Alters; die angestrengte Arbeit vieler Jahre stellte ihm ein
aus den Quellen geschöpftes gelehrtes Material zur Veifügung,
wie sich dessen wenige Theologeü rühmen konnten; seine
gründlich und stetig sich entwickelnde Natur war unter ge-
wissenhafter Benützung und Verarbeitung alles dessen, was
ihr die gleichzeitige Wissenschaft darbot, mit sich selbst zum
Abschluss gekommen, so weit von einem solchen bei einem
so rastlos vorwärtsstrebenden Geist überhaupt die Rede sein
konnte ; es war zugleich für diejenige Seite seiner wissenschaft-
lichen Thätigkeit, durch die er vor allem in die Geschichte
der protestantischen Theologie eingreifen sollte, durch die
neueste kritische Bewegung der Boden bis in die Tiefe ge-
lockert. Hatte er bisher schon die Früchte seines Fleisses
nach Kräften auch für das grössere Publicum verwerthet, so
begann jetzt für ihn eine Zeit der grossartigsten schriftstelleri-
schen Produktivität, und Schlag auf Schlag folgten sich die
Werke, in welchen theils die ganze Geschichte der christlichen
Lehrbildung durchgearbeitet, theils im besonderen die Ent-
wicklung der ältesten Kirche und die Entstehung der neu-
testamentlichen Schriften in Untersuchung gezogen wurde. Im
Jahr 1838 erschien die Geschichte der Lehre von der Ver-
söhnung und die Abhandlung über den Ui-sprung des Episko-
pats; 1841 bis 1843 das dreibändige gelehrte Werk über die
Geschichte der Lehre von der Dreieinigkeit und der Mensch-
werdung Gottes; 1845 die Schrift über den Apostel Paulus,
Baur's Lieblingswerk, in das er seine ersten bahnbrechenden
Untersuchungen über das älteste Christenthum aufgenommen
26*
404 Ferdinand Christian Buir.
hatte (2. Aufl, 1866 f.); 1844 die urofangreiche AbhandluDg
tlber die Composition und den Charakter des jolianneischen
Evangeliums, welche er in neuer Bearbeitung mit einer zweiten
(v. J. 1846) über Lukas und mit den entsprechenden Erörte-
rungen tlber Matthäus und Markus 1847 in den „Kiitischen
Untersuchungen über die kanonischen Evangelien" zusammen-
fasste; 1847 das Lehrbuch der Dogmengeschichte, das 1858
eme zweite, bedeutend erweiterte Auflage erfuhr; 1851 die
Monographie über das Markusevangelium. Dazu die Streit-
Bchriil gegen Thiersch (1846), die Untersuchung über die
ignatianischen Briefe (1848) und eine grosse Anzahl einzelner
Abhandlungen aus dem Gebiete der Kirchen- und Dogmen-
geschichte, dei- Symbolik, der Geschichte der Philosophie, der
neutestamenüichen Kritik und Exegese, welche den 1842 be-
gonnenen, seit 1847 von Baur mitherausgegebenen Theologi-
schen Jahrbüchern einverleibt wurden. Wenn wir den Um-
fang dieser Arbeiten, die Masse des gelehrten Wissens, die
Fülle scharfsinniger Untersuchungen, neuer und eingreifender
Gedanken erwägen, die darin niedergelegt sind, so werden
wir dem Fleiss und der Geist^kraft ihres Urhebers unsere
Bewunderung nicht versagen.
Und diess um so weniger, da es Baur keineswegs ver-
gönnt war, sich in ungetrübter Müsse der wissenschafthchen
Arbeit zu widmen. Gerade die Jahre, deren literarischen Er-
trag ich soeben angezählt habe, waren ihm durch eine Reihe
schmerzlicher Erlebnisse, hartnäckiger Kämpfe und vielfacher
Widerwärtigkeiten erschwert. In seiner Familie erlitt er
(Novbr. 1839) durch den Tod seiner trefflichen Gattin einen
unersetzlichen Verlust. Seine zwei vertrautesten Freunde,
sein theologischer College Kern und der wackere würtem-
bergische Historiker Heyd, starben in Einem Jahre (1842),
und die aufrichtigste Verehrung jüngerer Männer konnte für
die bewährten Altersgenossen doch nur unvollständigen Ei-satz
geben. Seine kritischen Ansichten riefen Angriffe hervor,
welche nicht selten durch ihre ketzerrichterische Gehässigkeit
weit über die Grenzen der wissenschaftlichen Polemik hinaus-
Ferdinand Christian Baur. 405
giengen; den Reigen führte, wie billig, schon im Jahr 1836
die Evangelische ICirchenzeitung , gegen die er sich in einer
eigenen Flugschrift vertheidigte. Die gleichen Kämpfe wieder-
holten sich aber auch in nächster Nähe im Schosse der aka-
demischen Behörden und namentlich innerhalb der theologischen
Facultät selbst. Je bedeutender Baur's schriftstellerische und
, akademische Wirksamkeit sich entwickelte, je unbedingter der
Beifall seiner Zuhörer ihr entgegenkam, um so mehr glaubten
die Wächter der Rechtgläubigkeit sich bemfen, ihm jeden Fuss
breit von ihrem vermeintlichen Eigenthum streitig zu machen,
seinen Ansichten den Eingang mit allen Mitteln zu erschwe-
ren; und da sich die würtembergische Regiefung sehr bald
mit vollen Segeln in diese Bahn treiben liess, so hatten solche
Bemühungen natüriich, was den äusseren Erfolg betriflft, ge-
wonnenes Spiel. Konnte man ihm selbst auch nicht viel an-
haben, so hatte man doch die Macht in Händen, seinen Schü-
lern und Freunden das Leben sauer zu machen, ihnen jedes
Lehramt, nicht blos in der theologischen, sondern auch in der
philosophischen Facultät, welches auch ihre akademischen Er-
folge und ihre wissenschaftlichen Leistungen sein mochten, zu
verschliessen, sie durch beharrliche Zuiücksetzung in's Ausland
zu treiben, selbst einen schon angestellten (Fr. Vi scher) für
einige Zeit wieder aus seiner Stelle zu verdrängen. Für Baur
waren solche Erfahrungen nicht minder schmerzlich, als wenn
sie ihn selbst unmittelbar betroffen hätten; und am aller-
wenigsten konnte er sich, bei seiner durch und durch ehren-
haften Gesinnung, über die Unredlichkeit der Mittel weg-
setzen, deren man sich nicht selten gegen ihn und seine
Freunde bediente. Doch auch diese Kämpfe verloren mit der
Zeit viel von ihrer Schärfe. Stand auch Baur mit seinen
Ansichten in seiner Facultät fortwährend allein, so bildeten sich
doch wieder befriedigendere persönliche Verhältnisse, nachdem
diese zwar nicht mit Männern seiner Richtung, aber doch
fast durchaus mit früheren Schülern von ihm besetzt war;
und hatte er auch immer noch von Zeit zu Zeit bald zu
freundschaftlicher Verständigung, wie in dem Sendschreiben
406 Ferdinand ChiiBtaau Baur.
an Hase (1855), bald zu gewaffneter Abwehr, wie in der
„Tübinger Schule" (1859, 2. Aufl. 1860), die Feder zu ergrei-
fen, nahmen auch die unwissenderen und hoehmüthigeren
unter seinen Gegnern nicht selten die Miene an, seinen Stand-
punkt als etwas längst abgethanes zu behandeln, so konnten
sich doch unbefangenere der Anerkennung seiner wissenschaft-
lichen Bedeutung immer weniger entziehen: die theolc^sche
Welt gewöhnte sich allmählich daran, dass In ihren Grenzen
auch eine Richtung, wie die seiuige, da sei, und ausserhalb
derselben fanden seine Bemühungen , die Urgeschichte des
Christenthums aufzuhellen , nicht selten eine vonirtheilsfreiere
Würdigung al» sie ihnen Yon Üieologischer Seite zu Theü
wurde.
Auch Baur's eigene Arbeiten nahmen im letzten Jahr-
zehend seines Lebens eine Richtung, welche ihn manchen, die
sich bisher gleichgültig ocler widerwillig von seinen Bestre-
bungen abgewandt hatten, näher zu bringen geeignet war.
Seine bisherigen Schriften hatten sich ganz überwiegend mit
der Dogmengeschichte und der neutestamenthcheu Kritik be-
schäftigt. Jetzt hatte er in diesen zwei Fächern die wichtig-
sten und für ihn selbst interessantesten Fragen so gründlich
und vielseitig durchgearbeitet, dass er das Bedür&iss empfand,
sich nach weiteren Angaben umzusehen. Auch jene Gebiete
behielt er zwar fortwährend im Auge, ergänzte und vertheidigte
seine früheren Untersuchungen , begleitete die Literatur der-
selben mit seiner Kritik, lieferte Jahr für Jahr in den Theo-
logischen Jahrbüchern (s. o. S. 312 404), und nach ihrem Auf-
hören (1857) in Hilgenfeld's Zeitschrift, neben anderem be-
sonders auch zur neutestamentlichen Theologie, Kritik und
Exegese seine Beiträge. Aber seine grösseren Arbeiten sind
SMt dem Jahr 1852 sämmtlich der eigentlichen Kirchenge-
schiehte gewidmet. Nachdem er zuerst in den „Epochen
der kirchlichen Geschichtschreibung" (1852) seine Vorgänger
und ihr Verfahren kritisch gemustert hatte, begann er 1853
mit der Schrift: „das Cbristenthum und die christliche Kirche
der drei ersten Jahrhunderte", welche 1860 in zweiter, neu
Ferdinand Christian Baur. 407
durchgearbeiteter (1863 in dritter) Auflage erschien, die Dar-
stellung der ganzen Kirchengeschichte, in der Absicht, die
Ergebnisse seiner bisherigen Forschungen nach wiederholter
Prüfung zusammenzufassen, sie durch die Betrachtung der
bisher zur Seite gelassenen kirchengeschichtlichen Erschei-
nungen zu ergänzen, und so alles einzelne in den umfassen-
deren geschichtlichen Zusammenhang zu stellen, in dem es
•erst seine volle Beleuchtung und Begründung erhalten kann.
Indem er dabei die gelehrte Einzeluntersuchung möglichst be-
schränkte, nur das wichtigere und neue ausführlicher besprach,
das bekannte und minder wesentliche kürzer berührte, hoffte
er zugleich den Vortheil grösserer Uebersichtlichkeit und Ge-
meinverständlichkeit zu en*eichen, und der Erfolg hat bewie-
sen, dass er sich hierin nicht getäuscht hat. 1859 folgte ein
zweiter Band, „die christliche Kirche vom vierten bis sechsten
Jahrhundert" (2. Aufl. 1863) ; bereits war aber auch der dritte,
in welchen die ganze Kircheügeschichte des Mittelalters zu-
sammengedrängt werden sollte, durch mehi jährige mühevolle
Arbeit weit gediehen, und im folgenden Jahr war er eben
druckfertig geworden, als die Erkrankung des Verfassers seiner
Herausgabe in den Weg trat. Er erschien 1861, und ist nach
Form und Inhalt noch duixhaus Baur's eigenes Werk, der in
dieser Darstellung einen unermesslichen Stoff sehr geschickt
in's kurze zu ziehen, die wesentlichen Grundzüge der geschicht-
lichen Entwicklung scharf hervorzuheben, die hervorragenden
Erscheinungen treffend zu charakterisiren gewusst hat. 1862
folgte, als fünfter Band der Kirchengeschichte, die „Kirchen-
geschichte des 19ten Jahrhunderts", und im nächsten Jahr,
1863, wurde die Lücke zwischen diesem und den vorher-
gehenden Bänden durch die „Kirchengeschichte der neueren
Zeit, von der Reformation bis zum Ende des 18ten Jahrhun-
derts" vollends ausgefüllt. Die beiden letzteren Bände sind
ein Abdruck der Manuscripte, die der Verfasser seinen Vor-
lesungen zu Grunde legte, und sie sind desshalb immerhin
ihrem Inhalt nach nicht ganz so vollständig und genau, in
ihrer Darstellung nicht so gedrängt, wie die von Baur selbst
408 Ferdinand Christian £aur.
für den Druck bearbeiteten Theile der Kirchengeschichte.
Aber bei der ausserordentlichen Sorgfalt, mit der er seine
Hefte ausarbeitete, gleich beim ersten Entwurf alles wohl-
durchdacht in der reinlichsten Foim zu Papier brachte, das
niedergeschriebene immer aufs neue revidirte, jede kleinste
Verbessenmg darin nachtrug, erhielten sie (wie ich schon im
Vorwort zur K.-G. d. 19. Jahrh. bemerkt habe) eine Reife
und Vollendung, wie sie derartigen Darstellungen sonst nur
selten zutheil wird; und andererseits kam ihre nächste Be-
stimmung ihrer Klarheit und Gemeinverständlichkeit zu gute-
Namentlich die Kirchengeschichte des 19ten Jahrhunderts zeigt
in vielen Parthieen eine Frische und Anschaulichkeit der Er-
zählung, eine eindringende, nicht selten durch eine Beimischung
überlegenen Humors noch gehobene Lebendigkeit der Schil-
derung, wie sie dem Verfasser nur desshalb möglich war, weil
er sich hier ganz unumwunden über das aussprach, was er
selbst mit erlebt, und wobei er in seinem Theile mitgewirkt
hatte. Auch über seine eigene wissenschaftliche Stellung , die
allmähliche Entwicklung seiner Ansichten, sein Verhältniss zu
Zeitgenossen und Vorgängern äussert er sich hier mit voller
Klarheit und hoher Objektivität. Die gleichen Vorzüge zeich-
nen auch die „Vorlesungen über neutestamentliche Theologie*
(1864) aus: eine musterhaft klare und übersichtliche Zusam-
menfassung der Ergebnisse, die Baur durch seine vieljährigen
Forschungen über den Inhalt und das geschichtliche Verhält-
niss der neutestamentlichen Lehrbegriffe gewonnen hatte.
Den Schluss von Baur's nachgelassenen Werken bild^ die
Vorlesungen über Dogmengeschichte (1865 — 1867. 4 Bände),
welche gleichfalls, theils durch die Ergänzung der gedruckten
Werke, theils durch die fasslichere Dai-stellung ihres Haupt-
inhalts, noch nach dem Tode ihres Verfassers nicht weoigen den-
selben Dienst leistete, den sie so vielen während seiner langen
Lehrthätigkeit geleistet haben.
Bis zur Vollendung seines achtundsechzigsten Lebens-
jahres hatte sich Barn- in ungeschwächter, vom Alter kaum
berührter Kraft seinem Berufe gewidmet Nach manchen
Ferdinand Christian Banr. 409
Kämpfen und mancher schweren Erfahrung war ihm ein
schöner und würdiger Lebensabend beschieden. In freund-
lichem Verkehr mit seinen Collegen, von der Liebe seiner
Schüler, der allgemeinen Verehmng getragen, von mehreren
seiner Angehörigen umgeben, erfreute er sich fortwährend
einer seltenen Geistesfrische und einer unverminderten Wirk-
samkeit. Längst waren die Locken gebleicht, die über der
hochgewölbten Stime den charaktervollen Kopf noch in dich-
tem Wüchse bedeckten; aber immer gleich fleissig und aus-
dauernd, immer mit derselben Unermüdlichkeit forschend und
vorwärtsstrebend , fuhr der alternde fort zu lehren und zu
arbeiten, und das solonische Wort an sich wahr zu machen:
„Vieles von Tag zu Tag lernend, so werd' ich zum tlreis."
Auch seine Gesundheit hatte bis dahin wacker Stand gehalten.
Er Utt zwar schon seit vielen Jahren an asthmatischen Be-
schwerden und an einer Schlaflosigkeit, welche ihm oft den
grösseren Theil der nächtlichen Ruhe raubte, und so lästig
ihm diese Uebel auch wurden, liess es doch seine seltene Be-
rufstreue nicht zu, dass er jemals während der Dauer der
Vorlesungen zu einer Kur Urlaub genommen hätte. Aber
seine Thätigkeit hatte unter diesen Hemmungen nicht zu
leiden. Von kräftigem Köi-per und einfacher ßegelmässigkeit
des Lebens, war er seit seiner Kindheit nie krank gewesen;
hart gegen sich selbst, liess er sich durch leichtere Störungen
von der gewohnten Arbeit nicht abhalten; nach seiner Anstel-
lung in Tübingen dauerte es sechzehn Jahre oder noch länger,
bis er zum erstenmal eine Vorlesung wegen Unwohlsein aus-
setzte. So hatte er in rüstiger, Thätigkeit sein neunundsech-
zigstes Jahr angetreten, als er den 15. Juli 1860 im Kreise
der Seinigeh von einem Schlaganfall betroffen wurde. Zu-
nächst gelang es seiner guten Natur noch, sich ziemlich rasch
zu erholen. Doch konnte er am Anfang des Winterhalbjahrs
seine Vorlesungen nicht wieder au&ehmen; und schneller, als
man es gefürchtet, giengen auch die weiteren Besorgnisse,
welche sich an seinen Gesundheitszustand knüpften, in Er-
füllung. Am 29. November 1860 erlitt er in einer Sitzung
f
1
410 Ferdinand Christian Baur.
des akademischen Senats, der er anwohnte, einen zweiten hef-
tigeren Anfall, dessen Folgen er schon am Abend des 2. De-
<5ember erlag.
Am Nachmittag des 5ten wurde er beerdigt. Die allge-
meinste Theilnahme folgte seinem Sarge. Sie galt nicht blos
dem Lehrer, zu dessen Füssen so viele Generationen akademi-
scher Bürger gesessen hatten, nicht blos dem Forscher, dessen
Ruhm weit über die Grenzen Deutschlands hinausreichte: sie
galt ebensosehr dem Manne, dem seine persönlichen Eigen-
schaften in allen Ständen Verehrung und Liebe erworben
hatten. Baur war keineswegs nur ein einseitiger Gelehrter;
mit dem Umfang seines Wissens und der Kraft seines Geistes
verbailfl er eine Trefflichkeit des Charakters, einen Adel der
Gesinnung, einen ßeichthum des Gemüths, wie sie selten in
so wohlthuender Vereinigung gefunden werden. Strenge gegen
sich selbst, von ängstlicher Gewissenhaftigkeit und unwandel-
barer Pflichttreue, immer nur an die Sache, nicht an sich
denkend, bot er das Bild einer alteithümlichen Gediegenheit
und Eechtschaffenheit. Während er das höchste erstrebte
und das bedeutendste leistete, war er in allen persönlichen
Beziehungen von einer wahrhaft beschämenden Anspruchs-
losigkeit und Bescheidenheit; aber eine natürliche Würde des
Benehmens, der ungesuchte Ausdmck seines feinen Anstands-
gefühls und seines enisten, aufs Grosse gerichteten Sinnes,
liess ihm gegenüber keine unehrerbietige Empfindung auf-
kommen. Offenen und geraden Wesens , von grosser Herzens-
güte und seltener Lauterkeit des Willens, jedem menscMichen
Interesse theilnehmend geöfbet, kam er allen, die mit ihm in
Berührung traten, mit uneigennützigem Wohlwollen, denen,
welche ihm näher standen, mit selbstvergessender Liebe ent-
gegen; gegen niedrigere war er von grosser Humanität, wo
er eine Noth sah, zur Hülfe bereit, und dabei voll schonender
Rücksicht gegen das Zartgefühl derer, die ihrer bedurften.
Die öffentlichen Angelegenheiten verfolgte er mit lebendiger
Theilnahme für die Sache des Fortschritts und der Freiheit,
aber eine politische Thätigkeit hat er nie gesucht oder ge-
Ferdinand Christian Baur. 411
Wünscht; die akademischen Geschäfte behandelte er einsichts-
voll und selbständig, in der Leitung des evangelischen Semi-
nars wusste er, soweit sie von ihm abhieng, Festigkeit und
Freisinnigkeit glücklich zu verbinden. Seiner schwäbischen
Heimath, zu deren besten und ächtesten Söhnen er gehörte,
hieng er treu an, und auch äusserlich ist sein Leben ganz auf
diesem Boden verlaufen: wie Kant nie aus der Provinz Ost-
preussen herauskam, so ist Baur nie länger, als auf Wochen,
aus Schwaben herausgekommen; aber dieser Umstand hat
den einen so wenig, wie den andern, verhindert, mit dem
Bliiäk;^ seines Geistes ferne Zeiten und Länder zu umfassen.
Wie Baur allem schönen lebhafte Empfänglichkeit, allem hohen
und gi'ossen warme Begeisterung entgegenbrachte, so war ihm
auch umgekehrt jene Keuschheit und Reizbarkeit des sittlichen
Gefühls eigen, die durch das unreine rasch und tief verletzt
wird ; wo er eine unedle Gesinnung und unlautere Beweggründe
zu sehen glaubte, da hielt er mit dem Ausdruck seiner Ent-
rüstung nicht zuiilck, und da konnte es ihm wohl auch be-
gegnen, dass er sich in den Standpunkt des Gegners nicht
recht zu finden wusste, und ihm im einzelnen zu viel that.
Aber auch hierin wurde er nicht allein mit den Jahren immer
milder , sondern sein Angriflf galt überhaupt jederzeit nur der
Sache, nie der Person; nur dann konnte er aufbrausen, wenn
ihm Mangel an Wahrheitsliebe und Offenheit entgegentrat,
wenn seiner Ueberzeugung nach (wie diess nur zu oft geschehen
ist) mit imerlaubten Mitteln und unehrenhaften Waffen ge-
kämpft wurde; wo er dagegen die Grundlage eines ehrlichen
und uneigennützigen WoUens sah, da besass er auch abwei-
chenden Ansichten gegenüber eine grossartige Duldsamkeit,
und von Leuten, deren Charakter er im ganzen vertraute,
wusste er auch solches, das ihn mit allem Recht hätte ver-
stimmen können, mit einer bei seinem reizbaren Temperament
doppelt verdienstlichen Geduld zu ertragen. Bezeichnend ist
es dabei fttr die Gediegenheit seines eigenen Wesens, dass
ihm die ganzen Gegner immer lieber waren, als die halben:
selbst für akademische Berufungen gab er den Orthodoxen und
»^Z"-- -i— i-1
-WT^
412 Ferdinand Christian Baur.
Pietisten von scharfem Gepräge vor der verschwommenen
Frömmigkeit der Halborthodoxen den Vorzug. Ihm selbst war
der Mittelpunkt alles seines Thuns, die eigentliche Leiden-
schaft seines Lebens, die wissenschaftliche Erforschung der
Wahrheit. Zum Forscher, und insbesondere zum Geschichts-
forscher, hatte ihn seine Naturanlage und sein Bildungsgang
in ungewöhnlichem Masse ausgerüstet. Eine unverwüstliche
Arbeitskraft, ein eiserner Fleiss, ein vortreffliches Gedächtniss,
ein Scharfsinn, welcher die Oberfläche der Dinge zu durch-
dringen, verborgene Beziehungen und Gegensätze aufzuspüren
wusste, ein inneres Anschauungsvermögen, welches ihn in den
Stand setzte, die Bruchstücke der geschichtlichen Ueberliefe-
rung zu einem lebendigen Ganzen zu verknüpfen, die geistigen
Zustände vergangener Jahrhunderte nachzubilden; die Genauig-
keit des Gelehrten, dem nichts zu klein ist, die skeptische
Stimmung des Kritikers, der jede Angabe zweifelnd hin und
her wendet, und dabei eine Weite des Gesichtskreises, die
ihn alles aus umfassenderen Standpunkten betrachten, das Ein-
zelne am Ganzen bewähren, überall allgemeine Gesetze, durch-
greifende Zusammenhänge suchen liess — einer solchen Ver-
einigung vielseitiger Begabung, die sich auf einen höchst
bedeutenden und seiner wahren Beschaffenheit nach erst un-
vollständig erkannten Gegenstand warf, musste wohl grosses
gelingen. Was aber Baur mehr als alles andere seine wissen-
schaftlichen Erfolge verbürgte, das war jene innere Rastlosig-
keit, die ihm nicht erlaubte, bei irgend einem Ergebniss als
einem letzten stehen zu bleiben, jener Trieb nach Vervoll-
kommnung, der zugleich durch wissenschaftliche Besonnenheit
vor Uebereilung bewahrt war. Er war ein Mann, in dem die
geistige Arbeit nie stille stand , der nie aufhörte zu lernen und
fortzuschreiten, der jede Annahme immer neu prüfte und aus
jeder Entdeckung sofort eine Stufe zu weiterer Forschung zu
machen suchte. Er war aber zugleich auch eine stetig sich
entwickelnde,langsam reifende Natur , und auch in dieser, wie
noch in mancher anderen Beziehung möchte ich ihn am lieb-
sten mit Kant vergleichen. Immer in die Sache vertieft, nie
s?t
Ferdinand Christian Baur. 413
auf einen Effect oder ein vorher feststehendes Resultat hin-
arbeitend, gieng er Schritt für Schritt vorwärts; er konnte
wichtige Probleme Jahre lang bei Seite liegen lassen, wenn
ihn der Gang seiner Forschungen nun einmal noch nicht darauf
geführt hatte, über die eingreifendsten Fragen sich die Ent-
scheidung vorbehalten, bis alle Seiten der Sache untersucht,
alle Gründe geprüft waren; und so überraschend oft seine
Ergebnisse, so kühn seine Combinationen sich ausnahmen:
wenn man genauer zusah, konnte man doch immer finden,
dass sie von den verschiedensten Seiten her vorbereitet sich
ihm ungesucht aus allem früheren ergeben hatten. Er strebte
unaufhörlich weiter, aber gemessenen Ganges, und so, dass er
nur selten einen Schritt zurückzuthun Veranlassung fand. Sein
Wissensdurst Hess ihn nie stülstehen, seine Wahrheitsliebe vor
keinem Ergebniss, das durch ehrliche Forschung gewonnen
war, erschrecken; aber seine Gründlichkeit Hess ihn nichts
leicht nehmen, seine kritische Natur machte ihn misstrauisch
gegen aUe Voraussetzungen, die nicht näher geprüft waren,
seine Pietät gegen aUes gegebene und zu geschichtHcher Gel-
tung gelangte verbot ihm, ohne Noth von der allgemeinen
Ueberzeugung abzuweichen. Die letztere Eigenschaft freiHch
haben ihm seine . Gegner stets am wenigsten zugestanden :
kein Vorwurf wurde ihm ja häufiger gemacht, als der einer
kiitischen Rücksichtslosigkeit, der nichts heilig sei, die alles
umstürze, um nur ihre wiUkührHchen Annahmen eigensinnig
durchzuführen. Das wahre ist aber vielmehr, dass Baur, wie
der Geschichtsforscher soU, jeder geschichtHchen Erscheinung,
je bedeutender sie war, um so mehr ihre geschichtHche Be-
rechtigung zuzugestehen bereit war, und auch solche, die von
seiner eigenen Denkweise am weitesten ablagen, vom Stand-
punkt ihrer Zeit aus mit grosser Unpartheilichkeit zu würdigen
wusste ; dass er auch in seiner eigenen Ansicht sich nur zögernd
von dem allgemein anerkannten entfernt, und gegen manche
Folgerung, die sich aus seinem ganzen Standpunkt imbestreit-
bar ergab, sich lange gesträubt hat. Wenn er nichtsdesto-
weniger weit über die hergebrachte Auffassung der KeHgion
414 Ferdinand Christian Baur.
hinausgeführt wurde, so war es nur die Natur der Sache und
der rastlos schaffende Drang seines Geistes, der ihn so weit
geführt hat. Durch die Auktorität der Ueberlieferung und
der allgemeinen Meinung liess er sich allerdings nie von der
wissenschaftlichen Prüfung abhalten oder bei einer als unrich-
tig erkannten Annahme zurUckhalten, er wollte die wii-klichen
geschichtlichen Vorgänge ausmitteln, die Thatsachen von den
Vorstellungen der Menschen über die Thatsachen unterschei-
den; zugleich wollte er aber auch clie wirklichen geschicht-
lichen Thatsachen in ihrer vollen Bedeutung anerkennen und
auf eine dieser Bedeutung entsprechende Weise erklären. Und
dieser mit der voraussetzungslosesten Kritik vollkommen ver-
einbare conservative Sinn des Historikers wirkte bei ihm um
so stärker, da der Gegenstand seiner Forschungen ihm so
gut, wie dem strenggläubigsten von seinen Gegnern, eine
heilige Herzenssache war. So frei er auch der geschichtlichen
und dogniatischen Ueberlieferung gegenüberstand : die Religion
selbst sollte seiner Absicht nach dui*ch die kritische Unter-
suchung über ihren Ursprung und ihre Geschichte so wenig
Noth leiden, dass vielmehr erst dadurch, wie er glaubte, ihr
wahres Wesen an's Licht gebracht werde. Während er die
einschneidendsten kritischen Operationen . mit wissenschaft-
licher Kaltblütigkeit vornahm, konnte er zugleich, ein Geistes-
verwandter Schleiennacher's , mit voller Ueberzeugungstreue
kirchliche Vorträge halten, welche den Vorzug der Volks-
thümlichkeit zwar und der rednerischen Gewandtheit nur in
geringerem Masse besassen, welche aber durch die Wärme
des religiösen Gefühls und den Ernst der sittlichen Weltan-
sicht, die sich darin aussprach, auch bei minder gebildeten
Zuhörern eines bedeutenden Eindrucks nicht verfehlten. Der
sittliche Gehalt der Religion war es aber, in dem auch er
selbst mehr und mehr ihren innersten Kern erkannte, nach-
dem er eine Zeit lang allerdings der religionsphilosophischen
Einseitigkeit, ihn zunächst in spekulativen Ideen zu suchen,
für die Behandlung der Dogmengeschichte zu vielen Einfluss
verstattet hatte. Indem er dieses wesentliche von der wissen-
V
\
Ferdinand Christian Baur. 415
schaftlichen Erörterung unabhängig wusste, gewann er die
Möglichkeit, die freieste Kritik mit dem vollen Ernst der reli-
giösen Gesinnimg zu verbinden.
Dass nun ein solcher Mann, wie wir ihn in Baur kennen
gelernt haben, auch als Lehi-er höchst bedeutend gewirkt
haben werde, lässt sich erwarten. Und es war nicht allein
der gediegene Inhalt seiner Vorträge, es war ebensosehr die
Persönlichkeit des Lehrers, welche diese Wirkung hervor-
brachte. Schlicht und anspruchslos, wie er war, hatten auch
seine Vorlesungen durchaus nichts glänzendes und auf den
Effect berechnetes. In der früheren Zeit hielten sie sich
genau an das sorgfältig ausgearbeitete Manuscript; später
wurden sie wohl etwas unabhängiger von demselben, im eigent-
lich freien Vortrag jedoch hat sich Baur nie versucht. Aber
ungesucht erhielt der Zuhörer den Eindmck, dass hier nicht
blos ein Gelehrter sein Wissen, sondern ein wissenschaftlicher
Charakter sich selbst darstelle; man fühlte es, dass man einen
Mann vor sich habe, der ganz in der Sache lebe und sie in
sich ai'beiten lasse; man sah den Blick des Lehrers, bei der
treuesten Arbeit im einzelnen, doch fortwährend aufs Grosse
und Ganze, bei der gründlichsten Durchdringung des geschicht-
lichen Stoffes aufs Ideale gerichtet; man wurde vom Hauch
jener Begeisterung berührt, welche unauslöschlich in ihm
glühte, und von Zeit zu Zeit auch aus den schmucklosen
Worten in einer schwungvolleren Wendung der Sprache oder
in dem gehobenen Ton der Stimme hervortrat. Was endlich
hier gerade besonders in's Gewicht fällt: man durfte an der
geistigen Arbeit eines Lehrers theilnehmen, der bis an's Ende
seines Lebens selbst ein lernender war und sein wollte. Nimmt
man dazu die Eigenschaften, welche auf die Zuhörer doch
immer wesentlich einwirken, wenn sie sich auch nicht direkt
im Vortrag selbst aussprechen können, Baur's sittliche Tüch-
tigkeit und ächte Humanität, so wird man es nur natürlich
linden können , dass ihn die Verehrung ♦und die Liebe seiner
Zuhörer während seiner ganzen langen Lehrthätigkeit in der
^
:■
* •
416 Ferdinand Christian Baur.
erfreulichsten Weise begleitet hat, und in den meisten Fällen
auch da Stand hielt; wo der Gegensatz der theologischen
Ansichten beide Theile wissenschaftlich weit auseinandergertlckt
hatte.
Als ein Zeugniss dieser Gesinnung sei es mir erlaubt, die
Worte anzuführen, welche mir von Friedrich Vi seh er,
dem früheren Schüler imd vieljährigen Freunde Baur's, wenige
Wochen nach seinem Tode zukamen. „Eine ähnliche Gestalt,
wie unser Freund," schreibt der genannte, „wird nie wieder
möglich sein: so modern im Mittelpunkte des geistigen Wir-
kens und so alterthümlich ehrwürdig, so unsem Rrfonnatoren
verwandt. Es ist gering, wenn man von einem leeren Manne
zu rühmen hat, er sei doch rein und kindlich gewesen ; aber es
ist hoch gesprochen j wenn man von einem gewaltigen Mann
es rühmen, wenn man sagen darf: so gross und so einfach, so
3 gut, so schlicht, so anima ccmdida. Ich höre immer, wenn
ich an ihn denke, auch den Ton seiner Stimme, worin gar ein
so zum Herzen gehender Klang der inneren Lauterkeit lag. Das
beste des altschwäbischen Wesens, was die Ueberbewusstheit
modemer Köpfe nie versteht, fasste sich in ihm mit der gan-
zen Schärfe des kritischen Geistes der neuen Welt, mit hel-
I denmässigem Wahrheitsmuth und nicht eimüdendem Fleiss in
Eins zusammen. Unser Patriarch hat uns verlassen. Er
durfte leben, bis seine Locken weiss waren, um als Monumen-
talbild eines innerlich frischen Greises unter uns zu stehen;
% er dui-fte sterben, als Leiden diess Bild entstellt hätten, ün-
I zähligen ist es in's Innere gesenkt; ganz kennen nur wir ihn,
die wir ihn im engeren Kreise als Menschen in vertrauter
Nähe sahen; aber mit dem lebenden Worte des Lehrstuhls
r und mit den bekannten Thatsachen des Wirkens in den prak-
I tischen Verhältnissen einer Universität zieht doch immer auch
das Charakterbild des Mannes in die Gemüther der Jugend
ein, das in ungemessener Weite sittlich wie geistig wirksam
sein muss, und auehi das geschriebene Wort ist von einem
I innem Klange, Tone begleitet, wodurch die Welt nicht nur
Ferdinand Ghristiian Baor. 417
die Gedanken des Mannes, sondern den Mann selbst vernimmt.
Erhebung und Wehmuth mischt sich rein und gleichmässig,
wenn ein solcher Mann scheidet."
So unser Freund, dessen Worte gewiss allen, die Baur
näher gekannt haben, aus der Seele geschrieben sind. Ganz
so, wie er ihn uns schildert, steht er in der Erinnerung vor
uns: edel und ehrwürdig, geisteskräftig imd mild, rastlos vor-
wärts dringend und in seiner Ueberzeugung beruhigt, ernst
und fest, aber Liebe im Herzen und Wohlwollen auf den Lip-
pen; und so wird sich sein Bild hunderten, die als Schüler
seinen Worten gelauscht und als Freunde mit ihm verkehrt
haben, unauslöschlich eingeprägt haben. Der Eindruck seiner
Persönlichkeit wird seine zeitliche Erscheinung lange über-
leben, was er dauerndes gedacht und geschaffen hat, wird der
Fortgang der Geschichte immer heller an^s Licht bringen.
Wenden wir uns nun von Baur's Persönlichkeit zu seinen
Schriften , um den Gang seiner wissenschaftlichen Entwicklung
eingehender zu verfolgen, so können wir unter denselben fünf
Gruppen unterscheiden. Die erste enthält die Jugendarbeiten,
welche Baur's Eintritt in's theologische Lehramt vorangehen,
die zweite die dogmatisch -symbolischen, die dritte die dog-
mengeschichtlichen Werke, die vierte die historisch-kritischen
Untersuchungen über das Urchristenthum und die neutesta-
mentlichen Schriften, die fünj%e die umfassenden kirchenge-
schichtlichen Darstellungen und die mit ihnen in Verbindung
stehenden Erörterungen. Diese fünf Klassen von Schriften
vertheilen sich zwar nicht durchaus an verachiedene Zeitab-
schnitte und greifen auch ihrem Inhalt nach vielfach in einan-
der ein ; aber doch hat jede derselben in der Hauptsache ihre
eigenthümliche Aufgabe, in jeder stellt sich der Verfasser von
einer besonderen Seite dar, und einer jeden hat er seine Thä-
tigkeit während eines längeren oder kürzeren Zeitraums zwar
nicht ausschliesslich, aber doch vorzugsweise gewidmet.
Die erste Arbeit, welche Baur der Peffentlichkeit übergab,
ist eine Recension von Kaiser's Biblischer Theologie, die er
wahrscheinlich i. J. 1817 als Tübinger Repetent verfasste; sie
Zeller, Vorträge und AbhandL 27
418 Ferdinand Christian Baor.
erschien 1818 im zweiten Band von Bengel'a Archiv S. 656
717 anonym. Uns ist diese Abhandlung desshalb von In-
teresse, weil sie uns den wissenschaftlichen Standpunkt, den
ihr Verfasser damals erreicht hatte, erkennen lässl Dieser
Standpunkt lässt sich im allgemeinen als ein philosophisch
gefärbter Supranaturalismus bezeichnen. Einerseits verlangt
Baur schon hier, dasa die jüdische und die christliche Beligion
in einen umfassenderen geschichtlichen Zusammenhang gestellt
werden; er will auf allgemeinere Ansichten über das Wesen
der Religion zurückgehen, die Stufen ihrer Entwicklung unter-
scheiden, dem Judenthnm und dem Christenthum ihre Stelle
innerhalb derselbea anweisen ; er hat es mit Einem Wort auf
eine universelle religionsphilosopHsche und religionsgeschicht-
liche Behandlung des Gegenstandes abgesehen, und er hat in
beiden Beziehungen bereits Ober Kenntnisse und Gedanken zu
verfligen, durch die er, sich seinem rationalistischen Gegner
entschieden überlegen zeigt. Andererseits aber ist er doch
von einer scharfen Fassung und einer befriedigenden Beant-
wortung der religionsphilosophischen Grundfragen noch weit
entfernt, und ebensowenig wagt er auch nur annähernd die
Folgerungen zu ziehen, welche sich aus jeder philosophisch
freien Behandlung der Religion &r die pcaitive Religion er-
geben. Die wahre Religion, sagt er, gehe aus den Ideen der
theoretischen Vernunft hervor, sie dürfe aber nicht bloa Sache
der Theorie und Speculation sein, sie müsse auch mit den
Ideen der praktischen Vernunft in Verbindung gesetzt werden,
so wenig sie sich auch auf blosse Moral zurückführen lasse;
auch die Phantasie endlich und das Gefühl müssen einen An-
theil zu ihr geben, weil allfö, was lebendig und anschaulich
erkannt werden und einen kräftigen Einfluss auf den Willen
äussern solle, durch sie hindurchgehen müsse; die Religion
müsse den Menschen in allen Beziehungen seines Wesens in
Anspruch nehmen — was unstreitig ganz wahr, aber eben
noch sehr unbestimmt ist. Die allgemeine Quelle dieser Re-
ligion findet er nun zunächst in der Vernunft, und demgemäss
sucht er auch die geoffenbarten Religionen mit den heidnischen
in geschichtlichen Zusammenhang zu bringen; er giebt auch zu.
'"»""1 ,n •" • M "
Ferdinand ChristiaxL Baur. 419
dass manchen heidnischen Religionen die Einheit des Göttlichen
nicht fehle, und sieht ihren unterscheidenden Charakter nicht
sowohl darin, dass sie polytheistisch waren, als vielmehr darin,
dass sie als blosse Naturreligionen nur verschiedene Formen
des Pantheismus darstellten. Im besonderen unterscheidet er
vier Stufen der Religion: die Religion der Sinnlichkeit, der
Phantasie, des Verstandes und der Vernunft, sieht die ei-ste
in den niedersten Religionsformen, die zweite in der homeri-
schen und hesiodischen Götterwelt dargestellt, die dritte in
der orientalischen und in der griechischen Religion, wenn
man diese in ihrem inneren Zusammenhang denke, die vierte
neben der jüdischen und christlichen Religion auch bei Plato
und anderen Philosophen. Aber diese Anerkennung des ge-
meinsamen im Ursprung und Inhalt aller Religionen hindert
ihn nicht, die besonderen Ansprüche einiger derselben gleich-
falls zuzugeben. Vernunft und Offenbarung, glaubt er, schliessen
sich nicht aus: weder die eine noch die andere brauche die
einzige Quelle der Religion zu sein; man müsse freilich eine
ewige allgemeine Offenbarung der Gottheit in verschiedenen
Formen und mit verschiedenen Graden der Realität zugeben,
aber man brauche desshalb eine unmittelbare Offenbarung der-
selben nicht zu läugnen. Wie es sich hiemit in einem ge-
gebenen Falle verhalte, das lasse sich nur durch historische
Untersuchungen entscheiden. Diese scheinen ihm aber auf
seinem damaligen Standpunkt durchaus für die Annahme
einer solchen unmittelbaren Offenbarung zu sprechen. Er
nimmt nicht blos die alt- und neutestamentliche Religions-
lehre gegen Kaiser's oberflächliche Ausstellungen in Schutz,
sondern er vertheidigt auch die durchgängige Glaubwürdigkeit
der evangelischen Geschichte, indem er die Annahme ihrer
blos mündlichen üeberlieferung und die mythische Erklärung
mancher evangelischen Erzählungen bestreitet. Die Möglich-
keit von Mythen will er zwar auch für dieses Gebiet im all-
gemeinen einräumen: wo eine Geschichte sich mündlich fort-
pflanze, wo ihr Inhalt Gefühl und Phantasie in hohem Grade
in Anspruch nehme und mit Vorstellungen in Verbindung
27*
'Tl ^jT'
420 Ferdinand Christian Baur.
stehe, welche sich bereits zu einem gewissen System aus-
gebildet hatten , sei die Entstehung von Mythen sehr begreif-
lich. Aber in unsere Evangelien sollen solche keinen Eingang
gefunden haben. Wesentliche Widersprüche sollen in ihren
Berichten nicht zu finden sein, untergeordnete Abweichungen
thun der Wahrheit derselben in der Hauptsache keinen Ein-
trag; die Wunder gereichen dem Kritiker auf seinem damaligen
Standpunkt noch nicht zum Anstoss, und die Beglaubigung der
evangelischen Berichte scheint ihm viel zu gut, um auch nur
die Kindheitsgesphichten als sagenhaft preiszugeben. Dass
der Gegner vollends die Erzählung von der Auferstehung unter
die historischen Mythen rechnet, ist ihm völlig unbegreiflich,
und was man später Strauss und ihm selbst so oft entgegen-
gehalten hat, das macht er in der Abhandlung, von der wir
reden, mit allem Nachdruck geltend: „so gewiss die Ent-
stehung einer christlichen Kirche nur durch den festen Glau-
ben an den Auferstandenen möglich war, so gewiss habe auch
dieser Glaube auf keinem anderen Grunde beruhen können,
als auf der historischen Wahrheit der Auferstehung Jesu."
Wir sehen, Baur hatte damals kaum die ersten unsiche-
ren Schritte nach der Richtung hin gethan, die er später mit
so rückhaltsloser Entschiedenheit und so grossem Erfolg ein-
geschlagen hat. Er bemüht sich wohl bereits um philoso-
phische Bestimmungen über das Wesen und die Hauptformen
der Religion; er hat unverkennbar umfassendere religions-
geschichtliche Studien gemacht; er erkennt es an, dass auch
die geoffenbarten Religionen von dem Zusammenhang der
ganzen Religionsgeschichte nicht losgerissen werden dürfen.
Aber er wagt es noch nicht, sie wirklich aus diesem Zusam-
menhang zu erklären: die Voraussetzung der übernatürlichen
Offenbarung und des Wunders ist für ihn durch die histori-
schen und philosophischen Gesichtspunkte, welche in Wahr-
heit mit ihr unverträglich* sind, noch nicht erschüttert, die
kritischen Bedenken, welche er später mit so grossem
Scharfsinn geltend zu machen wusste, werden hier noch mit
den herkömmlichen Mitteln beseitigt. Die wissenschaftliche
,-j._-__,,^ _____,--., ;--T •- -'--&-
Ferdinand Christian Baur. 421
Ausrüstung des Theologen ist theilweise eine andere und
höhere, als man sie in supranaturalistischen Kreisen zu finden
gewohnt ist, aber die theologischen Ergebnisse sind wesentlich
die gleichen. Wie Semler aus dem hallischen Waisenhause
und Kant aus einer königsberger Pietistenfamilie, so ist Baur
aus der alten tübinger Schule eines Storr und Bengel her-
vorgegangen.
Vergleichen wir nun mit der eben besprochenen Abhand-
lung die Schrift, durch welche sich Baur sechs Jahre später
zuerst unter seinem Namen in die wissenschaftliche Welt ein-
führte: „Symbolik und Mythologie oder die Natun-eligion des
Alterthums" (1824 f. 3 Bde.), so springt uns sofort ein ausser-
ordentlicher Fortschritt, nicht blos an wissenschaftlicher Kraft
und schiiftstellerischer Kunst, sondern auch in Betreff des
philosophischen und historischen Standpunkts, in die Augen.
Diese Schrift will die religionsgeschichtlichen Fragen, mit denen
wir Baur schon in seiner ersten Arbeit sich beschäftigen sahen,
ihrer Lösung näher bringen, indem sie die sogenannten heid-
nischen Eeligionen nach ihrem gemeinsamen Wesen und in
ihren bedeutendsten geschichtlichen Erscheinungen darstellt.
Hiefür geht sie nun aber weit gründlicher, als ihr Verfasser
diess früher vermocht hätte, auf den Begriff der Eeligion
und die Eigenthümlichkeit des religiösen Bewusstseins zurück.
In einer „philosophischen Grundlegung" bespricht Baur zu-
nächst ausführlich und eindringend die Begriffe des Symbols,
des Mythus und der Allegorie; er weist die Quelle dieser
Bildungen einerseits in der Vernunft, andererseits in der Phan-
tasie nach, welche die Vemunftideen in ein sinnUches Gewand
hülle, und bestimmt ihr Verhältniss im allgemeinen dahin,
dass das Symbol die Darstellung einer Idee durch ein ein-
faches, oder genauer, durch ein nihendes, im Räume ge-
gebenes Bild sei, der Mythus die bildliche Darstellung einer
Idee durch eine Handlung, einen zeitlichen Verlauf; dass die
Form des Symbols die Natur sei, die Form des Mythus die
Geschichte und die in der Geschichte handelnden Personen;
dass endlich die Allegorie, zwischen diese beiden Formen in
]
422 Ferdinand Christian Baur.
die Mitte tretend, die bildliche Darstellung einer Idee durch
eine Handlung sei, welche nach ihren einzelnen Momenten in
die Sphäre der sinnlichen Anschauung falle, oder doch fallen
könne. Das wesentlichste bei allen Mythen und Symbolen ist
daher für Baur die Idee, welche sie darstellen; und es lässt
sich nicht läugnen, dass er selbst in seiner Symbolik diesen
idealen Gehalt derselben nur zu einseitig in's Auge fasst, dass
die Neigung, von welcher er sich auch in der Folge nur all-
mählich befreit hat, in den religiösen Vorstellungen vor allem
gewisse allgemeine Ideen , wohl auch auf Kosten ihrer eigen-
thümlichen geschichtlichen Bestimmtheit, zu suchen, hier noch
am stärksten hervortritt. Aber doch ist er weit entfernt, die
Nothwendigkeit des bildlichen Ausdrucks der Ideen in Sym-
bolen und Mythen zu verkennen. Er zeigt vielmehr ausdrück-
lich ihren Grund darin auf, dass in der Entwicklung des Ein-
zelnen, wie der Menschheit, das konkrete dem abstracten, die
Anschauung dem Begriff vorangehe; und er leitet es aus die-
sem Grund ab , dass die religiöse Erkenntniss nicht allein in
ihren Anfängen mit dem Leiblichen beginne, und nicht blos
bei der Masse des Volks im ganzen diesen Charakter fort-
während behalte, sondern dass auch der Philosoph einen ge-
wissen bildlichen Schematismus seiner Begriffe nicht entbehi-en
könne, und dass auch bei ihm die der Vernunft angeborenen
Ideen des Absoluten, durch die Phantasie beseelt, sich in Bild
und Gestalt kleiden müssen, wenn sie diejenigen Gefühle und
Zustände im Menschen am*egen sollen , die das Wesen der
Keligion ausmachen. Symbole und Mythen erscheinen ihm
daher als die nothwendige Form der Religion; durch sie ver-
mittelt die Phantasie den Uebergang der Philosophie in die
Religion, jene Durchdringung von Vernunft, Phantasie und
Verstand, durch die sie allein sich auch des Gefühls und des
Willens bemächtigen, den ganzen Menschen ergi*eifen, die Ver-
standeserkenntniss in einen behaiTlichen Zustand verwandeln
kann. Wegen dieser ihrer Bedeutung fallen nun auch die
Mythen unter den Begriff der Offenbarung. Denn eine Offen-
barung ist, wie hier bemerkt wird, überall, wo überhaupt das
Ferdinand Christian ßaur. 423
Göttliche auf eine neue und eigenthümliche Weise die Tiefe
des Gemüths bewegt, und sich in der Sphäre des Bewusst-
8eins darstellt; und wenn man gewöhnlich zwischen nattU*-
licher und übernatürlicher, objektiver und subjektiver Offen-
barung unterscheidet, so erklärt Baur, diesen Gegensatz könne
er nicht anerkennen: die Beligion sei unmittelbar durch die
geistige Natur des Menschen gegeben, ihre positive Verwirk-
lichung aber finde sie in der Geschichte; sei nun die Ge-
schichte im ganzen eine Offenbarung der Gottheit, eine gött-
liche Erziehung des Menschengeschlechts, so müsse auch die
Mythologie in dieser grossen Offenbarungsreihe ein Glied bil-
den; die eine Beligion unterscheide sich von der andern, die
•eine Offenbarung von der andern nur durch den Grad ihrer
Wahrheit. — Diess lautet nun doch ganz anders, als jener
frühere Versuch, neben der allgemeinen Offenbarung noch für
eine besondere, unmittelbare Baum zu schaffen; jetzt ist diese
in jene mit aufgenommen, d. h. sie ist als eine übernatürliche
aufgegeben. Baur hatte eben in der Zwischenzeit nicht allein
sein religionsgeschichtliches Wissen erweitert, sondern auch
seine religionsphilosophischen Begriffe vertieft und geschärft,
er hatte namentlich Schleiermacher's Dogmatik und ihre phi-
losophischen Grundlage sich aufs gründlichste angeeignet,
und durch dieses System für seine Auffassung der Beligion
erst wirkliche Einheit und Folgerichtigkeit gewonnen.
An Schleiermacher's Hand untersucht er nun weiter das
Wesen und die Hauptformen der Beligion. Jenes findet er in
dem absoluten Abhängigkeitsgefühl; was diese betrifft, so be-
trachtet er als den Hauptgegensatz den der ethischen und
der Naturreligion, schiebt aber zwischen beide, von seinem
Vorgänger abweichend, noch die „positiven Beligionen" (Juden-
thum und Muhamedanismus) in die Mitte ; mit dieser Theilung
kreuzt sich dann, ähnlich wie bei Schleiermacher, die Unter-
scheidung von niederem Polytheismus (Schleiermacher's Feti-
schismus), höherem Polytheismus und Monotheismus ; nur dass
er die zwei ersten Formen in Eine Gattung zusammenfasst,
zwischen sie und den Monotheismus den Dualismus einschiebt.
.V*
y
424 Ferdinand Christian Baor.
und SO drei Hauptfonnen gewinnt, welche er auch, in der
früheren Weise, die Religion der Einbildungskraft, des Ver-
standes und der Vernunft nennt. Beide Theilungen stehen ir
keinem ganz klaren Verhältniss; von welcher man aber aus-
gehen mag, immer nimmt doch das Christenthum die höchste
Stufe ein: sein Monotheismus steht als Idealismus dem pan-
theistischen Realismus der Naturreligionen, seine ethische Teleo-
logie dem Naturcharakter der letzteren gegenüber; wenn sich
die Offenbarung des Göttlichen in ihnen an äussere Erschei-
nungen, und auch im Judenthum und Muhamedanismus an
äussere Auktorität knüpft, so ist dem Christenthum, nach
Baur, die Tendenz eigen, die in einer äusseren Geschichte
aufgestellte Offenbarung als eine Thatsache des innersten Selbst-
bewusstseins zu construiren, das äusserlich ei*schienene als
einen reinen Akt der geistigen Selbstthätigkeit zu erfassen:
es wird durch die äussere Auktorität der Offenbarung zwar
angeregt und entwickelt, aber es ist gleichwohl von derselben
so unabhängig, dass der Glaube an die äussere Offenbarung
gar nicht zu Stande kommen kann, wenn nicht das ihm ent-
sprechende religiöse Bewusstsein als das vorangehende gedacht
wird. Auch sein Zusammenhang mit der Person seines Stif-
ters ist nicht blos ein äusserer und historisc&er, sondern ein
wesentlicher und innerer: das Christenthum lässt sich von
der Person Christi nicht trennen , nur um ihretwillen ist viel-
mehr die in demselben mitgetheilte Offenbarung als die höchste
anzusehen, und nur durch die eigenthümliche Würde und Thä-
tigkeit Christi als des Erlösers lässt sich sein Zweck im Gan-
zen und in den Einzelnen en*eichen.
Ich glaubte auf diese religionsphilosophischen Grundlagen
der „Symbolik und Mythologie" etwas näher eingehen zu
sollen, weil sich nicht allein der damalige Standpunkt des
Verfassers in ihnen am deutlichsten ausspricht, sondern weil
auch auf seine späteren Arbeiten und auf die Stellung, welche
er in denselben zur positiven Religion und ihrer Ueberlieferung
einnimmt, von hier aus ein Licht fällt. Dagegen werde ich
mich über die geschichtlichen Untersuchungen, welche ihrem
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Ferdinand Ghristiaa Baur. 425
Umfange nach den Hauptinhalt jenes Werks bilden, kürzer
fassen dürfen.
Wie Baur in seiner philosophischen Auffassung der Reli-
gion Schleiermaeher folgt, so haben auf seine historische Be-
handlung derselben Creuzer (durch seine „Symbolik**) und
einige geistesverwandte Schriftsteller, Ritter (mit seiner »Vor-
halle*), V. Hammer u. a. massgebenden Einfluss; mit Creuzer
war er auch währen* der Ausarbeitung seines Werks in per-
sönliche Verbindung getreten, und hatte ihm über seine Sym-
bolik eingehende Bemerkungen mitgetheilt, über welche dieser
in einem mir vorliegenden Brief (24. Jidi 1823) schreibt, er
würde sie gerne der französischen Uebersetzung seiner Sym-
bolik beifügen, wenn Baur nicht mit einer eigenen Schrift über
diese Gegenstände beschäftigt wäre. Hatte sich aber der
letztere selbst zu Schleiermacher schon in jener Zeit keines-
wegs blos als ein unselbständiger Schüler verhalten, so ist
diess Creuzer gegenüber noch weit weniger der Fall. Eines-
theils fehlt es der creuzer'schen Symbolik an jener philosophi-
schen Grundlegung, welche der baur'schen heute noch einen
eigenthümlichen Werth giebt, für welche aber Creuzer seiner
ganzen Individualität nach nicht gemacht war; er selbst be-
kennt in dem vorhin angeführten Briefe , dass jenes dialekti-
sche Veimögen, welches Begriffe sichtet und sondert, nicht
eben mit besonderer Vorliebe von ihm geübt werde, und jeder
Leser seiner Symbolik wird diess nur zu sehr bestätigen müs-
sen. Andemtheils glaubte sich Baur, dessen gelehrte Hülfs-
mittel und dessen Belesenheit damals noch beschränkter waren,
als die seines Vorgängers, für seine Forschung mehr auf die
Schriftsteller der classischen Zeit, als auf die Ansichten und
Mittheilungen aus den spätesten Jahrhunderten des Alterthums
stützen zu müssen; und im Resultat wich er von Creuzer
hauptsächlich darin ab, dass er die auch von ihm angenom-
mene gemeinsame Quelle der orientalischen und griechischen
Mythen nicht „in dem engen und isolirten Nilthale**, sondern
in dem freien Hochland des mittleren und östlichen Asiens
suchte. Dazu kommt das Formelle seiner Darstellung, worin
426 FerdinaiiÄ ChrJatiin Baur.
sich wieder vor allem der schleiermacber'sdie Einfluss geltoid
macht. Nachdem der erste Theil Beiner Schrift in der oben
besprochenen philosophischen Grundl^ung die religionsphi-
losophischen, in einer historischen Unterauchung über den Zu-
sammenhang der alten Volker und Religionen und über die
Epochen des mythischen Glaubens die geschichtlichen leiten*
den Gesichtspunkte festgestellt hat, behandelt der zweite
in zwei Bänden nach Tei^leichender Uethode die indische,
P«
8t
Ferdinand Christian Banr.
gleichung der Mythen oft das entlegenste, ohne d
Sonderung der Vorstellungen und ohne das wünsch
kritische Misstrauen gegen die Berichte, gleichsetz
einen gemeinsamen Ursprung zurückfuhrt, und wenn
fasser sich hiefiir nur zu oft ohne den sicheren Com] i
vergleichenden Sprachkunde, zu der eben damals g< i
der Gnind gelegt wurde, auf das ti-ügerische Fahr^ i
Etymologie wagt, und sich hier durch scheinbare,
reiche Combinationen in pfadlose Weiten verlocken las
diese Schwächen von Baur's Erstlingswerk müssen '
vergegenwärtigen, wenn wir theils den Fortschritt se
teren wissenschaftlichen Entwicklung seinem vollen l
nach würdigen, theils auch die Fäden, welche dies
seinem früheren Standpunkt verknüpfen, im Auge i
wollen.
Nach der Vollendung seines mythologischen Werk
sich Baur, zu dessen Untemchtsfächem in Blaubei
Geschichte gehörte, einer historischen Arbeit zu, ^ i
zunächst noch nicht für den Druck bestimmt hatte;
handelte namentlich die ägyptische und die jüdische Gc i
und war bis in die griechische vorgerückt, als sie du] !
Verfassers Berufung nach Tübingen unterbrochen wur
dieser Arbeit sind die Abhandlungen über die urspi i
Bedeutung des Passahfestes und des Beschneidungsiii
hebräischen Sabbath und die Nationalfeste des mo i
Cultus geflossen, welche später (Tüb. Zeitschr. 1832, ] ,
3, 125 ff.) veröfifentlicht wurden, und welche besonde :
halb unsere Beachtung verdienen, weil sie zeigen, wie
fasser schon durch den Gang seiner religionsgeschic I
Forschungen dem Gebiete zugeführt wurde, auf dem e
die reichsten Früchte erndten sollte. Im Anschluss
Untersuchungen seiner Symbolik leitet er hier die wie
Gebräuche der jüdischen Religion aus Anschauungen i!
ten her, welche ihr nicht allein mit der ägyptischen, i
zum Theil auch mit den vorderasiatischen und der ;
sehen gemein sind, und welche im Judenthum nur (i
T^«!
428 Ferdinand Christian Baur.
sondere Beziehung auf das eigenthümliche Verhältniss des
jüdischen Volks zu Jehovah erhalten haben ; er reiht sooüt die
nächste Vorgängerin der christlichen Beligion, seinen längst
ausgesprochenen Grundsätzen gemäss, auch mit dem, was sie
selbst nur aus einer höheren Offenbarung abzuleiten weiss, in
den allgemeinen religionsgeschichtlichen Zusammenhang ^n.
Es war nur ein weiterer, durch die gleichen Grundsätze ge-
forderter Schritt auf demselben Wege, wenn auch das Chri-
stenthum ebenso behandelt, auch an seine geschichtliche Er-
klärung Hand angelegt wurde. Hatte er es doch auch in
seinen Untersuchungen über die heidnischen Religionen nie
aus den Augen verloren, war er doch in seiner ganzen Reli-
gionsphilosophie der Schüler des Mannes und des Werkes,
welche tiefer, als irgend eine andere Zeiterscheinung, in die
christliche Theologie einzugreifen bestimmt waren. Baur hätte
sich daher der Aufgabe, das Christenthum in den Kreis seiner
Untersuchungen aufzunehmen, wohl schwerlich lange entziehen
können, und er würde ihr bei dem tiefen theologischen In-
teresse, das in ihm lag, ohne Zweifel die eindringendste Arbeit
gewidmet haben , wenn sie auch nicht durch die neue Wen-
dung seines Lebensganges, welche mit seiner Versetzung in
die Tübinger theologische Facultät eintrat, zur unmittelbaren
Berufspflicht für ihn geworden wäre. Jetzt aber bekam sie
natürlich für ihn noch eine viel stärkere Dringlichkeit*; durch
das neue Amt wurde seine ganze wissenschaftliche Thätigkeit
für diese Aufgabe zusammengefasst , die Arbeit des Lehrers
und des Schriftstellers wurde Eine und dieselbe, die For-
schungen des Gelehrten erhielten durch ihre sofortige Ver-
werthung im Unterricht die nachhaltigste Förderung und die
für eine durchschlagende Wirkung fast unentbehrliche Unter-
stützung. Baur ist so gerade im rechten Augenblick an den
Platz gestellt worden, auf dem er das, was innerlich in ihm
gereift war, äusserlich zu bethätigen und in bestimmter Be-
rufsarbeit weiter zu entwickeln hatte.
Ehe wir aber zusehen, in welcher Art er diese seine
wissenschaftliche Hauptaufgabe gelöst hat, scheint es passend,
Ferdinand Christian Baur. 429
seinen dogmatischen Standpunkt kennen zu lernen, wie
sich dieser im ersten Jahrzehend seiner Tübinger Wirksamkeit
gestaltet hat.
Es war diess zunächst, wie schon früher bemerkt wurde,
der des schleiermacher'schen Systems. Dass er jedoch auch
Schleiermacher nicht unbedingt zu folgen gesonnen sei, diess
sprach Bauf schon im Jahr 1827 in einem Programm * aus,
dessen Inhalt er bald nachher in der Tübinger Zeitschr. f.
Theol. 1828, 1, 220 ff. wiederholte und erläuterte. Schleier-
macher wird hier mit den Gnostikern zusammengestellt, sein
System, wie die ihrigen, als eine Form jenes „ideellen Batio-
nalismus^ bezeichnet, welcher das Ghristenthum zwar seinem
ganzen Charakter nach als eine natürliche Entwicklungsform
betrachte, demselben aber zugleich eine so hohe und eigen-
thümliche Stellung anweise, dass es zu allem vorangegangenen
nicht blos einen graduellen, sondern einen wesentlichen Gegen-
satz bilde, und das natürliche zugleich ein übernatürliches sei ;
es wird dann aber auch von ihm, wie von jenen, behauptet,
das geschichtliche gehe in ihm mit dem idealen nicht wirklich
zur Einheit zusammen, von Hause aus nur aus dem religiösen
Selbstbewusstsein sich entwickelnd, trete es in Wahrheit auch
nie aus der Sphäre desselben hinaus, es könne seinen ideali-
stischen Charakter nie verläugnen, und auch Christus, in
welchem nach Schleiermacher das urbildliche geschichtlich
geworden sein sollte, habe nach der Consequenz des Systems
eine rein ideale Bedeutung: der historische Christus könne
nur derjenige sein, welcher die mit dem idealen Christus rein
aufgehende Idee der Erlösung , wie sie sich aus dem religiösen
Bewusstsein des Menschen auf eine bestimmte Weise von selbst
entwickelt, ausgesprochen und dadurch eine religiöse Gemein-
schaft gestiftet habe, und nur desshalb könne Schleiermacher
die Christologie unter seine erste Form dogmatischer Sätze,
unter die Aussagen des frommen Selbstbewusstseins , stellen,
weil Christus nach dem eigentlichen Sinn der schleiermacher'-
schen Lehre keine historische Person, sondern eine Idee sei,
die eine eigenthümliche Entwicklungsstufe des menschlichen
430 Ferdinimd Chriatian Baur.
Bewusstseins bilde. Nach Baur's Absicht war damit kein
Tadel gegen Schleiennacher, sondern nur das Bedauern darüber
ausgesprochen, dass es diesem nicht gefallen habe, sich aber
das Verhältniss des historischeit und idealen Christeothums
bestimmter zu erklären; Baur fand es durchaus natürlich,
dasB, je vollkommener und selbständiger das ideale Christen-
thum in der schleiermaciier'schen Glaubenslehre sich ausge-
bildet habe, das historische nicht dieselbe Wahrheit und Kea-
lität behaupten könne, welche es sonst hätte (Tüb. Zeitschr.
a. a. 0. S. 254). Audi die Zusammenstellung mit den Gnosti-
kern war in seinem Munde nicht ein Vorwurf, sondern ein
Lob. Indessen begreift es sich vollkommen, dass der Theolog,
welcher in der Einleitung zum „christlichen Glauben" die
gnostische Ketzerei ausdrücklich vom Christenthtun aus^-
schlossen hatte, sich durch diese Zusammenstellung nicht sehr
erbaut fühlte, und in eine Auslegung seiner Christologie sich
nicht zu finden wusste, weiche seinem System um so gefährlicher
werden musste, je unläugbarer es ist, dass es durch dieselbe
an seiner verwundbarsten Stelle getroffen, dass jene kunst-
volle Verschlingung des philosophischen und des positiv dog-
matischen Elements, auf der seine theologische Eigenthtkm-
liehkeit beruht, von Baur's Scharfblick gerade im abschliesen-
den Mittelpunkt des Ganzen in ihrer Unhaltbarkeit durchschaut
war. Auffallender ist es, dass Schleiennacher in söinen Send-
schreiben (Werke zur Theol. U, 582. 627 f.), indem er sich
über die Missverständnisse seiner verschiedenen Beurtheiler
beklagt , den ersten Anhänger , den er in Schwaben gehabt
hat, denselben, welchem sein Schleiermacherianismus beinahe
den Weg zur Professur versperrt hätte, mit den Gegnern aus
der bisherigen Tübinger Schule, einem Steudel u. s. w. unter-
schiedslos zusammenwirft, wiewohl dieser sich ausdrücklich zu
den Grundlagen der schleiermacher'schen Religionsphüosophie
bekannt hatte. '^) Man sieht eben auch hieraus, wie unbequem
*) Auch Baur selbst wunderte sich darüber. „Im neuesten Hetl der
UlLnaim'Bcbeii Zeitschrift" — schreibt er den 3. Jtüi 1829 einem Freunde
Ferdinand Christian Baur.
ihm eine Kritik wurde, welche gegen die Postul
christhchen Bewtisstseins den Geist und die wissen
Consequenz seines eigenen rehgionsphilosophischei
aufbot.
Gehen wir von dieser kritischen Arbeit zu de
fort, welches Baur den unmittelbarsten Anlass zur '.
seines dogmatischen Standpunkts darbieten musste, z
fassenden Gegenschrift gegen Möhler's Symbolik,*)
wir ihn zwar fortwährend auf dem Boden der schleierma
Theologie aber mit dieser verschmelzen sich jetzt
Ideen, dessen Lehre Baur, wie schon oben bemerl
nächst durch die Vorlesungen über die Philosophie de
kennen gelernt hatte. Wenn diese Schrift den protesi
Begiiff des Glaubens , im Unterschied vom katholische
bestimmt^ dass derselbe weder im Erkenntniss- noch in
vermögen, sondern in dem dazwischen liegenden, im
wusstsein, als dem Mittelpunkt des menschlichen Wese:
Sitz habe, und in der reinen Hingebung an das von
gebene bestehe (S. 260 f. 288) , so ist diess nichts ai
Schleiermacher's Begiiflf der Religion. Wenn sie das ei
Princip des Protestantismus in dem Satz findet, dass das
liehe überhaupt vor Gott an sich nichts sei, keine
unabhängige Selbständigkeit und Bealität habe, aus
Satz aber sofort das weitere ableitet, dass der me
Geist für sich zwar der endliche Geist sei, sein wahn
aber nur in der Identität mit Gott, als dem absolut«
habe, und wenn sie beifügt, dieser seinerseits sei der
Geist nur dadurch, dass er in allen endlichen Geis
— „ist Schleiermacher mit den Tübingern ziemlich unsäuberlich
Mich ^scheint er für den getreuesten Jünger der Tübinger Schule
worüber man in Tübingen selbst nicht ganz die gleiche Meinung
*) Der Gegensatz des Katholicismus und Protestantismus
1. Aufl. 1833, 2. Auflage 1836. Ich dtire nach der zweiten Au
welche {auch der wesentliche Inhalt einer weiteren, 1834 ers(
Streitschrift^'(„Erwiderung" u. s. w.) aufgenommen ist.
432 Ferdinand Christian Baur.
immanente Ursache ihres geistigen Seins und Wirkens sei
(S* 49 ff.), so ist hier Schleiermacher's schlechthiniges Ab-
hängigkeitsgefühl mit HegeFs Lehre vom absoluten Geist und
seiner Offenbarung im endlichen Geiste verbunden. Wenn im
Zusammenhang damit die Willensfreiheit als Wahlfreiheit be-
seitigt, die Prädestination im strengsten, supralapsarischen Sinn
festgehalten, zugleich aber die Härte der calvinischen Präde-
stinationslehre dadurch entfernt wird, dass das Böse für etwas
blos negatives erklärt, der Gegensatz der Verworfenen und Er-
wählten auf die natürlichen Stufenuntersehiede im geistigen
Leben der Menschheit zurückgeführt wird (a. a. 0. und S. 119 ff.
138 ff. 166 ff. 216), so ist diess ganz und gar der schleiermacher*-
sche Determinismus. Wenn Baur die Vorstellung vom Sündenfall
als einer geschichtlichen Thatsache und von einem ihm voran-
gehenden Stand der Vollkommenheit für undenkbar erklärt,
wenn er sagt, was die geschichtliche Auffassung in zwei ent-
gegengesetzte geschichtliche Zustände auseinanderlegt, sei auf
dem Standpunkt der Idee der Gegensatz des allgemeinen und
besondem, der Idee und der Wirklichkeit, der endliche Geist,
an sich eins mit dem göttlichen, trete in sein natürliches Sein
heraus, sei aber in dieser Natürlichkeit seines Wesens und
^ Willens böse, und müsse sie ebendesshalb aufheben, um zur
I Einheit mit seinem Begriff zurückzukehren (S. 208 ff. 189),
so wird niemand in diesen Sätzen die entsprechenden Be-
stimmungen der hegerschen Religionsphilosophie und zugleich
die Erinnerung an Schleiermacher's Kritik der Lehre vom Ur-
zustand und der Erbsünde verkennen. So wird auch S. 597
I SchleiermacHer's Begründung der Glaubenslehre aufs christ-
liche Bewusstsein mit dem hegel'schen Satze zusammengestellt,
dass die Geschichte die lebendige Fortbewegung des Begi-iffs
1^ sei und der absolute Geist erst durch ihre Vermittelung zu
seinem eigenen Bewusstsein sich emporarbeite. Noch manches
andere liesse sich aus unserer Schrift beibringen, um diese
Verknüpfung der hegePschen Religionsphilosophie mit der
schleiermacher'schen Dogmatik zu beweisen. Noch bestimmter
hat sich aber Baur hieiHber um dieselbe Zeit (1835) an einem
^
Ferdinand Cfaristian Baur. 433
anderen Orte, in den letzten Abschnitten seiner „christlichen
Gnosis^ erklärt, und diese Erklärung ist für uns auch dess-
halb von besonderem Werthe, weil sie zugleich über den Sinn,
in welchem Baur selbst die hegel'schen Bestimmungen sich
aneignete; näheren Aufschluss giebt.
In Betreff Schleieiinachers wird hier nicht allein die
frühere Vergleichung mit den Gnostikem des zweiten Jahi-
hunderts festgehalten, und neben seiner Christologie auch mit
seiner Ansicht vom Verhältniss des Christenthums zum Juden-
thum begi-ündet, sondern sein ganzer Standpunkt wird eben-
sosehr auch dem hegel'schen näher gerückt. Sein Gottesbe-
griff ist allerdings, wie Baur ausfühi't, ein ganz abstrakter,
nur der allgemeine Gedanke der absoluten Causalität, er giebt
keine objektiven Bestimmungen und Unterschiede in Gott zu,
und trifft er auch durch seinen absoluten Determinismus mit
dem philosophischen Pantheismus zusammen, so kommt er
doch zu demselben nicht auf dem objektiven Wege, sondern
auf dem subjektiven, nicht vom Gottesbegriff, sondern vom
schlechthinigen Abhängigkeitsgefühl aus (a. a. 0. 627 ff'.). Aber
seine ganze Behandlung der Religion steht mit der hegel'schen
in naher Verwandtschaft. Auch Schleiermacher führt ja das
eigenthümlich christliche auf das allgemein religiöse zurück,
und unterscheidet die verschiedenen Religionsformen, um inner-
halb derselben dem Christenthum seinen Ort zu bestimmen:
er hätte darin nur etwas strenger verfahren dürfen, um eine
der hegel'schen analoge Construction des Christenthums als
der absoluten Religion zu gewinnen. Wie es bei diesem der
absolute Geist ist, der sich durch die verschiedenen Formen
der Religion hindurcharbeitet, um zum klaren Begriff seiner
^Ibst zu kommen, so ist es bei jenem das absolute Abhängig-
keitsgefühl, das verschiedene Momente durchläuft, um durch
die fortgehende Negation dieser vermittelnden Momente das
absolut bestimmende zu werden (S. 633 ff.). Dieser absolute
Charakter des Christenthums knüpft sich nun bei Schleier-
macher ganz und gar an die ürbildlichkeit des Erlösers. Aber
mit welchem Rechte, fragt Baur auch hier wieder (S. 638 ff.).
Zeller, Vorträge und Abhandl. 28
'■■■ ■ 'y^f^
434 Ferdinand Christian Baor.
wird die Person Jesu von Nazareth mit dem Erlöser id^iti-
ficirt? Auf geschichtlichem Wege lässt sich der Beweis für
eine absolute Vollkommenheit nie fuhren. Die Urbildlidikeit
des Erlösers ist eine religionsphilosophische Idee, nicht eine
geschichtlich erweisbare Thatsache. Diese Idee muss ihre Rea-
lität in sich selbst tragen, sie kann nicht erst dadurch wahr
werden, dass sie in der Person eines geschichtlichen Indivi-
duums historisch erscheint, sie fällt nur in die Sphäre des
Bewusstseins, hat nur eine ideelle Bedeutung. Auch das aber
kann man nicht sagen, dass sie (wie Schleiermacher behaup-
tet) in der Menschheit sich nicht hätte erzeugen können, wenn
sie nicht thatsächlich in einer unsündlichen und vollkommenen
Persönlichkeit gegeben war. Denn so gut die letztere, nach
Schleiermacher's eigener Annahme, ohne ein absolutes Wunder
entstehen konnte, ebenso gut konnte jedenfalls auch die erstere
ohne ein solches zum Bewussts^in kommen. Nothwendig war
nur, dass sie in irgend einem Einzelnen zuerst zum Bewusst-
sein kam, und dass Jesus dieser war, darin liegt seine histo-
rische Bedeutung. Aber dass er mehr als dieses, dass er das
Subjekt des vollendeten Gottesbewusstseins, urbildlich und ab-
solut unsündlich war, dafür kann es schlechterdings keinen
empirischen Beweis geben. Der urbildliche und der geschicht-
liche Chiistus sind daher immer zu unterscheiden, jener
schwebt über diesem in einer für die historische Erkenntniss
uneiToichbaren Höhe, und wie hoch wir auch die TreflFlichkeit
des letzteren steigern mögen: „die geschichtliche Betrachtung
kann uns immer nur den relativ besten zeigen, zwischen dem
relativ besten aber und dem absolut vollkommenen ist eine
Kluft, die die Geschichte nie überspringen kann." Ist nun
schon hiemit Schleiermacher's System eine Wendung gegeben,
durch welche es über sich selbst hinausgeführt wird, so spricht
es Baur im weiteren Verlauf auch geradezu aus, dieser Stand-
punkt der Subjektivität, eines absoluten Abhängigkeitsgefühls
ohne ein Absolutes mit objektivem Inhalt, müsse in den hegel'-
schen Standpunkt der Objektivität übergehen, indem er zu-
gleich anerkennt, dass dieser Uebergang von keinem Punkte
E==
Ferdinand Christian Baur. 435
aus näher und unmittelbarer geschehen könne, als vom Stand-
punkt der schleiennacher'schen Glaubenslehre (S. 618). Es
ist diess der Weg, welchen Baur selbst eingeschlagen hatte,
und auf welchem sich die neuere deutsche Wissenschaft über-
haupt in der Religionsphilosophie und Theologie bewegt hat
Das hegel'sche System selbst aber, zu dem er sich hiemit be-
kennt, bei dem es ihm aber durchaus nur um den religions-
philosophischen Inhalt zu thun ist, fasst Baur (a. a. 0. S. 700 ff.)
in seinen Grundzügen so auf. Seine allgemeinste Voraus-
setzung ist die Idee des Processes, durch welchen Gott als
der absolute Geist sich mit sich selbst vermittelt, der Satz,
dass Gott ohne eine innere, zu seinem Wesen an sich gehörige
Bewegung nicht als Geist, als denkende Thätigkeit, als leben-
diger, konkreter Gott gedacht werden könne, und dass das
endliche Bewusstsein nur ein Moment des zum Endlichen sich
bestimmenden absoluten Geistes selbst sei. Diese Bestimmung
ei-scheint Baur durchaus nothwendig und gerechtfertigt, wie
ja auch die Idee der Dreieinigkeit auf nichts anderes, als
einen solchen ewigen Process der Vermittlung Gottes mit sich
selbst zurückführe. Dass darum Gott einer zeitlichen Ent-
wicklung unterworfen werde, giebt er nicht zu; denn man
dürfe das sich entwickelnde Gottesbewusstsein nicht auf die
Menschengeschichte beschränken, man müsse vielmehr alle
Klassen von geistigen Wesen und alle die Weltentwicklungen,
welche der unsrigen in unendlicher Folge vorangiengen (da ja
Gott nie ohne Welt sein konnte), in seine Sphäre mit auf-
nehmen; Gott schaue in allen Geistern sich selbst an, und sei
als der aus allem Endlichen in sich zurückkehrende Geist
zugleich der ewig mit sich identische. Dagegen will er nicht
in Abrede ziehen, dass die gewöhnliche Vorstellung über die
Persönlichkeit Gottes (welche bekanntlich auch Schleiermacher,
und zwar viel bestimmter und bewusster, als Hegel, geläugnet
hat) mit dem von ihm vertretenen Gottesbegi-iff sich nicht ver-
trage. Aber dieser Einwiuf schreckt ihn nicht ab. Es komme hier
alles darauf an, sagt er, das pattiologische und das spekulative
Interesse, die populäre und die wissenschaftliche Form der Dar-
28*
436 Ferdinuid Christiaii Banr.
BtelluDg, woh] zu imterscheideii. Bei dem grossen Gewicht,
das man ao oft auf die Persönlichkeit Gottes l^e, mische
sich gar zu leicht das Interesse des Änthropopathismus und
Anthropomorphismus ein. Gott sei die ewige Liebe, wie auch
seine Persönlichkeit bestimmt werde. Sei Gott wahrhaft als
Geist gedacht, so sei er entweder als Geist unmittelbar auch
der persönliche, oder es sei nicht zu sehen, was zum Begriff
Gottes als des absoluten durch den Begriff des persönlichen
Ferdinand Christian Baur. 437
ein einzelnes Individuum, die Versöhnung keine zeitliche
That, sondern die ewige Bückkehr des Geistes zu sich und
seiner Wahrheit; nur der Glaube der Gemeinde bilde die Ver-
mittlung zwischen dem göttlichen und dem menschlichen in
Christus, die geschichtliche Voraussetzung dieses Glaubens sei
nur diess, dass die Einheit der göttlichen und menschlichen Na-
tur in Christus zuerst zum selbstbewussten Wissen wurde.
Dabei wird ausdrücklich bemerkt, diese Wahrheit sei von
Christus selbst nur in der Form der Vorstellung, nicht in der
adäquateren des Begriffs gewusst worden; aber seine geschicht-
liche Bedeutung soll dadurch nicht beeinträchtigt werden, weil
ja doch der Inhalt in beiden Foimen der gleiche sei; und
aus demselben Grunde stimmt Baur, welcher mit Hegel's
Behandlung der ausserchristlichen Beligiohen nicht ganz ein-
verstanden ist (a. a. 0. 721 ff.), mit der Stellung, die er dem
Christenthum als der absoluten Beligion anweist, durchaus
überein: die Form, in welcher dieses die religiöse Wahiheit
hat, ist zunächst zwar die Geschichte und Person des Gott-
menschen, als eines einzelnen Individuums, aber in dieser Form
ist zugleich das allgemeine enthalten, vor dem sie in der Be-
ligionsphilosophie zurücktritt.
Es war nun ohne Zweifel keine ganz leichte Aufgabe, mit
diesen Ansichten die Sache der protestantischen Kirchenlehre
gegen einen Gegner, wie Möhler, zu führen. Ich meinerseits
wüsste, wenn mir eine solche Aufgabe gestellt würde, nur
Einen Weg einzuschlagen , den rein historischen. Ich würde
nachzuweisen suchen, dass der Protestantismus, als eineeigen-
thümliche Gestalt des sittlichen und religiösen Lebens, die
höhere innere Berechtigung und die geschichtliche Noth wen-
digkeit für sich habe ; dass die dogmatischen Bestimmungen,
in denen er zuerst seinen kirchlichen Lehrausdruck fand, das,
was auch wir noch als wahr anerkennen müssen, in deijenigen
Form ausgesprochen haben, welche für jene Zeit die ange-
messene war, und dass sie, wenn man einmal die gemeinsamen
Voraussetzungen der altprotestantischen und der katholischen
Dogmatik zugiebt, so, wie sie sind, in ihrem Becht seien. Ich
488 Ferdinand Christiaa Baur.
würde aber nicht verbergen, dass diese Voraussetzungeii in
unserer Zeit ihren wissenschaftlichen Boden verloren haben;
dass der heutige Protestantismus mit dem altkirchlichen nicht
mehr unmittelbar identisch ist und sein kann; dass es sich
ffXr uns nicht mehr darum handeln kann, die Lehre der alten
Bekenntnisschriften als solche zu vertheidigen , sondern nur
darum, fiir die wesentlichen sittlich-religiösen Interessen, welche
in dieser Lehre den ftlr ihre Zeit passenden Ausdruck erhiel-
ten, die der heutigen Bildung entsprechenden wissenschaftlichen
Formen zu suchen. Ich würde mit Einem Wort nur den Pro-
testantismus als geschichtliches Ganzes unbedingt, die altpro-
testantische Dogmatik dagegen nur in bedingter Weise zu
rechtfertigen unternehmen. Von Baur liess sich nicht erwar-
ten, dass er es ebenso machen werde. Er hatte seinen theo-
logischen Standpunkt weit wem'ger durch kritische Bestreitung,
als durch allmähliche Umbildung der kirchlichen Lehre ge-
wonnen; wie die schwäbische Theologie überhaupt die Schule
des Bationalismus eigentlich nie durchgemacht hatte ^ und das
versäumte erst später in anderer Weise nachholte, so war
auch in seiner persönlichen Entwicklung der Uebergang vom
älteren tübinger Supranaturalismus zu Schleieimacher und
weiter zu Hegel nicht durch eine Periode rationalistischer
Kritik vermittelt; in dem guten Glauben, dass das, was wahr
ist, jedenfalls auch das acht christliche und protestantische
sein müsse, mit Führern, denen die wesentliche Ueberein-
Stimmung ihrer Wissenschaft mit dem kirchlichen Glauben
gleichfalls feststand, und in einer Zeit, welche sich im allge-
p meinen in dieser Beziehung den grössten Täuschungen hinzu-
geben pflegte, hatte er zunächst für sich selbst eine befriedi-
gende üeberzeugung gesucht, und er hatte sich hiebei, rein
in die Sache vertieft, von seinem anfänglichen Ausgangspunkt
viel weiter entfernt, als er selbst wusste. So kam es, dass er
die Bedeutung des Gegensatzes unterschätzte, welcher ihn von
der kii-chlichen Dogmatik getrennt hielt. Er wusste wohl, dass
seine Sätze mit denen der Bekenntnisschriften nicht unmittel-
bar zusammenfallen: aber dieser Unterschied erschien ihm als
• 7-
Ferdinand Christian Banr. 439
ein unwesentlicher, er sollte nur die Form angehen, nicht den
Inhalt; die hegel'sche Unterscheidung zwischen der Vorstel-
lungs- und der Begriffsform wurde von Baui* in derselben Un-
bestimmtheit angewendet, wie von Hegel ; wie es ja überhaupt
die Art solcher gediegenen Naturen ist, der Tragweite ihrer
Ideen sich nur allmählich bewusst zu werden, durch den Geist
der Forschung sich weiter führen zu lassen, als sie selbst wissen
und wollen, das Vertrauen auf die Berechtigung der eigenen
Ueberzeugung mit der ihnen natürlichen Anhänglichkeit an
altgewohnte Anschauungen, mit der Achtung des gemeinsamen
im Glauben und Leben dadurch auszugleichen, dass sie den
Gegensatz beider sich nur theilweise bekennen. So lässt sich
denn auch Baur durch den Einwui'f, dass er sich in seiner
Schrift gegen Möhler an den symbolischen Lehrbegriff der
lutherischen Kirche nicht treu genug anschliesse , nicht stören.
Die Frage, antwortet er hierauf (Von*, zur 2. Aufl. S. XXI,
vgl. S. 596) , könne nur diese sein , ob seine Darstellung, wo
sie von einzelnen Bestimmungen des symbolischen Lehrbegriffs
abweiche, den in ihrer Consequenz festgehaltenen Prindpien
desselben entspreche oder nicht. Dass diess aber der Fall
sei, und dass auch die hegel'sche Philosophie nur denselben
Standpunkt der Objektivität zum Resultat habe , welchen der
sich selbst verstehende Protestantismus nie verläugnen könne,
steht ihm ausser Zweifel; und so schliesst er die "Vorrede zur
zweiten Auflage seines „Gegensatzes" mit der Erklärung: er
werde auch femer, unbekümmert um kleinliche, nur von Be-
schränktheit und Leidenschaft zeugende Angriffe , seinen selb-
ständigen Weg fortzugehen wissen, und dem protestantischen
Glauben, von dessen tiefer Bedeutung und reichem Inhalt er
sich auch nach dieser Arbeit auf's neue durchdrungen fühle,
um so treufer zu bleiben überzeugt sein, je weniger er Ursache
habe, ihn in ein feindliches Verhältniss zur Wissenschaft zu
setzen.
Diesen Standpunkt müssen wir uns gegenwärtig halten,
um die Vertheidigung der altkirchlichen Lehren von der Erb-
sünde, der Rechtfertigung , den Sacramenten u. s. w. zu ver-
440 FerdioBiid ChiiatiAii Baur.
stehen, welche Baur nicht allein dem Eatholidsmus, sondera
gleichzeitig auch (in der Anzeige von Bretschneider's Grund-
la^^n des evangel. Pietismos, Jahrb. f. wissensch, Kritik 1834,
April, Nr. 64 ff.) dem protestantischen Bationalismus gegen-
über geführt hat. Es ist nicht ein Mann der alten Orthodo-
xie, sondern ein ganz modemer Theologe, der hier spricht, aber
ein solcher, welchem der Unterschied der schleiermacher'schen
und hegel'schen Lehre von jener altorthodoxen nicht eingreifend
genug scheint, um ihn an der Vertretung der letztem zu hindern ;
und da nun Möhler seinerseits dem kathoUschen Dogma gegen-
über eine ähnliche Stellung einnahm , da auch er dasselbe
foi-twährend idealisirte und mit den Gedanken der neueren
protestantischen Wissenschaft, namentlich SchleiermacheiB, zu
stützen suchte, so bietet der Streit der beiden Theologen das
eigenthümliehe und lehrreiche Schauspiel, dass weder der
kaüiolische noch der protestantische Symboliker die Lehre
seiner Kirche genau in ihrem ursprünglichen Sinn zu vertre-
ten vermag, und dass beide bis zu einem gewissen Grade von
der gemeinsamen Voraussetzung des schleiermacher'schen Sy-
stems ausgehen. Was Baui* betrifft, so weiss er recht wohl,
dass z. B. sein Determinismus mit der Lehre der Concordien-
formel und Melanchthons (in dessen späterer Zeit) nicht über-
einstimmt; aber er ist der Ansicht, der Symboliker habe nicht
sowohl auf das Rücksicht zu nehmen , was die Bekenntnisschrif-
ten mit ihren Voraussetzungen vereinigen zu können glauben,
als auf das, was an sich in ihnen liege (Gegens. S. 125, vergl.
S. 216). Er ist sich der Abweichung von der kirchlichen
Lehre bewusst, dass er den Zustand der ursprünglichen Ge-
rechtigkeit nicht für einen realen, sondern für einen idealen
halte; aber er glaubt (S. 212), „diess sollte man als eine
minder wesentliche Differenz betrachten, da die Ansicht vom
Falle selbst dieselbe bleibe" — was in Wahrheit freilich durch-
aus zu bestreiten ist. £r ist mit dem Rationalismus darüber
einig, dass sich die Erbsünde nidit von der in der Genesis
erzählten Begebenheit , als einer wirklichen gmchichUichen
Thatsache, herleiten, nicht als eine durch eine einzelne That
Ferdinand Christian Baor. 441
bewirkte Umändening der menschlichen Natur betrachten,
dass sich die Begriffe der Schuld und Strafe nicht damit ver-
binden lassen; aber er will dieser Lehre ihre Geltung doch
nicht absprechen lassen, weil es nicht auf die zufällige, der
Sphäre der Vorstellung angehörende Form derselben ankomme,
sondern nur auf den Inhalt, welcher mit Hegel in dem allge-
meinen Gegensatz von Natur und Freiheit, Fleisch und Geist,
gefunden wird (Jahrb. f. w. Kr. S. 523). Er lobt Calvins
Theorie von den Sacramenten als die allein acht protestan-
tische (Gegens. 372), während er selbst doch derselben in
ihrem ursprünglichen Sinne unmöglich zustimmen konnte.
Eine gewisse Unklarheit über das eigentliche Verhältniss seiner
Ansichten zu den altkirchlichen lässt sich bei diesen und an-
deren Punkten nicht verkennen. Nichtsdestoweniger ist Baurs
Schrift gegen Möhler ein sehr bedeutendes, von einer gross-
artigen Auffassung des Pi-otestantismus getragenes, von einem
ernsten sittlich - religiösen Geist erfülltes Werk; einen beson-
deren Werth verleihen ihm die prinzipiellen Untersuchungen
über den Charakter des Protestantismus und Katholicismus,
die dogmengeschichtlichen Erörterungen über das Verhältniss
der augustinischen Lehre zur protestantischen, wie überhaupt
alle die Abschnitte, in denen es sich weniger um die dogma-
tische Vertheidigung , als um das geschichtliche Verständniss
des protestantischen Lehrbegiiffs handelt. Hier war Baur auf
seinem eigentlichen Felde, auf dem er eben damals eine Beihe
weiterer Arbeiten begonnen hatte, und auf dem sich seine
hterarische Thätigkeit noch lange vorzugsweise bewegte.
Auch wir wollen ihm zunächst auf dieses Feld, das dog-
mengeschichtliche, folgen.
Die Kirchen- und Dogmengeschichte waren Baurs Haupt-
lehrfächer in Tübingen ; sie waren zugleich die Fächer, welche
für ihn selbst den grössten Beiz hatten, und zu deren erfolg-
reicher Bearbeitung er durch Naturanlage und Bildung vor-
zugsweise befähigt war. Doch musste ihn die Dogmenge-
schichte zunächst noch stärker anziehen; nicht allein weil sie
seinen bisherigen Studien näher lag, sondern weil ihm über-
.-- V'
442 Ferdixumd Cfaristiaii Baor.
haupt in der Geschichte der Beligion die Entwicklung der
religiösen Ideen, die sich in der Dogmengeschidite am un-
mittelbarsten darstellt, für die Hauptsache und für den geisti-
gen Kern galt, zu welchem der äussere kirchengeschichtliche
Verlauf sich nur als ein untergeordnetes und abgeleitetes ver-
halten sollte. So war denn auch seine schriftstellerische Thä-
tigkeit längere Zeit hindurch ganz aberwiegend diesem Fache
gewidmet. Zu den Programmen über die Gnosis und den
gnostischen Charakter des schleiermacher'schen Systems (1827),
über den Arianismus (1828) , über die Ebioniten (1831), über
die Rechtfertigungslehre Andr. Osiander's (1831), kam 1831
seine erste grössere dogmengeschichtliche Monographie, „das
manichäische Beligionssystem". Diese gründliche
Untersuchung bezeichnet, mit der „Symbolik und Mythologie"
verglichen, wieder einen sehr erheblichen Fortschritt in der
reinen und sichern Handhabung der historischen Methode;
zugleich beweist sie aber durch die Wahl ihres Gegenstandes,
wie lebhaft das Interesse ihres Verfassers fortwährend den
phantasievoUen mythischen Bildungen und den in dieser Form
ausgeprägten Ideen zugewandt war, und sie bildet so mit den
ihr vorangehenden und nachfolgenden Arbeiten über die Gno-
sis in der Reihe von Baurs religionsgeschichtlichen Werken
die passendste Vermittlung für den üebergang von der Natur-
religion zum Ghristenthum. In il^r^m Resultat weicht sie von
den früheren Ansichten über deti . Manichäismus hauptsächlich
durch die Behauptung ab , welche ihr Verfasser auch noch in
seinen letzten kirchengeschichtlichen Darstellungen zu ver-
lassen keinen Grund fand, dass diese Religionsform in ihrer
Entstehung vom Christenthüm keine oder nur eine unwesent-
liche Einwirkung erfahren habe , und nicht aus einer Verbin-
dung von Ghristenthum und Parsismus, sondern aus dem Ein-
fluss des Buddhismus, als eine Reform der zoroastrischen
Religionslehre durch die buddhistische , zu erklären sei ; dass
wir mithin (wie Baur später beifügte) ihr Verhältniss zum
Ghristenthum ebenso aufzufassen haben, wie das des gleich-
zeitigen Neuplatonismus , welcher ja gleichfalls, trotz seines
-rV"
Ferdinand Qiristian Baur.
443
heidnischen Ursprungs, in der christlichen Kirche nicht blos
bei Häretikern, wie der Manichäismus , sondern auch bei Or-
thodoxen, den eingreifendsten und nachhaltigsten Einfluss
erlangt hat*. — Demselben Gebiete religionsgeschichtlicher Er-
scheinungen ist die „christliche Gnosis" gewidmet, mit
der Baur 1835 seine durch den möhler'schen Streit unter-
brochenen dogmengeschichtlichen Arbeiten wieder aufnahm;
nur dass er sich jetzlr eine viel weitschichtigere Aufgabe stellte
und dieselbe in einem umfassenderen Sinn löste. Die gnosti-
schen Systeme, welche zuletzt Neander wiederholt untersucht
hatte, werden hier in aUen ihren Hauptformen mit selbstän-
diger Quellenforschung neu dargestellt; in diese Darstellung
wird auch die merkwürdige Lehre der s. g. clementinischen
Homilieen aufgenommen; es wird femer durch eingehende Be-
rücksichtigung der neuplatonischen und christlichen Polemik
gegen die Gnosis und der gnostischen Rückwirkung auf die
kirchliche Lehre (welche letztere freilich in späteren Schriften
sich noch bedeutender und vollständiger herausstellt) eine
wesentliche Lücke der bisherigen Bearbeitungen ergänzt. Die
Hauptsache ist jedoch dem Verfasser die Einsicht in das
eigentliche Wesen der Gnosis und den inneren Zusammenhang
ihrer Hauptformen. Um diese zu gewinnen, führt er den Be-
griff der Gnosis auf den der Beligionsphilcrsophie zurück , und
theilt die gnostischen Systeme i;iachj den verschiedenen Stel-
lungen, welche den drei Hauptreligionen darin angewiesen
werden, in solche, die das Ghristenthum mit dem Judenthum
und Heidenthum näher zusammenstellen; solche, die es von
beiden streng trennen (Marcion), und solche, die es mit dem
Judenthum identificiren und beide dem Heidenthum entgegen-
setzen (die Clementinen). Ebendamit erweitert sich aber die Ge-
schichte der Gnosis zu einer Geschichte der Beligionsphilosophie,
und so wird sie denn auch von Baur aufgefasst. Der Titel seines
Werks lautet : Die christliche Gnosis oder die christliche Reli-
gionsphilosophie in ihrer geschichtlichen Entwickelung;" und in
seiner Ausführung werden nicht blos die älteren Gnostiker, son-
dern auch Jacob Böhme, Schelling, Schleiermacher, Kant, Hegel
V.irt
:^
i
i*>
444 Ferdinand Christian Baur.
ausführlich besprochen. Ich meinestheils kann dieser Behand-
lung zwar nur theilweise beipflichten. Eine wirkliche Ge-
schichte der christlichen Beligionsphilosophie hätte weit voll-
ständiger verfahren müssen, und Erscheinungen, wie Origenes,
Scotus Erigena, Thomas von Aquino , Spinoza , Leibniz u. s. w.
nicht übergehen oder nur flüchtig berühren dürfen; sie hätte
überhaupt die gesammte christliche Philosophie und Theologie,
soweit sich eine bestimmte philosophische Ansicht über die
Religion in ihr ausspricht, in ihren Bereich ziehen müssen.
Daraus erhellt aber nur, dass der Begriff der Beligionsphilo-
sophie für den der Gnosis jedenfalls zu weit ist, dass diese,
wenn sie überhaupt unter jenen Begriff fällt, doch noch näher
zu bestimmen und das eigenthümliche anzugeben war, wodurch
sie sich von anderen religionsphilosophischen Systemen unter-
scheidet, wie diess der Verfasser im Grunde auch wirklich
S. 29 ff. gethan hat. Indessen scheint mir jener Begriff" über-
haupt für die Erscheinungen, welche man mit dem Namen
der Gnosis oder des Gnosticismus zu bezeichnen pflegt, nicht
g; unbedingt zu passen. Denn so gewiss diese Ei*scheinungen ein
spekulatives Element in sich haben, so gewiss sie mit der
alexandrinischen Theologie und der griechischen Philosophie
zusammenhängen, so wenig ist doch ihre Eigenthümlichkeit
damit erschöpft, sondern ebenso wesentlich sind ihre religiösen
Motive und ihr Zusammenhang mit der christlichen, der jüdi-
|: sehen und einigen heidnischen Beligionen; und beides lässt
^: sich um so weniger trennen, da in jener Zeit die Philosophie
1^ bei vielen zm- Beligion, ja zur Mythologie, geworden war, die
1^' Beligion umgekehrt aus der Philosophie ihre Nahmng zog.
|: Erscheint aber auch hiemach Baurs Auffassung der Gnosis
^ noch mit einer Einseitigkeit behaftet, von welcher sie sich
§ auch in der Folge nicht vollständig befreit hat , *) so hat doch
seine Bearbeitung derselben ihr hohes Verdienst.% Sie hat
IT -
k-«*
r> handlungeii.
*) Man yergl. in dieser Beziehung seine Schrift: Das Christenthom der
drei ersten Jahrhunderte S. 175 ff. und die dort angefiihrten fräheren Ab-
Ferdinand Christian Baor. 445
nicht blos im einzelnen vieles berichtigt und vervollständigt,
über den Charakter und den inneren Zusammenhang der
gnostischen Theorieen ein neues Licht verbreitet, die patristi-
sche und neuplatonische Polemik gegen die Gnosis nebst dem
wichtigen pseudoclementinischen System zueret eingehend dar-
gestellt, mehrere der bedeutendsten neueren Systeme, mochten
diese, auch streng genommen nicht in die Geschichte der Gno-^
sis gehören, gründlich und geistreich besprochen, sondern sie
hat auch für die Gesammtauffassung der Gnosis in dem Ver-
hältniss des Christenthums zur heidnischen und jüdischen Re-
ligion den Punkt bezeichnet, von dem alle weiteren Unter-
suchungen über eine der räthselhaftesten und verwickeltsten
religionsgeschichtlichen Erscheinungen auszugehen haben wer-
den. Die Untersuchung über den Gnosticismus ist mit Baurs
Werk allerdings noch nicht abgeschlossen, aber er hat für
dieselbe bedeutenderes, als irgend ein anderer, geleistet.
Der „christlichen Gnosis" folgte 1838 „die christliche
Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Ent-
wicklung von der ältesten Zeit bis auf die neueste" ; 1841 bis
1843 „die christliche Lehre von der Dreieinigkeit
und Menschwerdung Gottes"; dazwischen eine Abhand-
lung über Tertullian's Lehre vom Abendmahl (Tüb. Zeitschr,
1839, 2, S. 56 — 144), welche zugleich eine kurze, aber ge-
haltvolle Uebersicht über die ganze Geschichte der Abend-
mahlslehre enthält, und welche bei dieser Veranlassung
auch der altprotestantischen Abendmahlslehre in aUen ihren
Formen mit kritischer Freiheit gegenübertritt , um die
schleiermacher'sche ,- durch einige weitere Bestimmungen be-
reichert, an ihre Stelle zu setzen. Die ganze Dogmen-
geschichte endlich wurde 1847 in der knappen, durch
die zweite Auflage (1858) etwas erweiterten Form eines Lehr-
buchs bearbeitet, welches theils durch die Vollständigkeit
des eng zusammengedrängten Materials, theils durch die lei-
tenden Gesichtspunkte, um deren Aufstellung und Durchfüh-
rung es ihm besonders zu thun ist, seinen eigenthümlichen
Werth erhält. Diese Werke werden nun jedem schon beim
446
Ferdinand Christiui Banr.
ersten Anblick durch die grOndliche Gelehrsamkeit, das weit-
schichtige und genaue Quellenstudium, aus dem sie hervor-
gegangen sind, Achtung einflössen; die „Lehre von der Brei-
einigkeit" besonders, welche in drei starken Bänden nicht
allein die trinitarischen und christolc^chen Vorstellungen,
sondern die ganze Lehre von Gott und seinem Yerhältniss zur
Welt in ihrer geschichtlichen Entwicklung bis auf die neueste
Zeit herab verfolgt, ist schon als gelehrte Arbeit betrachtet
ein Werk, dem ich aus der ganzen dogmengeschichtlichen
Literatur unseres Jahrhunderts kein zweites zur Seite zu
st^en wüsste. Baur selbst jedoch sah in der gelehrten For-
schung als solcher nur die eine Seite seiner Aufigabe; ftlr das
wichtigere und schwierigere erklärt er die' Auffassung des ge-
gebenen Stoffes. Schon in seinen ersten religionsgeschicht-
lichen Arbeiten war er ja durchweg auf die Herstellung eines
umfassenderen Zusammenhangs ausgegangen ; schon seine tübin-
ger Inauguraldissertation hatte er mit dem Satze eröffnet:
was von der Geschichte überhaupt gelte, das finde auch auf
die Eii'chen- und Dogmengeschichte seine Anwendung, dass
sie nämlich ihre Aufgabe nur dann löse, wenn sie von dem
äusseren Verlauf auf die inneren Ursachen und die allge-
meinen Gesetze zurückgehe. Diese Richtung musste sich in
ihm um so tiefer befestigen, je stärker sie durch seine philo-
sophische Ueberzeugung genährt wurde, und je weiter er
selbst in der gedankenmässigen Beherrschung des geschicht-
lichen Stoffes fortschritt. Schon eine Geschichte der äusseren
Facta, sagt er (Versöhnungsl. Vorw. V. Lehre v. d. Dreiein. I,
Vorw. XIX), würde ihres Namens nicht würdig sein, wenn sie
nur Facta an Facta reihete, ohne in den inneren Zusammen-
hang des geschehenen einzudringen; mit noch mehr Recht
müsse diese Forderung an eine historische Disciplin gemacht
werden, welche nicht geschehenes, sondern gedachtes, nicht
äusseres, sondern inneres, die ausgesprochenen Gedanken des
Geistes, zu ihrem unmittelbaren Objekt habe. Die Geschichte
sei nicht blos ein zufälliges Aggregat, sondern ein zusammen-
hängendes Ganzes. Gerade diess aber, die Anerkennung des
n
Ferdinand Christian Baur. 447
gesetzmässigen Zusammenhangs in der Geschichte, und die
Kunst, ihn wissenschaftlich zu reproduciren , vermisste Baur
an allen seinen Yorgängem. Selbst Neander, der dieser Auf-
gabe noch am nächsten gekommen sei, bemerkt er, befriedige
doch keineswegs. Er erhebe sich allerdings über die ge-
wöhnliche Auffassung der Dogmengeschichte als eines unleben-
digen Aggregats von Vorstellungen und Meinungen, um das
geschichtliche Leben in seinen individuellen Mittelpunkten auf-
zufassen; aber doch komme man auch bei ihm nicht über die
am einzelnen hängende, empirische Betrachtungsweise hinweg,
wenn diese auch näher als psychologische zu bezeichnen sei;
die Individuen werden von ihm wohl unter gewisse allgemeine
Gesichtspunkte gestellt, dem Gegensatz der idealistischen
und realistischen, rationalistischen und supranaturalistischen,
begrifflichen und mystischen Bichtung untergeordnet, aber es
gebe Hein allgemeines, aus welchem, als dem bewegenden
Princip der Geschichte, die geschichtliche Bewegung begriffen
werden könnte; man habe schliesslich immer nur einzelnes,
kein allgemeines, das als Princip des besonderen und einzel-
nen sich aus sich selbst fortbewege, ebendesswegen auch keinen
geschichtlich sich entwickelnden und in dem inneren Zusam-
menhang seiner Momente fortschreitenden Process, sondern nur
einen immer wechselnden Kreis aufeinanderfolgender Erschei-
nungen, in welchen dieselben Geistesrichtungen mit denselben
Gegensätzen wiederkehren (D. Gesch. 1. Aufl. S. 50 u. a.
St.). Wer mit strengeren wissenschaftlichen Anforderungen
an Neanders Werke herantritt, der wird dieses Urtheil, nament-
lich in Betreff seiner dogmengeschichtlichen Darstellungen,
nicht ungerecht finden können; ja ich glaube ; dass es noch
weit schäi-fer hätte ausfallen dürfen, und ich kann desshalb
auch Baurs späterer eindringender Entik der neander'schen
Geschichtsbehandlung (Epochen d. kirchl. Geschichtschreibung
202 ff.) nur beistimmen. Es war daher gewiss viel werth,
wenn in einer Zeit, welche in Neander einen Eirchenhistoriker
ersten Ranges zu bewundem pflegte, ein Mann, an dessen ge-
lehiter Sachkenntniss kein Zweifel war, der dogmatischen Ge-
448 Ferdinand Christian Baur.
bundenheit und der wissenschaftlichen Zerfahrenheit des ber-
liner Kirchenhistorikers mit kiitischer Freiheit und strenger
Dialektik gegenübertrat; wenn überhaupt die gelehrte For-
schung, der äusserliche oder psychologische Pragmatismus,
auch in der Geschichte der Theologie durch den Versuch
einer einheitlichen, vor allem auf den Zusammenhang der Er-
scheinungen gerichteten Entwicklung ergänzt wurde.
Damit aber dem Geschichtschreiber eine solche Behand-
lung seines Gegenstandes möglich sei, dazu ist nach Baur
zweierlei nöthig. Das eine ist die Befreiung von den dog-
matischen Vorurtheilen , welche ihn hindern, die Geschichte
rein objektiv aufzufassen, und ihn verleiten, in derselben
überall nur nach einer Bestätigung der eigenen Ansicht zu
suchen. „So lange dieses dogmatische Interesse «icht besei-
tigt ist," sagt er (Tüb. Ztschr. 1839, 2, S. 85), „kann die
rein geschichtliche Betrachtung nicht Baum gewinnen, die sich
der Objektivität der Geschichte ruhig und interesselos gegen-
überstellt, und sie nicht von dem Standpunkte des Subjekts
aus zu sich herüberzuziehen und nach demselben zu bestinmien
sucht, sondern sie vielmehr nur durch ihre eigene Bewegung
sich fortbewegen und zu dem betrachtenden Subjekt heran-
kommen lässt, unbekümmert, ob die Wogen dieser Bewegung
höher oder niedriger gehen, weil sie an sich die Gewissheit
hat, dass auch die gewaltigste Brandung den inneren, imma-
nenten Grund der Wahrheit nicht erschüttern kann." Das
andere Erforderniss, das positive zu dieser Negation, ist dieses,
dass „in der geschichtlichen Darstellung das Wesen des Geistes
selbst, seine innere Bewegung und Entwicklung, sein von Mo-
ment zu Moment fortschreitendes Selbstbewusstsein sich dar-
stelle", „dass alle zeitlichen Veränderungen als die wesent-
lichen und nothwendigen Momente erscheinen, durch die sich
der Begriff hindurchbewegt, um, von der Negativität jeder
zeitlichen Form immer weiter getrieben, wesentliches und un-
wesentliches mit dem immer strengeren Gericht des reinen
Gedankens zu scheidefn, und durch alle Momente hindurch sich
selbst in seinem eigenen innersten Wesen zu erfassen" (Ver-
• J
Ferdinand Christian Baiir. '449
söhnungsl. S. VII). Diess aber, glaubt Baur, sei nur durch
die Spekulation möglich. „Wo Zusammenhang ist, sagt er, ist
auch Vernunft, und was duixh die Vernunft ist, muss auch
für die Vernunft sein, für die denkende Betrachtung des
Geistes. Ohne Spekulation ist jede historische Forschung ein
blosses Verweilen auf der Oberfläche und Aussenseite der
Sache, und je wichtiger und umfassender der Gegenstand ist,
mit welchem sie sich beschäftigt, je unmittelbarer er dem
Element des Denkens angehört, desto mehr kommt es darauf
an, nicht blos, was der Einzelne gedacht und gethan, in sich
zu reproduciren , sondern die ewigen Gedanken des ewigen
Geistes, dessen Werk die Geschichte ist, in sich nachzuden-
ken" (L. V. d. Dreieinigk. I. XIX). Baur verlangt desshalb
eine spekulative Geschichtsbehandlung, und in der Erfüllung
dieser Forderung sieht er das Hauptverdienst seiner Arbeiten
und ihren wesentlichen Unterschied von denen seiner Vor-
gänger. Diese Forderung hat er nun, wie schon die eben an-
geführten Stellen beweisen, mit Vorliebe in den Formeln der
hegel'schen Terminologie ausgesprochen; und so konnte um
so eher der Schein entstehen , als ob es sich auch bei ihm
um jene apriorische Geschichtsconstruction handle, welche
Hegel allerdings, nach der ganzen Anlage seines Systems und
dem Charakter seiner Methode, als einen Theil der von ihm
versuchten apriorischen Construction des Universums, ver-
langen musste. Indessen hat sich Baur selbst zur Genüge
darüber erklärt, dass diess nicht seine Meinung sei, und dass
es ihm auch auf den Namen der spekulativen Behandlung
(welcher allerdings zur Bezeichnung einer geschichtlichen Me-
thode nicht der geeignetste ist) nicht ankomme, wenn nur die
Sache, die Erkenntniss des wesentlichen und nothwendigen im
Verlauf der Geschichte, gewahrt werde. Das Wesen der
spekulativen Geschichtschreibung liegt nach ihm in dem Be-
streben, sich in den objektiven Gang der Sache selbst hinein-
zustellen, sie zu nehmen, wie sie ist, und sie in ihrem inneren
Zusammenhang zu begreifen (a. a. 0. I, XIX. H, IV). Was
er die spekulative Geschichtsbehandlung nennt, ist nichts an-
Zeller, Vorträge und Al>liandL 29
* «J
450 Ferdinand Christian Baur. ^
deres, als das rein geschichtliche Verfahren, wiefern es den
Erscheinungen auf den Grund geht; seine Meinung ist nicht
die, dass wir philosophische Sätze an die Stelle der geschicht-
lichen Zeugnisse setzen, sondern dass wir die überlieferten
Nachrichten denkend verarbeiten sollen, um die geschicht-
lichen Vorgänge ihrer objektiven Beschaffenheit nach zu ver-
stehen. Besonders deutlich hat er sich hierüber im Vorwort
zur ersten Auflage der Dogmengeschichte geäussert. Ein Re-
censent hatte ihm vorgeworfen, dass er die Geschichte con-
struire, statt den Fortschritten des Dogma nachzi^forschen, wie
die Geschichte sie gebe. Aber ist denn diess, antwortet ihm
Baur, etwas so einfaches? „Nur der roheste Empirismus
kann meinen, dass man den Dingen sich schlechthin hingeben,
die Objekte der geschichtlichen Betrachtung nur gerade so
nehmen könne, wie sie vor uns liegen. Seitdem es auch eine
Kritik des Erkennens giebt, muss auch jeder, der nicht ohne
alle philosophische Bildung zur Geschichte herankommt, wissen,
dass man zwischen den Dingen, wie sie an sich sind, und wie
sie uns erscheinen, zu unterscheiden hat, dass wir nur durch
das Medium unseres Bewusstseins zu ihnen gelangen können.
Hierin liegt der grosse unterschied zwischen der rein empiri-
schen und der kritischen Betrachtungsweise , und die letztere
will so wenig an die Stelle des Objektiven etwas blos
Subjektives setzen, dass ihr vielmehr alles daran gelegen ist,
nichts, was nur subjektiver Natur ist, für die reine Objek-
tivität der Sache selbst zu halten; sie will nur mit geschärf-
terem Auge der Sache auf den Grund ihres Wesens sehen.
Auf so einfachen Principien, bei welchen freilich alles davon
abhängt, wie man sie auf den geschichtlichen Stoff anzuwen-
den weiss, beruht die kritische oder, wenn man will, speku-
lative Methode." Man wird auch wirklieh in Baui*s Geschichts-
werken keinen Fall aufzeigen können, in dem seine Darstel-
lung von einer anderen Grundlage, als von derjenigen der
genau und selbständig durchforschten Quellen ausgienge. Auch
wo er sich bei der Charakteristik ganzer Perioden und der
Darstellung ihres Entwicklungsganges in allgemeinen Begriffen
M^~ II " - - -^
Ferdinand Christian Baiir. 451
bewegt, sind diese doch immer von bestimmten Thatsachen,
nur nicht von vereinzelten Thatsachen , sondern von grösseren
geschichtlichen Massen, abstrahirt. Man kann vielleicht öfters
darüber streiten, ob diese Abstraktion durchaus richtig ist, ob
alle Seiten der Sache beachtet, alle Folgerungen, welche sich
aus dem thatsächlich gegebenen ableiten liessen, erschöpft
sind; — wiewohl es auch hier, wie überall, ungleich leichter
ist, zu tadeln, als zu verbessern, und wiewohl man, wenn man
genauer zusieht, in den meisten Fällen finden wii*d, dass Baur
das wesentliche richtig erfasst hat, und dass seine Darstellung,
selbst wo sie nicht ganz genügt, doch'nicht sowohl der Wider-
legung, als der näheren Bestimmung und Ergänzung bedarf.
Aber sollte er sich im einzelnen auch öfter, als wir diess zu-
geben können, geirrt haben, so wären seine wissenschaftlichen
Grundsätze damit noch lange nicht widerlegt, und der Vor-
wurf einer apriorischen Geschichtsconstruction nicht gerecht-
fertigt.
Auch die oft gehörte Behauptung, dass Baur über den
. allgemeinen Zügen der geschichtlichen Entwicklung das indi-
viduelle vernachlässigt habe, ist nur theilweise begründet.
Eine geschichtliche Bedeutung wusste er den Einzelnen aller-
dings nur insoweit beizulegen, als sie ifür's Ganze arbeiten,
allgemeine Ideen und Interessen vertreten; und dass er durch
diesen an sich ganz wahren Grundsatz, namentlich in seinen
früheren Arbeiten , sich verleiten liess , die individuellen Ver-
mittlungen ihrer geschichtlichen Leistungen, den Zusammen-
hang derselben mit ihrem Lebensgang und ihren persönlichen
Verhältnissen , zu wenig hervortreten zu lassen , soll nicht ge-
läugnet werden. Auch in seinen eigenen Erklärungen über
diesen Gegenstand lässt sich dieser Mangel nicht verkennen.
„Man soll nicht glauben," sagt er (Dreieinigk. I, XIX), „dass
durch die Betrachtung des Allgemeinen die Individuen zu kurz
kommen; es bleibt für sie noch ein weites Feld, auf welchem
sie mit ihren subjektiven Interessen und Motiven sich herum-
treiben können, noch genug des endlichen und beschränkten,
des zufälligen und willkührlichen , das jeder vernünftigen Be-
29*
■* «
452 Ferdinand Christian Baur.
trachtung widerstrebt/' Diess lautet allerdings so, als ob das
individuelle nur ein unvernünftiges und für die Geschichte gleich-
gültiges wäre, so wahr auch ist, was Baur weiter beifügt:
dass alles individuelle ohne das allgemeine nichts wäre, und
alle geschichtlichen Personen fdr uns blosse Namen seien,
wenn nicht, was jeder gedacht und gethan, ein im Wesen des
Geistes selbst begründeter Gedanke sei. Im Gegensatz gegen
einen Pragmatismus, der alles geschichtlich bedeutende so viel
wie möglich aus persönlichen Beweggründen, Lebenserfah-
rungen, Verhältnissen und Einfällen herzuleiten liebte, stellte
sich Baur mit allem Nachdruck auf die andere Seite, und er
liess darüber, wie wir zugeben müssen, die Persönlichkeit und
die persönliche Thätigkeit der in der Geschichte handelnden
Personen nicht immer zu ihrem Becht kommen. Aber dieses
XJebergewicht des allgemeinen über das individuelle war bei
ihm, für's erste, nicht blos eine zufällige wissenschaftliche Ein-
seitigkeit, sondern es stand im engsten Zusammenhang mit
der sittlichen Gediegenheit seines eigenen Wesens, es war der
natürliche Ausdruck jener Selbstlosigkeit, mit der er sich den
sachlichen Interessen hinzugeben, den persönlichen Werth des
Menschen ganz und gar davon abhängig zu machen gewohnt
war, wiefern er sich mit einem bleibenden Inhalt, mit sub-
stantiellen Gedanken und Bestrebungen erfülle; es war auch
wissenschaftlich betrachtet die richtige Consequenz jenes Deter-
minismus, den Baur nicht aus der hegel'schen, sondern vorher
schon aus der schleiermacher'schen Lehre geschöpft hatte.
Sodann darf man nicht übersehen, dass die Forderung, die
Ansichten der Menschen aus ihrer Individualität und ihrem
Lebensgang zu erklären , weit in den meisten Fällen für uns
unerfüllbar ist. Wieviel wissen wir denn — um uns hier nur
auf das Gebiet der Dogmengeschichte zu beschränken ■— ge-
schichtlich beglaubigtes von der Persönlichkeit und der per-
sönlichen Entwicklung der Männer, welche die christlichen
Dogmen in der alten Zeit festgestellt, im Mittelalter ver-
arbeitet haben ? Wenn wir einen Augustin und einen oder zwei
andere ausnehmen, wissen wir hierüber selbst bei den bedeu-
Ferdinand Christian Baur. 453
tendsten geschichtlichen Grössen theils gar nichts, theils nur
das allerdürftigste ; auch bei jenen aber noch lange nicht so
viel, als zur Lösung der Aufgabe nöthig wäre. Die Ver-
muthungen aber, mit denen man diese Lücke auszufüllen
pflegt, sind theils höchst unsicher, theils kommen sie gleich-
falls nicht über einige unbestimmte Allgemeinheiten hinaus,
welche entfernt nicht ausreichen, um das zu erklären, was auf
diesem Wege erklärt werden soll. Kann man es nun dem
Geschichtschreiber verübeln, wenn er sich lieber an die allge-
meinen Gründe und den objektiven Zusammenhang der Sache
hält, statt auf den imzuverlässigen Grund subjektiver Ver-
muthung zu bauen? und ist nicht selbst da, wo uns die Per-
sönlichkeiten und ihre Motive genauer bekannt sind, jenes
Objektive jedenfalls die Hauptsache? Was endlich hier be-
sondei-s in Betracht kommt: Baur hat den Mangel, über den
man sich beschwert, in seinen eigenen Darstellungen mehr
und mehr ergänzt; wie er denn auch ausdrücklich anerkennt
(Epochen d. kirchl. Geschichtschr. S. 268), dass der Geschicht-
schreiber, „um zur vollen Realität des geschichtlichen Lebens
zu gelangen, in das besondere, individuelle, concreto der ge-
schichtlichen Erscheinungen sich so tief als möglich versenken
müsse.^^ Dass es auch ihm selbst an dieser Fähigkeit, in das
individuelle einzugehen, keineswegs fehlte, hat er in der Kir-
chen-, wie in der Dogmengeschichte, ganz besonders aber in
seiner Eirchengeschichte des 19. Jahrhunderts, durch zahl-
reiche Beispiele bewiesen; und wenn er allerdings dem biogra-
phischen und dem aufs biographische sich stützenden psycho-
logischen Pragmatismus geringere Beachtung schenkte, so hat
er dagegen ein sehr offenes Auge für das charakteristi-
sche jeder Ansicht und Bestrebung, und man darf seine
Mrchen- und dogmengeschichtlichen Arbeiten nur mit denen
eines Neander und anderer Vorgänger vergleichen, um sich zu
überzeugen, wie gross auch nach dieser Seite hin ihr Ver-
dienst ist, und wie sehr er in seinem Recht ist, wenn er ge-
rade Neander, den Eirchenhistoriker der frommen Subjektivi-
tät, darum tadelt, dass er das charakteristische verkenne und
454 Ferdinand Ghristiap Banr.
solchen Erscheinungen, die mit einer sehr spedfischen Eigen-
thtimlichkeit hervortreten, ihre Spitze abbreche (a. a. O.
224. 226).
Mit dem eben bemerkten hängt nun auch der Punkt zu-
sammen, an welchem mii* Baurs Behandlung der Dogmenge-
schichte am meisten der Ergänzung bedürftig zu sein scheint
Wir haben schon aus Anlass seiner ersten religionsgeschicht-
lichen Schrift die Neigung bemerkt, in den religiösen Vor-
stellungen philosophische Ideen in grösserem Umfang und in
unmittelbarerer Weise zu suchen, als sie wirklich darin liegen.
Dieser Neigung entgegenzuwirken, wäre zwar die schleier-
macher'sche Beligionsphilosophie sehr geeignet gewesen; und
wirklich sehen wir Baur in einer seiner ersten tübinger Ar-
beiten (Tüb. Ztschr. f. Theol. 1828, I. S. 229) selbst eine Er-
scheinung, die jenem Bestreben so verlockend entgegenkam^
wie der Gnosticismus, zunächst aus gewissen „GiTmdgefbhlen'^
herleiten, welche näher in einem tiefen Bewusstsein der End-
Uchkeit der menschlichen Natur und einem eben so lebhaften
Bewusstsein einer dieser Beschränkung vorangehenden höhe-
ren Natur gefunden werden. Aber die religiösen Vorstellungen
überhaupt aus diesem Gesichtspunkt 'zu, behandeln, sie zu-
nächst auf das fromme Selbstbewusstsein imd erst mittelbar
auf die allgemeinen, das religiöse Leben bewegenden Ideen
zurückzuführen, lag auch damals schwerlich in seiner Absicht.
Jedenfalls musste in der Folge der Vorgang der hegeFschen
Beligionsphilosophie dem Einfluss, welchen Schleiennacher
nach dieser Seite hin hätte ausüben können, in den Weg
treten ; und so legt denn Baur in seinen dogmengeschichtlichen
Werken der Behandlung der Dogmen durchaus jene über-
wiegend theoretische Auffassung der Religion zu Grunde, von
welcher die hegel'sche Religionsphilosophie beherrscht ist Die
eigentliche Bedeutung derselben wird darin gefunden, dass sie
gewisse Ideen, wie die der Einheit Gottes und des Menschen,
den Begriff Gottes als des absoluten Geistes, die Nothwendig-
keit seiner Oflfenbanmg im endlichen Geiste, zum Bewusstsein
bringen. „Das Bewusstsein, sagt Baur (Dreieinigk. 11, 998),
Ferdinand Christian Baur. 455
ist der Boden, in welchem die Idee sich verwirklicht, und Idee
und Wirklichkeit verhalten sich wie Sein und Wissen, Objek-
tives und Subjektives. Im Wissen des Subjekts schliessen
sich Wirklichkeit und Idee, Endliches und Unendliches zur
Einheit zusammen" u. s. w. Dass hiebei die unterscheidende
Eigenthümliehkeit der Religjion, ihr wesentlich praktischer
Chai-akter, nicht genug beachtet ist, diess hat Baur selbst in
der Folge, wie wir sehen werden, durch eine nicht unerheb-
liche Aenderung in seiner Behandlung der Religion thatsäch-
lich anerkannt. Im übrigen ist sein dogmatischer Standpunkt,
wie er ihn namentlich in den letzten Abschnitten der zwei
Werke über die Versöhmmgslehre und die Trinität ausspricht,
der gleiche, den ich schon früher aus seiner Schrift gegen
Möhler und aus der „christlichen Gnosis" nachgewiesen habe.
Auf die materiellen Ergebnisse seiner dogmengeschichtlichen
Werke kann ich hier so wenig, als auf seine Bestimmimgen
über die Perioden der dogmatischen Entwicklung, eingehen.
Mit den ersten von den eben besprochenen Arbeiten geht
mm der Beginn jener historisch-kritischen Unter-
suchungen über die älteste christliche Kirche
und die neutestamentlichen Schriften Hand in Hand,
welche in der Geschichte der neueren Theologie eine so wich-
tige Stelle einnehmen. Auch sie giengen zunächst von ein-
zelnen Punkten aus, deren genauere Erforschung dem Theo-
logen dm-ch seine Vorlesungen nahe gelegt wurde ; sie nahmen
dann aber immer gi'össere Umrisse an, und führten zu Ergeb-
nissen, an die er anfangs, wie er selbst sagt (Tüb. Schule 2.
Aufl. S, 17), noch nicht gedacht hatte. Wie sich Baur mit
seinen neutestamentlichen Vorlesungen längere Zeit auf die
Apostelgeschichte und die Korintherbriefe beschränkte, so
waren es auch diese Schriften und die mit ihnen zusammen-
hängenden Parthieen der ältesten Kirchengeschichte, welche
seine ersten literarischen Arbeiten auf diesem Gebiete veran-
lassten. Nachdem er schon 1829 in einem Programm über
die Rede des Stephanus (Apostelg. Cap. 6) den Zweck und
Plan dieses wohlberechneten und für das Verständniss der
456
Ferdinand Gbristian Banr.
Apostelgeschichte nicht unwichtigen Vortrags aufgeschlossen
hatte, zeigte er in einem weiteren Programm vom Jahr 1831,
dass die judenchristliche Parthei der Ebioniten nur ein christ-
licher Ableger des Essäismus sei; und in demselben Jahre
entwickelte er die ersten Grundlinien seiner späteren Ge-
Schichtsansicht in der eingreifenden^ geistreich imd scharf-
sinnig ausgeführten Abhandlung: „Die Christusparthei in der
korinthischen Gemeinde, der Gegensatz des petrinischen und
paulinischen Ghristenthums in der ältesten Kirche, der Apostel
Petrus in Eom" (Ttib. Ztschr. 1831, 4, S. 61—206; vgl. ebd.
1836, 4, 1 ff.). Von einer ganz speciellen Frage aus gelangt
diese Abhandlung zu höchst bedeutenden Ergebnissen. Sie
weist aus dem ganzen Inhalt der beiden Eorintherbriefe und
dem Charakter der dort geführten Polemik nach, dass es
Paulus in Eorinth mit einer einflussreichen judenchristlichen
Parthei zu thun hatte, welche auf die palästinensischen Apostel
(wie hier noch angenommen wird, fälschlich, oder doch nur
mit zweifelhaftem Rechte) sich stützend, die apostolische Aukto-
rität des Paulus bestritt , und sein univei-salistisches Christen-
thum durch ein jüdisch - partikularistisches zu verdrängen
suchte; sie verknüpft hiemit die weiteren Spuren des gleichen
Partheigegensatzes in der ältesten Kirche, welche sich bei
einem Papias, Hegesippus und vor allem in den clementini-
schen Homilieen finden, deren Tendenz und Bedeutung Baur
zuerst vollständig gewürdigt, und in denen er schon hier unter
der Maske des Magiers Simon den Apostel Paulus als den
Hauptgegenstand ihrer Polemik erkannt hat ; sie erklärt end-
lieh aus denselben Partheiverhältnissen und Partheibestre-
bungen auch die Sage vom rönüschen Episkopat des Petrus,
indem sie dieser bis über die Mitte des zweiten Jahrhunderts
hinaufreichenden Sage, — der ostensibeln Grundlage des Papst-
thums und aller seiner AnspiUche, — ihre UngeschichÜich-
keit mit Gründen nachweist, welche durch alle weiteren Unter-
suchungen nur verstärkt werden konnten. So wichtig aber diese
Entdeckungen auch an sich selbst waren, und so durchgreifende
Gombinationen sich in der Folge an sich anschlössen, so war
^Ulk^
Ferdinand Christian Baur. 457
doch ihr Urheber auf seinem damaligen Standpunkt von der
Weite des geschichtlichen Ausblicks und der Schärfe der kri-
tischen Einsicht, zu der er später vordi'ang, noch weit ent-
fernt. Was namentlich die neutestamentlichen Schriften be-
trifft, so wagt seine Kritik hier noch kaum die ersten schüch-
ternen Flügelschläge. Der längst angefochtene zweite Brief
des Petrus wird zwar verworfen, aber die Aechtheit des ersten
wird festgehalten, wiewohl Baur in der wesentlich richtigen
Erkenntniss seiner Tendenz den Beweis des Gegentheils bereits
in der Hand hat Ebensowenig wird der Philipperbrief be-
zweifelt, die Schlussverse des Römerbriefs sogar ausdrücklich
in Schutz genommen. Die Erzählung der Apostelgeschichte
vom Magier Simon gilt noch für geschichtlich. Freier hatte sich
Baur schon etwas früher (Tüb. Zeitschr. 1830, 2, 75 ff.) über
eine andere Angabe der Apostelgeschichte geäussert, indem
er das Beden in fremden Sprachen am Pfingstfest für eine
sagenhafte Zuthat erklärte ; aber doch waren es damals immer
erst Einzelheiten von verhältnissmässig untergeordneter Be-
deutung, die er in Anspruch nahm, ohne auf dem Wege, den
er principiell freilich schon hiemit betreten hatte, die späteren
kühnen Schritte zu wagen. Noch im Jahr 1833, als der Ver-
fasser dieses Abrisses Baurs Vorlesung über die Apostelge-
schichte besuchte, wurde weder die Authentie noch die rein
geschichtliche Abzweckung dieser Schrift bezweifelt ; es wurden
zwar einzelne Irrthümer und mythische Bestandtheile darin
zugegeben, Wundererzählungen in Frage gestellt oder durch
Ausscheidung des voraussetzlich sagenhaften auf natürliche
Vorgänge zurückgeftthrt : es wurde z. B. die Himmelfahrt als
äusserlich wahrnehmbare Erscheinung aufgegeben, die unge-
schichtlich idealisirende Tendenz der fünf ei*sten Gapitel, die
Verdopplung der Berichte c. 3 f. und c. 5, die Widersprüche
und ünwahrscheinHchkeiten in den Erzählungen über die Be-
kehrung des Paulus bemerklich gemacht u. s. w.; aber es
wurde zugleich, wie wenigstens wir unsem Lehrer verstanden,
die Auferstehung und eine darauffolgende Erhebung Jesu in
den Himmel als geschichtliche Thatsaehe beibehalten, es wurde
458 f^dinand Christian Baur
an dem Verhältmss zwischen dem zweifen Kapitel des Galater-
briefes und dem fttn&ehnten der Apostelgeschichte noch kein An-
stoss genommen ; der Kritiker war mit Einem Wort eben erst im
Begriffe , sich seinen späteren Standpunkt zu erringen , aber
er war desselben noch nicht so mächtig, um alle Theile seiner
Aufgabe in dem gleichen Geist zu behandeln ; neben der kriti-
schen Freiheit gieng noch eine theilweise Gebundenheit durch
die herkönunlichen Voraussetzungen her ; die einzelnen treffen-
den Wahrnehmungen waren noch nicht zu Einer klar gefassten
und folgerichtig dmxhgeführten Gesammtanschauung zusam-
mengegangen.
Weit gereifter erscheint Baurs Kritik in der Schrift über
die sogenannten Pastoralbriefe (1835), zu welcher er
durch seine Untersuchungen über die Gnosis den nächsten
Anlass erhalten hatte. Die Bedeutung dieser Schrift liegt
nicht blos darin, dass das Verwerfungsurtheil, welches Schleier-
macher mit merkwürdiger Halbheit nur über Einen dieser
Briefe, Eichhorn und de Wette über alle drei ausgesprochen
hatten, viel fester, als bei diesen, begründet wurde; auch
nicht blos in dem positiven Nachweis der geschichtlichen Ver-
hältnisse, aus denen, und der Zeit, in der jene Schriften ent-
standen sind: sondern vor allem in dem grundsätzlichen Be-
wusstsein über die Aufgabe der historisch-literarischen Kiitik
und über den Weg zu ihrer Lösung, welches sich hier zuerst
mit Bestimmtheit aussprach, und mit dem einleuchtendsten
Erfolge an einer gegebenen Frage bewährte. Für das allein
richtige Verfahren zur Entscheidimg des Streites über den
Ursprung der Pastoralbriefe erklärt Baur hier dieses, dass
wir die Haupterscheinungen, welche uns in ihnen entgegen-
treten, mit den übrigen uns beka,nnten Erscheinungen inner-
halb der Geschichte der zwei ersten Jahrhunderte zusammen-
stellen, um hiemach die ihnen zukommende Stelle in der
Reihe dieser Erscheinungen zu bestimmen. Nur bei diesem
Verfahren, glaubte er, lasse sich über die subjektiven Hypo-
thesen hinauskommen und zu objektiv gültigen Ergebnissen
gelangen. Als die bezeichnendsten Ei*scheinungen in den
11
19
Ferdinand Christian Baur. 459
Pastoralbriefen boten sich ihm aber die Häretiker, welche sie
bekämpfen, die Partheiverhältnisse und die kirchlichen Ein-
richtungen; welche sie voraussetzen. Er wies nach, dass sie
gegen die Gnosis, namentlich die marcionitische Gnosis, ge-
richtet seien, dass sie deutliche Spuren von Einrichtungen und
Anschauungen des zweiten Jahrhimderts enthalten, dass sie, im
wesentlichen paulinisch, doch zugleich der judaistischen Par-
thei gegenüber eine irenische, vermittelnd - ausgleichende Ten-
denz haben; und indem er hiemit alle weiteren Anzeichen
ihres späteren und unpaulinischen Ursprungs verband, erklärte
er sie für Werke aus der Mitte des zweiten Jahrhunderts,
welche f&r die bezeichneten Zwecke dem Apostel, dessen
Namen sie tragen, unterschoben worden seien. Ebendesshalb
aber wollte er sie nicht als werthlose Erzeugnisse, sondern als
redende Zeugen des ernsten Kampfes" betrachtet wissen,
durch welchen die in ihren Anfängen so schwache, mit so
vielen feindlich widerstrebenden Elementen ringende, durch
so schroffe Extreme getheilte und zerrissene Kirche sich hin-
durcharbeiten musste." Diesem Gange erkennend zu folgen,
„durch die, gleich Trümmern, umherliegenden Ueberreste längst
vergangener Jahrhunderte mühevoll und beschwerlich sich
hindurchzuarbeiten," und aus ihnen die Bausteine zusammen-
zutragen, mit denen das alte Gebäude für die geschichtliche
Betrachtung wiederhergestellt werden sollte — diess ist der
leitende Gedanke der Kritik, deren Verfahren die Unter-
suchung über die Pastoralbriefe an einer speciellen Frage und
in begrenztem Baume in musterhafter Beinheit zur Anschau-
ung brachte.
Wie fruchtbar sich dieser Gedanke und dieses Verfahren in
seiner allgemeineren Anwendung erweisen, welche bedeutende
Veränderung aber auch der hiemit gewonnene Standpunkt in
der gewöhnlichen Ansicht über die neutestamentlichen Schiiften
fordern werde, diess konnte man auch aus weiteren Andeu-
tungen in der eben genannten Schrift und in der durch sie
veranlassten Erklärung gegen die Evangelische Kirchenzeitung
(Tüb. Ztschr. 1836, 3, 179 ff.), und aus der Abjtandlung über
. f'*^'
460
Ferdinand Christian Baor.
Zweck und Veranlassung des Römerbriefe (Tüb. Ztschr. 1836,
3, 59—178) abnehmen. Der Zweck dieses Briefes wird hier
darin gefunden, die Vorurtheile des römischen Judenchristen-
thums gegen den paulinischen üniversalismus , und insbeson-
dere den Anstoss zu beseitigen, welchen der auf seine Erwäh-
lung eifersüchtige Israelite an dem massenhaften Zudran^ von
Heiden zum messianischen Reich nehmen musste ; und es wird
damit nicht blos eine der wichtigsten neutestamentliehen
Schriften, durch eine in der Hauptsache imbedingt richtige,
wenn auch vielleicht etwas zu eng gefasste Annahme, in den
Erds der lebendigen geschichtlichen Bewegung hineingerückt,
dem sie bisher, als ein yermeintiiches allgemeines Gompendium
der paulinischen Dogmatik; ferne gestanden hatte, sondern es
wird auch durch diese Auffassung des Römerbriefs, welche
durch weitere Anzeichen unterstützt wird, über die ursprüng-
lichen Verhältnisse einer Gemeinde von weltgeschichtlieher Be-
deutung, und ebendamit über die inneren Zustände der gan-
zen ältesten Kirche, ein unerwartetes Licht verbreitet. Wenn
andererseits Baur das 15te und 16te Kapitel des Römerbriefs
für unächt erklärt; wenn er den früher von ihm anerkannten
ersten Brief Petri jetzt in die gleiche Zeit herabrückt, wie die
Pastoralbriefe; wenn er der Apostelgeschichte nachweist, dass
sie in einer consequent durchgeführten paulinisch-apologetischen
Absicht über das Verfahren des Paulus in seiner apostolischen
Thätigkeit und namentlich über den Schlussauftritt in Rom
einen ungeschichtlichen Bericht gebe; wenn er entschiedene
Zweifel gegen die Aechtheit des Philipper- und Epheserbriefes
ausspricht, gegen die einiger anderen paulinischen Briefe
wenigstens andeutet ; wenn er um weniges später (Tüb. Ztschr.
1838, 3, 141 f.) ausser den Pastoralbriefen auch die Apostel-
geschichte, den Philipper- imd Hebräerbrief unter den Gesichts-
punkt von Tendenzschriften stellt, welche auf die Vermittlung
zwischen Paulinismus und Judenchristenthum ausgehen: so
sehen wir deutlich, wie weit ihn seine Kritik bei diesem Theil
der neutestamentliehen Schriften schon geführt hatte. Dage-
gen hatte er den Evangelien bis dahin noch keine eingehendere
Ferdinand Christian Baur. 461
Untersuchung gewidmet; nur über das Markusevangelium
spricht er (Pastoralbr. 100 f.) die Ansicht aus, dass es, als
das jüngste unter den drei synoptischen, in Rom, unter dem
Einfluss der dortigen Partheiverhältnisse entstanden sei; als
ihn dagegen die Evangelische Eirchenzeitung beschuldigte, dass
er ohne Zweifel auch in der Verwerfung des Johannesevan-
geliums mit Strauss einverstanden sei, wies er diese Behaup-
tung als eine Yerläumdung mit aller Entrüstung zurück, üeber
die geschichtliche Auktorität des johanneischen Evangeliums,
sagt er, habe er sich kein Urtheil erlaubt, nicht nur weil seine
Untersuchungen sich bisher noch nicht auf dasselbe erstreckt
haben , sondern auch weil er gar kein Interesse habe , ihm
seine geschichtliche Auktorität abzusprechen (Tüb. Ztschr.
1836 , 3 , 201 f.) ; imd damit übereinstimmend bezeugt er in
der Eirchengeschichte des 19. Jahrhunderts S. 397 mit einer
Offenheit, die nicht jeder Lehrer seinen Zuhörern gegenüber
sich zui* Pflicht machen würde, die aber seinem Ansehen bei den
seinigen gewiss nicht geschadet hat: als Strauss' Leben Jesu er-
schienen war, hätte er ebensowenig für als gegen dasselbe
auftreten können, da ihm damals die dazu nöthigen tieferen
Studien noch gefehlt haben. So muthig er daher als Kritiker
auf dem Felde vorgedrungen war, welches er sich zunächst
zur Bearbeitimg gewählt hatte, und so klar er sich hier seiner
leitenden Grundsätze bewusst war, so wenig hatte er diese
Kritik doch damals schon durch das ganze Gebiet der alt-
christlichen Literatur durchgeführt, und auf Grund derselben
eine allseitig entwickelte und in sich abgeschlossene Geschichts-
ansieht gewonnen.
Gerade die JEvangelienfrage war aber in jenem Zeit-
punkt durch Strauss' Leben Jesu in den Mittelpunkt der
theologischen Verhandlungen gerückt worden. Es war nicht
anders möglich, als dass eine so kühne, mit solcher Meister-
schaft durchgeführte und seinen eigenen Bestrebungen so nahe
verwandte Kritik Baurs lebhaftestes Interesse erregen und in
' vielen Beziehungen seinen Beifall finden musste ; ihre Berech-
tigung innerhalb der protestantischen Theologie zu bezweifeln,
■Tl
^»^t;
462 Ferdinand Christian Baor.
konnte ihm ohnedem nicht in den Sinn kommen. Aber doch
waren die Wege der beiden Männer, wie ich bereits an einem
anderen Orte gezeigt habe *), schon ihrem Ausgangspunkt und
ihrer ganzen Bichtung nach zu verschieden, als dass Baur
dem ihm befreundeten jüngeren Kritiker, seinem früheren
Schüler, unbedingt hätte beipflichten können. Dem letzteren
war es zunächst blos darum zu thun, die ungeschichtlichen
Bestandtheile der evangelischen Erzählungen zu entfernen^ die
Gestalt Jesu von dem Schein des Wunderbaren, mit dem diese
Erzählungen sie umgeben hatten, zu befreien, sie durch Zer-
störung der dogmatisch-supranaturaJistischen für die geschicht-
lich natürliche Betrachtung nur überhaupt wiederzugewinnen;
er konnte sich daher auf seinem damaligen Standpunkt mit
jener mythischen Erklärung der evangelischen Berichte be-
gnügen, welche das ungeschichtliche in denselben einfach auf
die von religiösen Motiven und alttestamentlichen Vorbildern
geleitete christliche Volkssage zuiUckführt. Baur, der Ge-
schichtsforscher, vermisste an dieser Erklärung den genaueren
Nachweis der Verhältnisse und Tendenzen, aus denen jene
Berichte hervorgegangen seien ; er tadelte es, dass sie an die
Stelle dessen, was sie als ungeschichtlich erkannte, keine be-
friedigende Voi*stellung über den wirklichen Hergang zu setzen
wisse. Dieses selbst aber, glaubte er, sei nur dann möglich,
wenn man nicht mit der Kritik der erzählten Thatsachen,
sondern mit der Kritik der Schriften anfange, wenn man
sich zunächst über die Tendenz und den Charakter der letz-
teren Orientire, und sich hiemach ein bestimmtes Urtheil
darüber bilde, ob und inwieweit sie überhaupt als geschicht-
liche Darstellungen zu betrachten seien, und ob nicht, soweit
sie diess nicht sind, die Verhältnisse, die Anschauungen und
die Interessen ihres Zeitalters sich mit hinreichender Deut-
lichkeit in ihnen abspiegeln, um ihre Abfassungszeit darnach
zu bestimmen, und sie als unmittelbare Quellen für die Kennt-
niss ihrer Zeit in demselben Masse zu benützen, in dem man
") M. 8. die Abhandlung über die Tübinger Schule, oben S. 310 f.
Ferdinand Christian Baor. 463
sie als geschichtliche Berichte über die Vorzeit aufgiebt. Am
bestimmtesten, und ohne Zweifel mit allzu starker Betonung
des Gegensatzes, welcher in dieser Beziehung zwischen ihm
und Strauss stattfand, hat sich Baur hierüber in der Einleitung
zu seilen „Kritischen Untersuchungen über die Evangelien"
ausgesprochen; Als die grösste Eigenthümlichkeit des straussi-
schen Werkes, und zugleich als seine grösste Einseitigkeit,
bezeichnet er hier diess, dass es eine Kritik der evangelischen
Geschichte ohne eine Kritik der Evangelien gebe. Er erkennt
d^bei an, dass diese Bichtung der Kritik dem ganzen Stand-
punkt der Zeit, aus der jenes Werk hervorgieng, entspreche;
er nennt dasselbe den treuesten Reflex, in welchem sich das
ganze kritische Bewusstsein jener Zeit abspiegle, und wendet
auf seinen Verfasser das Wort Schellings über Fichte an:
„hat ihn die Zeit gehiasst, so ist es, weil sie die Kraft nicht
hatte, ihr eigen Bild, das er kräftig und frei, ohne ein Arg
dabei zu haben, entwarf, im Reflex seiner Lehre zu sehen."
Aber so bereitwillig und entschieden er nach dieser Seite hin
die Berechtigung der straussischen Kritik einräumte, so schwach
und verfehlt ihm die zahllosen Versuche, die herkömmliche
Auffassung der evangelischen Geschichte gegen sie zu behaup-
ten, alle ohne Ausnahme erschienen, so tadelnswerth und er-
bärmlich er „das leidenschaftliche Geschrei, die rohe, tumul-
tuaiische Polemik" fand, welche sich alsbald von so vielen
Seiten gegen Strauss erhob, so nachdrücklich machte er an-
dererseits seiner Kritik die Negativität ihrer Resultate zum
Vorwurf. Ihre Bedeutung, erklärte er, bestehe eigentlich nur
darin, dass sie ihre Zeit mit aller Schärfe ihres Nichtwissens
überführt, dass sie mit reiner, offener Wahrheitsliebe, vorur-
theilsfrei und voraussetzungslos, ohne alle Schonung und Rück-
sicht, dargethan habe, wie es auf dem damaligen Standpunkt
der Kritik mit dem historischen Wissen um die evangelische
Geschichte sich verhielt. Wolle man zu positiveren Ergeb-
nissen gelangen, so müsse man vor allem mit der Kritik der
Schriften beginnen, jeden Schriftsteller nach seiner Individua-
lität und seiner schriftstellerischen Eigenthümlichkeit fragen.
464 Ferdinand Christian Baar.
ihm das Geheinmiss seiner Conception abzulauschen suchen,
eben desshalb aber auch in den ganzen Zusammenhajig der
Zeitverhaltnisse sich hineinstellen, aus welchen diese Schriften
hervorgegangen seien. Baur verlangte also mit Einem Wort,
dass die negativen Ergebnisse der mythischen Erklärung
durch eine positive Beconstruction der geschicht-
lichen Entwicklung des ältesten Ghristenthums
ergänzt werden; für diesen Zweck wollte er aber auch die
ungeschichtlichen Berichte und die unächten Schriften als Ge-
schichtsquellen benützen, sofern gerade sie uns nicht selten
den deutlichsten Einblick in die Partheiverhältnisse und die
Bestrebungen der Zeit und der Kreise eröffnen, aus denen sie
hervorgiengen. Es hängt diess mit der ganzen Kichtung ' seiner
historischen Kritik, wie sie sich schon vor dem Erscheinen des
„Lebens Jesu^^ entwickelt hatte, aufs engste zusammen, und
er war desshalb auch über die Stellung, welche er selbst zu
diesem Werke einnahm, sehr bald mit sich im reinen. Schon
unmittelbar nach der Vollendung desselben, in einem Brief vom
10. Februar 1836, äussert er sich dahin: die Hauptfrage sei,
ob die Grundsätze, von denen es ausgehe, und die Folge-
rungen, die sich aus ihnen unmittelbar ergeben, richtig seien
oder nicht, und hierin sollte man ihm weit mehr Becht geben ;
das Werk enthalte eigentlich nichts neues, es verfolge nur einen
längst betretenen Weg bis zu seinem natürlichen Ziel, ziehe die
Folgerungen aus längst aufgestellten Prämissen; der panische
Schrecken darüber zeige nur, wie sehr es den meisten an der
Consequenz des Denkens fehle, worin es gerade seine Stärke
habe. Zugleich vermisst er aber auch schon hier, dass die
aufbauende Kritik neben der zerstörenden zu wenig zum
Wort komme, und dass namentlich die Bedeutung der Pei-son
Jesu nicht genug anerkannt werde. Aehnliches hatte er bei
anderer Veranlassung auch schon viel früher an der mythi-
schen Erklärung der biblischen Geschichte ausgesetzt, wenn
er in einem Brief vom Jahr 1826 de Wette tadelt, dass seine
Kritik der jüdischen Geschichte zu negativ sei, blos aus der
Erzählung selbst die innere Unhaltbarkeit , Unwahrscheinlich-
Ferdinand Christian Baur. 465
keit und Widersprüche aufzuweisen suche , ohne an die Stelle
des zerstörten etwas positives zu setzen, wodurch erst die
Kritik innerhalb der rechten Schranken bleibe. Durch die
Auktorität des Herkommens und der Ueberlieferung wollte er
die Kritik nicht beschränkt wissen, aber seinem historischen
Interesse konnte eine Auflfas^ng nicht gentigen, welche ihm
nicht die Mittel an die Hand gab, um sich von den geschicht-
lichen Vorgängen wenigstens nach ihren Grundzügen eine be-
stimmtere Vorstellung zu bilden.
So wenig sich aber nach dieser Seite hin der Unterschied
zwischen der baur'schen Kritik und der im „Leben Jesu" ge-
übten verkennen lässt, so hoch haben wir doch die Fördenmg
anzuschlagen, welche dem Stifter der „Tübinger Schule" durch
dieses Werk zu Theil wurde. Er selbst erkennt in demselben
ausdrücklich die nothwendige Vermittlung für jede weitere
Entwicklung der Kritik (Krit. Unters. 51. 71 f.). Eine freie
und unbefangene Kritik der Schriften, bemerkt er ganz richtig,
sei nicht möglich , so lange man sich nicht mit ihrem Inhalt
auf eine solche Weise auseinandergesetzt habe, dass die
kritische Betrachtung der Schriften so wenig als möglich durch
die Einmischung eines fälschen subjektiven Interesses getrübt
werde. Eine so freie, voraussetzungslose Kritik, wie die
straussische , eine so gründliche Beseitigung der bisherigen
Voraussetzungen über die durchgängige Glaubwürdigkeit der
evangelischen Geschichte, habe auch auf die Kritik der Schrif-
ten den Einfluss haben müssen, dass man sie aus einem un-
befangeneren, von dogmatischen Voraussetzungen unabhängige-
ren Gesichtspunkt betrachten lernte. Hiemit ist der Dienst
bezeichnet, welchen das „Leben Jesu" nicht blos andern, son-
dern auch Baur selbst geleistet hatte. Erst nachdem freie
Bahn gemacht war, nachdem die Spuren des Umbaues ent-
fernt waren, welchen die spätere Ueberheferung mit der Ur-
geschichte der christlichen Religion vorgenommen hatte, konnte
der Plan mit Erfolg in Angriff genommen werden, dieselbe
nach dem ursprünglichen Grundriss wiederherzustellen. Jenes
nun hatte das „ Leben Jesu " mit seiner schneidenden Kritik
Zeller, Vorträge und AbhandL 30
466 Ferdinand Christian Baor.
in der gründlichsten Weise geleistet: dieses war die Au^abe,
welcher sich Baur mit aller Eraftanstrengung widmete.
Der Punkt, welchen er hiefür vor allem in's Auge fasste,
war das Evangelium des Johannes. In diesem Evangelium
tritt die schriftstellerische Eigenthümlichkeit des Verfassers,
treten die idealen, dogmatischen Motive der Geschichtsbehand-
lung am stärksten hervor; hier lässt sich die mythische Er-
klärung am wenigsten dui'chfdhren , hier glaubte Baur den
Ansichten Weisse's und selbst B. Bauers, Strauss gegenüber,
eine gewisse Berechtigung einräumen zu müssen. In den Vor-
lesungen, die er jetzt über dieses Evangelium hielt, entwickelte
er zuerst die Ansichten, welche er nachher, sobald ihm die Voll-
endung seines grossen dogmengeschichtlichen Werkes über
die Trinität dazu freie Hand liess, in einer umfassenden, för
die ganze Evangelienfrage epochemachenden Abhandlung (Theo-
log. Jahrbücher 1844) und mit ihr in den „Kritischen Unter-
suchungen über die kanonischen Evangelien*' (1847) nieder-
legte. Schon zwei Jahre vor diesen (1845) war, wie bemerkt,
Baurs zweite kritische Hauptschrift, „Paulus der Apostel
Jesu Christi," erschienen, welche in ähnlicher Weise ältere
Untersuchungen in sich aufnahm. Dieses Werk bespricht in
seinen drei Abhandlungen das Leben, die Schriften und den
Lehrbegriff des Apostels. In der ersten derselben wird die
Darstellung der Apostelgeschichte einer scharf eindringenden
Kiitik unterworfen, es werden gegen einen bedeutenden Theil
ihrer Berichte ernstliche Zweifel erhoben und dem ganzen
Buche wird statt der rein historischen eine dogmatisch-apolo-
getische Tendenz nachgewiesen. Der zweite Abschnitt handelt
von den unter Paulus* Namen überlieferten Briefen, um als
acht nur die vier an die Galater, die Korinther und die Bömer
übrig zu lassen ; der dritte entwickelt die Lehre des Apostels.
Ein Nachtrag zu den Kritischen Untersuchungen ist „das
Marcusevangelium" (1851). Der Vertheidigung , Fort-
setzung und Ergänzung dieser Untersuchungen ist die Streit-
schrift gegen Thiersch (1846), ein Theil des Send-
schreibens an Hase (1855), die „Tübinger Schule"
Ferdinand Christian Baur. 467
(1859. 2. Ausg. 1860), und zahlreiche Abhandlungen in den Theo-
logischen Jahrbüchern und in Hilgenfelds Zeitschrift gewidmet ;
in den gleichen Zeitschriften wurden einige früher nicht aus-
drücklich in Untersuchung gezogene neutestamentliche Schrif-
ten, wie die johanneischen Briefe, die Apokalypse, der erste
Brief Petri, näher besprochen; auch die später zu berührenden
Erörterungen über manche Erscheinungen in der ältesten Kirche
und ihrer Literatur stehen mit Baurs neutestamentlicher Kritik
in naher Beziehung.
Von der Geschichtsansicht, welche Baur in diesen zahl-
reichen Schriften ausgeführt hat, habe ich schon in der Ab-
handlung über die Tübinger Schule (s. o. S. 313 S.) gespro-
chen, um theils ihre Grundgedanken und Hauptergebnisse
darzulegen, theils die wissenschaftliche Berechtigung ihres
allgemeinen Standpunkts nachzuweisen. So wenig sich aber
auch diese bestreiten lässt, so blieb doch Baurs Darstellung
des ältesten Ghristenthums , so weit wir bis jetzt sind , noch
nach Einer Seite hin mangelhaft. Was wir bis jetzt haben,
ist erst das Judenchristenthum und der Paulinismus und der
aus diesen Elementen sich entwickehide Verlauf. Aber dieser
Gegensatz ist doch immer etwas abgeleitetes; was ist das
uisprüngliche und gemeinsame ; das ihm zu Grunde liegt?
welche Voi'stellung sollen wir uns von dem Stifter des
Ghristenthums selbst, seiner Lehre und Wirksamkeit
machen? Diese Frage hatte Baur weder im Paulus noch in
den Untersuchungen über die Evangelien eingehender beant-
wortet. Nicht weil er ihre Bedeutung verkannte : wir haben
' ja oben gesehen, dass er an Strauss' Leben Jesu eine befrie-
digende Erklärung über die geschichtliche Persönlichkeit Jesu
vermisste. Aber wie es überhaupt in seiner Natur lag, mit
stetiger Allmählichkeit fortzuschreiten, die ihm zunächst vor-
Uegenden Aufgaben gründlich zu erledigen, ehe er sich neuen
zuwandte, so wollte er auch diese Untersuchung nicht eher
vornehmen, ials bis er sich über die Quellen der evangelischen
Geschichte und über den Charakter des apostolischen und
nachapostolischen Zeitalters vollständig orientirt hatte, und
80*
■""•■T
468
Ferdinand Christian Baor.
er liess sich von diesem seinem gemessenen Gange durch
alles Andringen der Gegner nicht abbringen. Erst in den
umfassenden kirchengeschichtl^ichen Darstellungen,
welchen die letzten neun Jahre seines Lebens vorzugsweise
gewidmet waren, kommen auch seine Forschungen über das
Urchristenthum und die neutestamentlichen Schriften zum
Abschluss.
Schon unter Baurs früheren Arbeiten finden sich manche,
welche über das bisher von uns beschriebene Gebiet hinaus-
reichen; wie er denn überhaupt, bei der nachhaltigsten Con-
centration auf einzelne Aufgaben, ein weites geschichtliches
Feld mit selbständiger Forschung behen-schte. So fasste er
in den ausführlichen Abhandlungen über „Apollonius von
Tyana" (Tüb. Ztschr. 1832, 4) und über „das Christliche des
Piatonismus, oder Sokrates und Christus" (ebd. 1837, 3), denen
sich viele Jahre später „Seneca und Paulus" (Hilgenfelds
Ztschr. f. Theol. 1858, 2. 3) anschloss, das Verhältniss der
alten Philosophie zum Christenthum in's Auge; so veranlassten
ihn Kothe's „Anfänge der christlichen Kirche" zu der werth-
vollen Untersuchung über den Ursprung des Episkopats (Tüb.
Ztschr. 1838, 3), welche auch mehrere altchristliche Schriften,
wie namentlich die apostolischen Constitutionen und die igna-
tianischen Briefe, eingehend behandelt; ihre Beweisführung
für die Unächtheit und die katholisch - hierarchische Tendenz
der letztem wurde in der Folge durch die Streitschrift gegen
Bunsen: „die ignatianischen Briefe imd ihr neuester Kritiker"
vervollständigt. Je weiter Baurs Hauptwerke vorrückten, um
so mannichfaltiger wurden diese kleineren Arbeiten. Neben
den zahlreichen Artikeln zur Erklärung und Kritik des neuen
Testaments, und neben den Hauptschriften in diesem Fach,
deren ich früher erwähnt habe, brachten die Theologischen
Jahrbücher zugleich mit der Kritik fremder Schriften auch
eigene eingreifende Erörterungen in den „Kritischen Beiträgen
zur ältesten Kirchengeschichte'' (1845, 204 flf.), in der Abhand-
lung über den Begriff der christlichen Philosophie und die
Hauptmomente ihrer Entwicklung (1846, 29 ff. 183 ff.), in den
7
Ferdinand Christian Baur. 469
Untersuchungen über Princip und Charakter des reformirten
liehrbegriflFs (1847, 309 S. 1848, 419 S), über das Wesen des
Protestantismus (1847, 506 flf.), über das Princip des Protestan-
tismus und seine geschichtliche Entwicklung (1855, 1 flf.), über
den calixtinischen Synkretismus (1848, 163 flf.), über die pro-
testantische Mystik (1848, 453 flf. 1849, 85. flf.), über den Mon-
tanismus (1851, 538 flf.). Wie Baur seit dem Beginn seiner
akademischen Thätigkeit die Eirchengeschichte ihrem ganzen
Umfang nach lehrte, so griflf er auch als Schriftsteller von den
verschiedensten Seiten her in sie ein. Um so näher lag es
für ihn, nachdem er seine dogmengeschichtlichen und kriti-
schen Arbeiten in der Hauptsache zu einem gewissen Ab-
schluss gebracht hatte, dieselben durch Bearbeitung der gan-
zen Eirchengeschichte zu ergänzen und einem grösseren Zu-
sammenhang einzuordnen. Dieses Werk nahm er denn auch
sofort in die Hand. Seine nächste Vorbereitung sind „die
Epochen der kirchlichen Qeschichtschreibung"
(1852), eine Geschichte der Eirchengeschichte (die ausführ-
lichste, gründlichste und durchgearbeitetste, die wir besitzen),
welche zugleich ihre Eritik ist. Die Forderung, mit der diese
Schrift abschliesst (S. 247 flf.), dass von dem pragmatischen
Standpunkt der Geschichtschreibung zum universellen fortge-
gangen werde, dass die Idee das bewegende Princip für die
ganze Reihe der Erscheinungen sei, in welchen die Geschichte
der christlichen Eirche ihren Verlauf nehme — diese For-
derung bezeichnet zugleich die Aufgabe, welche sich Baur für
seine eigene Darstellung gesteckt hatte. Zur Lösung der-
selben bearbeitete er zunächst „das Christenthum und die
christliche Eirche der drei ersten Jahrhunderte" (1853. 3. Aufl.
1863) ; nach sechs Jahren (1859) folgte „die christliche Eirche
vom Anfang des vierten bis zum Ende des sechsten Jahrhun-
derts ; dazu kamen dann nach seinem Tode die weiteren
S. 407 f. besprochenen Werke.
Es ist aber nicht blos der erweiterte Umfang dieser Dar-
stellungen, die Ausdehnung der geschichtlichen Betrachtung
auf Gebiete , die ihr Verfasser in seinen bisherigen Arbeiten
ir"- V
470 Ferdinand Christian Baor.
gar nicht, oder doch nur vorübergehend betreten hatte — es
ist nicht blos dieses, was Baurs kirchenhistorischen Werken
ihre Bedeutung für die Oeschichte seiner wissenschaftlichen
Thätigkeit giebt; sondern mit der materiellen Vervollständi-
gung seiner Arbeiten geht in denselben auch eine gewisse
Veränderung seines Standpunkts und Verfahrens Hand in Hand,
welche wir abermals nur als einen Fortschritt betrachten
können. War auch seine Weltanschauung im ganzen seit dem
Zeitpunkt, in dem er seine grossen dogmengeschichtlichen
Arbeiten begonnen hatte, dieselbe geblieben , so hatte er doch
über zwei nicht unwichtige Punkte eine andere Ansicht ge-
wonnen. Damals fanden wir in ihm einen entschiedenen An-
hänger des schleiermacher'schen Determinismus und der alt-
protestantischen Lehre von der unbedingt wirkenden Gnade,
die er mit jenem nur zu sehr identificirte : alle Irrthümer des
katholischen Systems fassen sich ihm immer wieder in dem
Vorwurf des Pelagianismus zusammen. Jetzt hören wir ihn
die Berechtigung der lutherischen Lehreigenthümlichkeit gegen
die reformirte im Interesse der Willensfreiheit und des sitt-
lichen Bewusstseins lebhaft in Schutz nehmen (Theol. Jahrb.
1847, 366 flf.); er fragt den Lobredner der reformirten Dog-
matik, wie ein Lehi-begriflf so hoch gestellt werden könne,
welcher die sittliche Freiheit völlig ausschliesse, keine Freiheit
und keine sittlichen Begriffe kenne, wenn doch der Protestan-
tismus nicht nur überhaupt streng sittlicher Natur sei, son-
dern auch durch ihn erst das Princip der freien Subjektivität
zu seinem vollen Recht gekommen sei (ebd. 1855, 23); er
tritt selbst dem Synergismus Melanchthons mit der Bemerkung
(ebd. 53) entgegen: der FreiheitsbegriflF lasse nicht mit sich
markten und handeln, sei der Mensch frei, so könne auch
nichts für ihn eine geistige Bedeutung haben, was nicht durch
seine eigene Selbstthätigkeit als seine That gesetzt, und durch
ihn selbst in sein sittliches Bewusstsein erhoben sei; er er-
klärt, dass der Protestantismus seinen ursprünglichen Charak-
ter gleich sehr verläugnen würde, wenn der Mensch sich nicht
als ein frei sich selbst bestimmendes Subjekt voraussetzen,
Ferdinand Christian ßaur. 471
und wenn seine unbedingte Abhängigkeit von Gott in allem
auf seine Seligkeit bezüglichen nicht erkennbar würde (ebd.
1855, 16 flf. 50. 73 flf.); und er sieht eben in dem Verhältniss
dieser beiden Bestimmungen das bewegende Princip, welches
schon im Reformationszeitalter den Gegensatz der zwei pro-
testantischen Hauptkirchen erzeugt, und seitdem seine Ent-
wicklung beherrscht habe (ebd. 1847, 376 flf. 535 flf. 1855, 16. 74).
Auch über den Pelagianismus wird jetzt anders, als früher,
geui-theilt. „Mit dem Freiheitsbegriflf," äussert Baur, „eröffnet
sich unmittelbar das Gebiet der sittlichen Weltanschauung,
das freilich von den Theologen nur mit dem zweideutigen
Namen des Pelagianismus bezeichnet wird." (Th. J. 1855, 54).
Er selbst giebt in seiner Darstellung des pelagianischen Streits
eine Ehrenrettung des Pelagianismus, wie man sie dem Ver-
fasser des „Gegensatzes" u. s. w. nicht zutrauen sollte. „Die
Lehre des Pelagius", sagt er, „ist eine in sich so wohl be-
gründete Ansicht, dass man nicht begreift, was gegen sie ein-
gewendet werden kann, wenn man nicht das Princip jeder
sittlichen Lebensaufgabe fallen lassen will, dass alles, was der
Mensch in seinem Verhältniss zu Gott ist, auf seiner eigenen
freien Selbstbestimmung beruht." Mit dieser Abkehr von
seinejjir üheren Determinismus hängt nun wohl auch das an-
d#^ amen, wodurch Baurs späterer Standpunkt von dem
.^.JL alleren abweicht. Gleichzeitig mit der eben besprochenen
Veränderung verliert sich jene einseitig theoretische Auffassung
der Religion, welche wir für seine früheren Darstellungen ein-
räumen mussten, mehr und mehr, und die dogmatischen Be-
stimmungen selbst werden auf die Beschaffenheit des religiö-
sen Selbstbewusstseins als ein ursprünglicheres zurückgeführt.
In denselben Abhandlungen, worin jene sich zuerst ankündigt,
spricht Baur auch diess aus, dass die tiefste Wurzel der pro-
testantischen Lehre in dem sittlich religiösen Interesse, oder
näher in dem Seligkeitsinteresse , in der Sorge des Menschen
für seine Seligkeit liege, und dass auch das reformirte System
in letzter Beziehung von diesem subjektiven Interesse aus-
gehe, dass auch in ihm der Mensch sich nur desshalb alles
472 Ferdinand Christian Banr.
eigenen Thuns und Verdienstes an die absolute Causalität
Gottes entäussere, um durch sie die volle Gewissheit seines
Heils zu erhalten, in dem, woran er sich entäussert, sich selbst
um so innerlicher wiederzufinden (Th. J. 1847, 374 ff. 1848,
426. 1855, i6 flf.). und wie der Protestantismus, so wird auch
das Christenthum auf das praktische BedürMss und Verhalten
zurückgeführt. Wenn Baur in seiner Kirchengeschichte die
unterscheidende Eigenthümlichkeit und den ursprünglichen
Charakter der christlichen Religion untersucht, so redet er
nicht mehr von der Einheit Gottes und des Menschen und
von dem Wissen um diese Einheit, sondern einfach von dem
sittlichen und religiösen Bewusstsein. Die Grundanschauung
und Grundstimmung, aus welcher das Christenthum hervor-
gegangen ist, sagt er (Christenth. d. drei erst. Jahrh. S. 26 ff.),
liegt in einem vom tiefsten Gefühl des Druckes der Endlich-
keit durchdrungenen, aber in diesem Gefühl über alles end-
liche und beschränkte weit übergreifenden, unendlich erhabe-
nen religiösen Bewusstsein , wie es sich in den Seligpreisungen
der Bergrede ausspricht; in jener Keinheit und Lauterkeit der
sittlichen Gesinnung, auf welche Jesus immer und immer wieder
zurückkommt, jener vollkommenen Gerechtigkeit, bei der es
/ nicht blos auf die That ankommt, sondern auf die Gesinnung,
/ nicht auf den Buchstaben, sondern auf den Geist; in jener
/ sittlichen Auffassung der Religion, welcher diese vollkommene
Gerechtigkeit für die absolute Bedingung gilt, um in's Reich
Gottes zu kommen. „Das Chiistenthum ist in den ursprüng-
lichsten Elementen seines Wesens eine rein sittUche ReHgion,
sein höchster eigenthümlichster Vorzug ist eben diess, dass
es einen durchaus sittlichen, in dem sittlichen Bewusstsein des
Menschen wurzelnden Charakter an sich trägt." Dass er die-
sen geistigen Inhalt in die nationale Form der Messiasidee
gefasst hat, darauf beruht die weltgeschichtliche Bedeutung
Christi. Auch unter den Vorbereitungen des Christenthums
durch die religiöse Entwicklung der griechischen und der
jüdischen Welt, welche Baur dort (S. 5 ff.) mit tiefem ge-
schichtlichem Verständniss schildert, nimmt nicht die Um-
r
Ferdinand Christian Banr. 473
Wandlung der theoretischen Vorstellungen, sondern die des
sittlichen Bewusstseins die erste Stelle ein. Der Historiker
hat sich von der spekulativen Einseitigkeit der hegel'schen
Religionsphilosophie befreit, und ebendamit die Möglichkeit ge-
wonnen, die Erscheinungen des religiösen Lebens, mit denen
es die Eirchengeschichte zu thun hat; vollständiger, als er diess
früher vennocht hätte, in ihrem eigenthümlichen Wesen und
ihrem gegenseitigen Zusammenhang zu würdigen.
Ich glaube mich nun nicht zu irren, wenn ich annehme;
dass bei dieser Entwicklung auch einige zunächst von anderen
angestellte Untersuchungen mitgewirkt haben. Eben diess war
ja das Schöne an Baur, dass er sich in keinem Zeitpunkt
seines Lebens selbstgenügsam in sich abschloss, dass er es nie
verschmähte, zu lernen, an der Vervollständigung und Be-
richtigung seiner Ergebnisse zu arbeiten, und das vor allem
machte den wissenschaftlichen Verkehr mit ihm so fruchtbar,
dass er nie blos andere, sondern immer zunächst sich selbst
belehren wollte, dass es ihm auch Jüngeren und Schülern
gegenüber nur um das gemeinsame Erforschen der Wahrheit,
nicht um Behauptung einer persönlichen Ueberlegenheit zu
thun war. Aber wie seine wissenschaftliche Entwicklung trotz-
dem eine durchaus selbständige und eigenartige ist, so würde
auch die eben besprochene Wendung derselben nicht einge-
treten sein, wenn nicht der Gang seiner eigenen Untersuchungen
sie ihm nahe gelegt hätte. Je principieller diese gefllhrt wur-
den, je bestimmter sie darauf ausgiengen, den Gegensatz des
Lutherischen und Reformiiten aus dem gemeinsamen Charakter
des Protestantismus zu erklären, über den Gegensatz des
Judenchristenthums und des Paulinismus zu dem ursprüng-
lichen Wesen des Christenthums vorzudringen, die Lehre und
die Person seines Stifters in ihrer geschichtlichen Eigenthüm-
lichkeit aufzufassen, je klarer sich zugleich die Nothwendigkeit
herausstellte, solche Bestimmungen zu finden, durch welche
das Christenthum und der Protestantismus in dem ganzen
Verlauf ihrer Geschichte und der Gesammtheit ihrer Erschei-
nungen vei-ständlich gemacht würden, um so weniger war es
r . ..^-
474 FerdinaDd Christian Banr.
möglich, sich auf dogmatische oder spekulative XJeberzeu-
gungen zu beschränken, die doch immer nur etwas abgeleitetes
sind, nur für einzelne Perioden und einzelne Theile der Kirche
ihre Bedeutung haben, um so stärker musste das tmmittel-
bare des sittlich - religiösen Bewusstseins als das ursprüng-
lichere in den Vordergrund treten, und ebendamit auch das
mit ihm so eng verwachsene sittliche Freiheitsinteresse, dem
spekulativen Beterminismus gegenüber, vollständiger zu seinem
Becht kommen.
Wie man aber hierüber urtheilen mag: unverkennbar ist,
dass der Standpunkt, auf welchem wir Baur in seinem kir-
chengeschichtlichen Werk treffen, der Lösung seiner Aufgabe
sehr günstig gewesen ist. Erst durch diese Auffassung der
Religion war es ihm möglich, die verschiedenartigen Erschei-
nungen, mit denen es die Eirchengeschichte zu thun hat^ auf
ihre gemeinsame Wurzel zurückzufahren und ihren gegen-
seitigen Zusammenhang zur Anschauung zu bringen. G-erade
diess ist es aber, wodurch sich Baurs Kirchengeschichte vor
allen ihren Vorgängerinnen auszeichnet. Wir erhalten in
/"^ diesem Werke von der Entwicklung der Kirche, als eines ge-
/ schichtlichen Ganzen, von dem Ineinandergreifen aller der
^ Gebiete, auf denen ihr Leben verlief, ein Bild, wie es so treu
> und zugleich so lebendig bis dahin nicht angestellt worden
war. Wenn man bisher nur zu sehr gewohnt war, den kirchen-
geschichthchen Stoff in einzelne kleine Gruppen zu zersplittern,
oder ihn unter gewisse allgemeine Rubriken zu bringen, welche
nur an wenigen Hauptpunkten in nähere Verbindung gesetzt
wurden, im übrigen aber ziemlich gleichgültig nebeneinander
herliefen, so geht Baurs Bestreben vor allem dahin, diese
Massen in Fluss zu bringen, zu zeigen, wie durch die ganze
geschichtliche Bewegung eines Zeitalters nach den verschie-
densten Seiten hin Ein und derselbe Geist hindurchgeht, wie
immer eines darin durch das andere bedingt ist und auf das
andere zurückwirkt. Auch an Gründlichkeit der Quellenfor-
schpng, an gelehrter Kenntniss des einzelnen, an sorgfältiger
Benützung aller neueren Hülfsmittel steht er zwar, wie bei
■itt«.
Ferdinand Christian Banr. 475
ihm nicht erst gesagt zu werden braucht, hinter keinem an-
dern zurück; mit der Selbständigkeit und der kritischen Schärfe,
mit der er alles anüasste, hat er an vielen Punkten die her-
kömmliche Auffassung berichtigt und vervollständigt; er hat
in zahh*eichen Fällen sowohl Einzelne als umfassendere ge-
schichtliche Erscheinungen schärfer und treuer, als seine Vor-
gänger, in ihrer Eigenthümlichkeit aufgefasst, die charakte-
ristischen Züge ihrer dogmatischen und ethischen Anschau-
ungen bestimmter an*s Licht gestellt. Aber das Hauptver-
dienst seiner Darstellung, und dasjenige, worauf er selbst den
grössten Werth legte, besteht auch hier in der durchgängigen
Bichtung auf den Zusammenhang der Ereignisse, auf das
Ganze der geschichtlichen Bewegung, Die Kirchengeschichte
wird hier im grossen Stile behandelt; es werden überall vor
allem die gemeinsamen und durchgreifenden Züge aufgesucht,
und erst auf diesem Grunde wird das eigenthümliche der ein-
zelnen Gebiete und Erscheinungen zur Anschauung gebracht
Es wird gezeigt, wie das Dogma mit der kirchlichen Ver-
fassung, mit dem Kultus und der Sitte in seiner Entwicklung
Hand in Hand geht, und wie diess alles hinwiederum durch
die Stellung der Kirche zu der sie umgebenden Welt mitbe-
dingt ist und auf sie zurückwirkt; wie z. B. im zweiten Jahr-
hundert aus Einer und derselben geistigen Bewegung, aus
denselben Gegensätzen und Kämpfen, die katholische Kirche
mit ihrer bischöflichen Verfassung und die Theologie der Logos-
lehre hervorgieng, wie nachher in demselben Zeitpunkt und aus
dem gleichen Einheitsstreben heraus die christliche Eeligion zur
Alleinherrschaft im römischen Reich und der Stifter dieser Reli-
gion zur Gleichheit mit Gott erhoben wurde, und die bischöf-
liche Vertretung der^Kirche sich auf der ersten allgemeinen
Kirchenversammlung zur Einheit zusammenfasste ; wie ein
Augustin nicht als Vorläufer des Protestantismus, sondern im
kirchlich-hierarchischen Interesse seiner Zeit, jene Lehren über
die menschliche Sündhaftigkeit und die alleinwirkende gött-
liche Gnade aufgestellt hat, welche sich ebensogut freilich auch
gegen den Katholicismus gebrauchen Hessen; wie im Mittel-
476 Ferdinand GhzistiAn Baor.
alter der gleiche materialistische Supranaturalismos in der
Wissenschaft der Kirche und in ihrem Kultus, in dem hierar-
chischen Absolutismus ihrer Verfassung und in der gesetz-
lichen Aeusserlichkeit ihrer Bisciplin sich ausprägt; wie aus
denselben Ursachen auf allen Lebensgebieten derselbe Ver-
fall des mittelalterlichen Kirchenwesens sich entwickelte; wie
die reformatorischen Sekten des dreizehnten und vierzehnten
Jahrhunderts und die kräftigsten Stützen der bestehenden
kirchlichen Gewalten, die Bettelorden, durch die gleichen Zu-
stände in's Leben gerufen, von verwandten Ideen beseelt
wurden u. s. w. Baur geht mit Einem Wort dm-chweg darauf
aus, in jeder Periode der Kirchengeschichte die treibenden
Kräfte und Interessen zur Anschauung zu bringen, welche die
Mannichfaltigkeit der Erscheinungen innerlich zusammenhalten,
die geschichtlichen Vorgänge im grossen aus diesen ihren
inneren Gründen zu erklären, und uns in dem Ganzen der
geschichtlichen Entwicklung einen natui*gemässen Verlauf er-
kennen zu lassen, der trotz aller Zufälligkeit des besonderen
und einzelnen doch in seinen Gnindzügen durch die ursprüng-
liche Anlage der christlichen Keligion und durch die Ver-
hältnisse, unter denen sie in die Welt eintrat, bestimmt war.
Die Idee einer organischen Geschichtsbehandlung, welche ihn
bei allen seinen Arbeiten von Anfang an leitete, ist in der
letzten derselben, in den fünf Bänden seiner Kirchengeschichte,
am reinsten verwirklicht; die philosophische Betrachtung der
Geschichte ist hier mit dem geschichtlichen Empirismus am
vollständigsten verschmolzen : sie tritt der Geschichtserzählung
nicht äusserlich gegenüber, sondern durchdringt sie von innen
als der das Ganze erfüllende Geist, der organische Zusammen-
hang der Thatsachen tritt ungesucht an ihnen se